© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/04 26. März 2004

Wieviel Sicherheit brauchen wir?
von Claus M. Wolfschlag

Die Diskussion um geplante sicherheitspolitische Maßnahmen im öffentlichen Raum hat durch den Terror- anschlag in Spanien erschreckende Aktualität gewonnen. Schnellschüsse wie die Anregung der Überwachung von Moscheen durch den niedersächsischen Ministerpräsident Wulff wechseln mit einer lethargischen "Weiter so"-Mentalität auf der anderen Seite. Der Schutz vor Terroranschlägen kann nicht umfassend sein, da moderne Terroristen sich ohnehin auf sogenannte "weiche Ziele", also Orte mit geringer Kontrolle, konzentrieren. Hier müssen Geheimdienste und politische Diplomatie zur Verbesserung der Sicherheitslage beitragen. Ein anderes Feld ist der Erhalt von Sicherheit angesichts der anstehenden Krise des deutschen Sozialstaates. Viele Konflikte sind in unserer des-integrativen Gesellschaft bislang mit sozialen Gaben ruhiggestellt worden. Doch in Zeiten des versiegenden Geldhahns kommt Unruhe und Bewegung in die bisherige Biedermaier-Gesellschaft der Bundesrepublik. Ängste vor sozialen Unruhen, vor Kriminalität und persönlichem Abstieg verstärken das Bedürfnis nach Sicherheit und intakter Architektur im öffentlichen Raum.

Die zunehmende Videoüberwachung zentraler Plätze - Schätzungen zufolge sind in Deutschland derzeit etwa 500.000 Videokameras zur Überwachung öffentlicher Räume installiert -, patrouillierende Sicherheitskräfte mit Hunden und Schlagstöcken, der Erlaß und die Durchsetzung von strengeren Hausordnungen liefern jedoch schon länger Zündstoff.

Anhänger einer neuen Sicherheitspolitik plädieren vor allem für zwei Lösungswege: Zum einen ist es die repressive Präventionsstrategie der "zero tole-rance", die bereits bei geringfügigen Vergehen wie Biertrinken in der Öffentlichkeit oder Wegwerfen von Zigarettenstummeln Strafen verhängt. Auf diese Weise soll der Verschmutzung der Innenstädte ebenso entgegengewirkt wie mögliche Kriminalität durch verstärkte ordnungspolitische Aufmerksamkeit bereits im Ansatz erstickt werden. Zum anderen wird - gemäß der "broken-windows-Theorie" (Wird eine kaputte Fensterscheibe nicht umgehend repariert, fördert das die weitere Zerstörungswut: ein rechtsfreier Raum entsteht) - auf die Pflege des Stadtbildes sowie auf ein "Community Policing" Wert gelegt. Letzteres bedeutet die soziale Integration und Selbstkontrolle der Bürger eines Stadtquartiers, das sie als pflegebedürftige Heimat akzeptieren sollen.

Linke und linksliberale Gegner solcher sicherheitspolitischen Trends führen in ihren Anwürfen weniger das naheliegende und nicht ganz von der Hand zu weisende Argument der Gefahr eines Überwachungsstaates an, sondern pflegen tiefer sitzende Ressentiments. Linke Randgruppenromantik und Feindschaft gegenüber Privatisierungsbestrebungen verbinden sich zu einem diffusen Feldzug gegen Ordnung, Sauberkeit, Eigentum und das Sicherheitsinteresse der Bürger.

Die Lösung des Sicherheitsproblems in Großstädten sehen linksliberale Politiker und Stadtplaner darin, "Bagatellen" wie eine zerbrochene Fensterscheibe gar nicht mehr anzuzeigen - der reine Zynismus.

Klaus Sessar, emeritierter Professor für Kriminologie an der Universität Hamburg, betrachtete Ende 2003 in der Zeitschrift Die alte Stadt die Sorge der Bürger wegen zunehmender Unsicherheit in deutschen Städten als unbegründetes, auf irrationalen Ängsten beruhendes Phänomen, das vor allem durch die Medien erzeugt worden sei. Diskutabel daran ist zwar die Erkenntnis, daß Kriminalität weniger mit den spezifischen Einwanderergruppen als vielmehr mit baulichen Strukturen zusammenhängt: "Aber die Tatsache des Hochhauses, oder von bestimmten Typen von Hochhäusern, bedeutet dann, daß es dort immer mehr Kriminalität geben wird als im Falle von Flachbauten, Reihenhäusern oder Gründerzeitbauten." Die städtische Kriminalität ist demnach vor allem ein Problem der "weiteren Anonymisierung, der weiteren Desintegration des Gemeinwesens, der Entmischung, der Segregation, der Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen". Doch Sessar schließt sich den Argumenten linksliberaler Bedenkenträger an, wenn er an der neuen Sicherheitspolitik pauschal kritisiert, daß diese "unsere bisherigen Freiheitsrechte" bedrohe.

Schließlich ginge es gar nicht um Herstellung von Sicherheit, auch nicht um eine sicherheitspolitische Ordnung, sondern "um Ordentlichkeit, um die Wiederherstellung vertrauter Sehgewohnheiten, um Wohlgefühle, um Beschaulichkeit. Nur ein Bahnhof, der aussieht wie geleckt, ist dann ein sicherer Bahnhof." Zwar erkennt Sessar, daß das heutige Sicherheitsbedürfnis auch auf "Abwehrversuchen vorausgeahnter Bedrohungen" gründen dürfte, doch seine Ablehnung bürgerlicher "Sekun-därtugenden" ist zu stark, als daß er dem Wunsch nach Harmonisierung eine Be-rechtigung zuerkennen könnte. Sessars Lösung des Kriminalitätsproblems klingt nur noch zynisch: "Deshalb habe ich gesagt, die einzige Möglichkeit, statistisch zu einer deutlichen, über ein paar Prozente hinausgehenden Reduktion der Kriminalität zu kommen, ist weniger anzuzeigen."

Die Abwehr von Neuerungen in Sicherheitspolitik und städtischem Ord-nungsgefüge speist sich aus tiefliegenden Ängsten der Linken. Daß diese geradezu pathologisch werden kann, beweist die Stellungnahme des akademisch situierten Stadtplaners Juan Rodriguez-Lores ebenfalls in der Zeitschrift Die alte Stadt: Die aktuelle Orientierung auf Reformen sei "in Wirklichkeit rückwärtsgewandt". Minderheiten, die "sich zur Wehr setzen", würden von den Herrschenden als "Unsicherheitsfaktor" angesehen. Aus diesem Grund würden sie als "ewige Nörgler und Verlierer" diffamiert, lächerlich gemacht und auch "gelegentlich von Polizei und Mitbürgern unbeschadet physisch angegriffen".

Randgruppenromantik aus den 1970er Jahren paart sich in solchen Argumentationsmustern auf naive Weise mit der Theorie vom "autoritären Charakter". Eine freiwillige Revision liebgewordener Interpretationen ist hier kaum zu erwarten. Die veränderte ökonomische Situation wird nicht erkannt. Statt dessen wird die gegenwärtige Sozialkrise in Kategorien einer alten marxistischen Faschismustheorie gedeutet und der Sündenbock gleich ausgemacht: "Die Zerschlagung des solidarischen Gefüges weckt auch fatale Erinnerungen an die Lage unter diktatorischen Regimen des 20. Jahrhunderts, als eine verbreitete Ausweglosigkeit den Untertan wieder hervorbrachte, dessen Lebensregel die Sehnsucht nach Unterwerfung war. Große Teile der Bevölkerung begrüßten die aggressive Innen- und Außenpolitik und genossen die neuere Unsicherheit als günstige Gelegenheit zur Teilnahme an Macht und Repression." Die neue urbane Sicherheitspolitik sei daher als Produkt einer von Autorität infizierten Gesamtgesellschaft zu interpretieren. Polizisten werden hier für einen "bedauerlichen Bestandteil des Alltagslebens" gehalten: "Die negativen Empfindungen, die sie wecken, lassen den Alltag, dem man nicht beliebig entrinnen kann, unsicher erscheinen."

Nicht Junkies, Dealer, Zusammenrottungen von Kleinkriminellen-Banden stellen demnach das Verunsicherungspotential in den Städten dar, sondern die grünen Uniformen. Die Polizei findet nach Auffassung des Aachener Hochschullehrers "leider viele freiwillige Ordnungshüter und viele Ärzte, Lehrer, Hausmeister und Nachbarn, die ihren Job als Hilfspolizisten aus Überzeugung oder aus Gefallen an Autorität eifrig ausüben". Diese Leute mit "krankem Bewußtsein" führten einen "Kampf gegen Abweichungen vom Normierten bis in die verborgensten Nischen des Privatlebens". Sie "schikanieren nicht nur die auf ihre Dienste angewiesenen Mitbürger, sondern sehen mit erstaunlicher Phantasie überall noch gefährlichere Ordnungsfeinde: Terroristen, Dunkelhäutige, Langhaarige, Raucher usw., die sie denunzieren oder sogar persönlich bestrafen können." Demnach sind nicht düstere Gassen, menschenleere nächtliche Fußgängerzonen oder Bahnhofsvorplätze als "Orte des Schreckens" anzusehen. Das "Gefühl der Unsicherheit" gehe vielmehr aus von "Ruinen, Gefängnissen, Polizeistationen, Gerichtsgebäuden, Friedhöfen, Kirchen und Krankenhäusern. Man kann ihnen nicht nach Belieben aus dem Weg gehen, weil die meisten einen strategische Stellung in der Stadt einnehmen."

Ein weiteres Beispiel für den agitatorischen Umgang mit der aktuellen Sicherheitsproblematik liefert auch ein Beitrag zur Situation am Bahnhof Zoologischer Garten in Berlin, der unlängst in der Geographischen Rundschau erschien. Der Beitrag dreier junger Autoren über "Räumliche Ausgrenzung als neues Phänomen der Armut" wendet sich gegen das Vorhaben der Deutschen Bahn AG, auf ihren Bahnhöfen das Aufenthaltsrecht für soziale Härtefälle einzuschränken. Das Beispiel Berlin Zoo wurde gewählt, weil dieser Bahnhof bis 1989 als starker Anziehungspunkt für die Drogenszene fungiert hatte. Da das Gebäude offiziell zur DDR gehörte, hatte sich keiner zuständig gefühlt.

Die drei Autoren kritisieren, daß die Deutsche Bahn seit 1994 eine höhere Wirtschaftlichkeit anstrebt, "um so die Bahnhöfe marktgerecht in Wert zu setzen". Damit sei die "bisherige Funktion das öffentlichen Raumes", also als Treffpunkt Armer und Obdachloser, zerstört und die "Betroffenen abgedrängt und ausgegrenzt" worden.

Aus dem Aufsatz lassen sich mehrere Argumentationsmuster herausfiltern:

1. Die "Privatisierung" von (angeblich) öffentlichem Raum wird als Ausgrenzung und Abdrängung bewertet. Die Verdrängung von Trinkern aus der Bahnhofshalle wird demnach als Produkt zunehmender liberal-kapital-istischer Durchdringung der Gesellschaft interpretiert. Dieses scheinbar unsoziale Vorgehen sei in einen gesamtgesellschaftlichen Prozeß der sozialen Kälte eingebettet.

Die gleichen Leute, die das Elend von Süchtigen, Obdachlosen und Kinderprostituierten anprangerten, reden jetzt so, als ob etwa der Bahnhof Berlin Zoo vor der Umgestaltung eine Idylle für Leute mit wenig Geld gewesen wäre.

2. Die Situation der Vergangenheit vor der gesellschaftlichen Krise wird verklärt. Öffentlicher Raum habe demnach zu Recht (angeblich) armen Randgruppen zur Verfügung gestanden. Es sei positiv zu bewerten, daß Alkoholiker, Drogenabhängige usw. auf öffentlichen Plätzen und Bahnhöfen faktisch unbeschränkt toleriert wurden. Heute hingegen sei diese gesellschaftliche Offenheit durch Diskriminierung zugunsten wohlhabender Schichten gefährdet.

Die Autoren bemängeln: "Öffentliche Räume werden immer mehr in halbprivate Räume umgewandelt, und bestimmten Personengruppen wird der Zugang erschwert oder verweigert. Dabei werden verschiedene Methoden eingesetzt: Überwachung durch Kameras oder private Sicherheitsdienste ergänzen neue architektonische Raumkonzepte wie Modernisierungen und Umgestaltungen, die die Anwesenheit von bestimmten Randgruppen vermindern oder gänzlich verhindern sollen." Der Status des für sozial problematische Bevölkerungsgruppen offen stehenden Raumes, also zum Beispiel eines öffentlichen Bahnhofs der jüngeren Vergangenheit, wird oberflächlich nur als "sozialer Treffpunkt" definiert: "Er dient gesellschaftlichen Bedürfnissen wie Informationsaustausch und Kontaktaufnahme." Welcher Qualität dieser "Informationsaustausch", diese "Kontaktaufnahme" aber sind, wer hier also wozu und mit welcher gesellschaftlichen Konsequenz seinem geselligen Bedürfnis nachkommt, darüber gibt es keine detaillierten Auskünfte.

3. Man betätigt sich als Fürsprecher von ausgesuchten gesellschaftlichen Randgruppen. Diesen "Armen" gegenüber sei Toleranz und Mitgefühl angebracht. Leider werde in der Gesellschaft an ihnen ein "neoliberales Exempel statuiert". Sicherheitsdienst und Hausordnung verdrängten diese Menschen. Hausordnungsformulierungen wie "Herumlungern" und "übermäßiger Alkoholkonsum" werden zu Ungunsten jener Personengruppen, die "als unerwünscht und imageschädigend" gelten, ausgelegt. Bewußt wird bei dieser Argumentation ausgeblendet, daß die angesprochenen Randgruppen wie etwa Drogensüchtige und Prostituierte keinesfalls immer wirtschaftlich so arm sind wie behauptet. Die Bahn geht also weniger gegen "Arme" vor - kein armes Mütterchen mit karger Rente wird vom Bahnsteig abgeführt -, sondern gegen gesellschaftliche Randgruppen.

Das Empfinden der Mehrheit bleibt in der linken Randgruppen-Romantik völlig ausgeblendet. Man interessiert sich nicht für das Kind, das auf Fixerspritzen oder blutgetränkte Taschentücher treten muß, für die Frau, die aggressiv angebettelt oder der ihre Handtasche weggerissen wird, den Reisenden, der in Urinlachen tritt. Das Empfinden dieser "Spießer", wie man sie gern nennt, interessiert die selbsternannten Verteidiger der sozial Schwachen nicht.

4. "Sauberkeit und Ordnung" stoßen auf ideologische Ablehnung. Kritisiert wird schon, daß die Bahn ihren Bahnhöfen ein "freundliches, sauberes und sicheres Image" vermitteln wolle. Während also früher von links scharfe Kritik an der Gleichgültigkeit gegenüber dem sichtbaren Elend in der Stadt den Ton angab, erscheint das gleiche Bild jetzt im Rückbild als eine pittoreske Idylle.

Sowenig mit reiner Verdrängung soziale Probleme tiefgreifend gelöst werden, so fatal wäre es, den Randgrup-penromantikern mit ihren Rufen nach "Unordnung" einfach freien Lauf zu lassen. Eine verantwortungsbewußte Stadtplanung, die sich an traditionellen Leitbildern einer durchmischten Stadt ohne Funktionszonen orientiert, sollte einhergehen mit der Stärkung von Bürgersinn und direkter persönlicher Verantwortung für das eigene Lebensumfeld. Vielleicht ist es diese persönliche Verantwortung, die dazu beiträgt, die Risiken von Gewalt, Terror und sozialer Desintegration in Zukunft geringer zu halten.

 

Dr. Claus Wolfschlag ist Autor des Buches "Das antifaschistische Milieu". In JF 14/03 schrieb er über "Steinerne Umerziehung".

Foto: Die Stadt Mannheim setzt probeweise Polizeistreifen auf Fahrrädern ein, um die Bürgernähe zu erhöhen: Wer im Villenviertel lebt, kann solche Vorsichtsmaßnahmen leicht als "kleinbürgerliches Ordnungsbedürfnis" verachten.


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