© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/04 19. März 2004

Zurück zum Keynesianismus
Der amerikanische Volkswirt Joseph Stiglitz preist als Lehre aus den Neunzigern die soziale Marktwirtschaft
Alexander Griesbach

Joseph Stiglitz, 1943 in den USA geboren, war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford, bevor er 1993 in den Sachverständigenrat für Wirtschaftsfragen Präsident Clintons wechselte, den er die ganze erste Amtszeit hindurch beriet. Anschließend ging er als Chefvolkswirt zur Weltbank. 2001 wurde er mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet. Stiglitz lehrt heute an der Columbia University in New York. 2002 erschien in Deutschland sein stark diskutiertes Buch "Die Schatten der Globalisierung", in dem Stiglitz dafür plädiert, die Weltwirtschaft nicht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. Des weiteren greift er die Welthandelsorganisation an, deren Agenda vom Westen beherrscht würde, während die Länder des Südens immer mehr in Armut versänken. Stiglitz empfiehlt einen dritten Weg zwischen Laisser-faire-Kapitalismus und Sozialismus. Das Ziel dürfe nicht die Deregulierung der Märkte sein, sondern der Aufbau des richtigen regulatorischen Rahmens.

Vor kurzem erschien im Berliner Siedler-Verlag Stiglitz' neuestes Buch, das den völlig verunglückten und nichtssagenden Titel "Die Roaring Nineties. Der entzauberte Boom" trägt. Ein Blick auf den Originaltitel zeigt, was Stiglitz wirklich im Sinn hat: "The Roaring Nineties: A New History of the World's Most Prosperous Decade". Stiglitz geht es also um eine Neuinterpretation der "stürmischen" neunziger Jahre, die gemeinhin als Phase des größten Wohlstands in der Geschichte der Menschheit gedeutet werden.

Der Nobelpreisträger sieht diese Phase freilich durch andere Aspekte gekennzeichnet. Er zeigt auf, warum die hervorstechendsten Attribute dieser Phase, nämlich Gier und Gewinnsucht, weder für Unternehmen noch für Gesellschaften oder Individuen förderlich sind. Gier, die sich unkontrolliert ausbreiten könne, führe zu Betrug, Deformation und Katastrophen. Er wollte verstehen, so erläuterte Stiglitz seine Intentionen während einer Präsentation seines Buches vor der Weltbank, wie genau die Saat ausgesät wurde, die zum Platzen der ökonomischen Blase im Jahre 2001 geführt hat. Weiter ging es ihm darum, darzulegen, aus welchen Gründen genau das Denken der neunziger Jahre zu einer Gegenbewegung gegen die Globalisierung geführt hat.

Stiglitz setzt zunächst bei der Frage nach den Gründen an, die zur allgemeinen wirtschaftlichen Erholung Anfang der neunziger Jahre führten. Viele glaubten auch heute noch, daß das über ein Jahrzehnt anhaltende Wirtschaftswachstum durch die Reduzierung des US-Staatshaushaltes erleichtert worden sei, die niedrigere Zinsen erlaubt habe. Das Ergebnis sei ein deutliches Ansteigen der Investitionen gewesen, die zu entsprechenden Wachstumsraten geführt hätten.

Stiglitz hebt hervor, daß diese Sicht der Dinge makroökonomischen Grundeinsichten widerspreche. Um aus einem konjunkturellen Tal herauszukommen, müßten - hier ist Stiglitz ganz Keynesianer - die öffentlichen Ausgaben erhöht werden. Statt dessen wurden, der Nobelpreisträger hat hier die Beispiele Argentinien und Südostasien vor Augen, die Steuern erhöht und die Staatsausgaben gekürzt. Das Resultat sei gewesen, daß es der Wirtschaft der betroffenen Staaten deutlich schlechter statt besser ging.

Im Mittelpunkt des Buches steht aber die Frage, was genau in den neunziger Jahren zum Wachstum der ökonomischen Blase führte, die der US-Zentralbank-Vorsitzende Alan Greenspan als "irrationalen Überschwang" bezeichnete. Stiglitz bemängelt, daß die Zentralbank mit einem Instrument, nämlich steigenden Zinssätzen, zwei Ziele zu erreichen suchte: nämlich die Inflation einzudämmen und aus der ökonomischem Blase langsam "die Luft herauszulassen". Die hier angewandten mikroökonomischen Instrumente wie beispielsweise steigende Eigenkapitalanforderungen seien allerdings nicht hilfreich gewesen.

Dieser Befund überrascht nicht, denn seitens der US-Zentralbank-Strategen gibt es deutliche Vorbehalte gegen den Einsatz mikroökonomischer Instrumente, die angeblich eine effiziente Allokation in der Wirtschaft stören. Der hier durchscheinende Zielkonflikt zwischen Zentralbank, Lobbyisten, Technokraten und Politikern ist nach Stiglitz' Meinung unauflösbar, wenn es um die richtige Antwort geht, wie Inflation und erhöhte Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen seien und ein erhöhtes Wachstum gelingen könne.

In diesem Zusammenhang gibt es ein Manko des Buches zu konstatieren: Insbesondere der Mittelteil fokussiert zu sehr auf US-Aspekte und Hintergründe des Börsenbooms und Zusammenbruchs. Aus deutscher Sicht spannender wird es in den letzten Kapiteln, wenn die Wirtschaftspolitik des Weißen Hauses einer kritischen Betrachtung unterzogen wird. Was die US-Regierungen über Weltbank und Währungsfonds für die Dritte Welt und Schwellenländer anpreisen, wird zu Hause häufig umgekehrt: Stiglitz stellt hier Heuchelei fest, insbesondere bei den Handelsabkommen. "Wenn man sich anschaut, wer dabei gewinnt und wer verliert", so schlußfolgert er, "dann wird man feststellen, daß die entwickelten Industriestaaten auf der Gewinnerseite stehen. Und deren Politik ist widersprüchlich. Einerseits preisen sie den freien Markt, andererseits pumpen sie Milliardensummen in die eigene Wirtschaft. Jeder glaubt, es sollte keine Subventionen geben, nirgends - außer bei sich selbst."

Der Ökonom fordert deshalb einen Zukunftsentwurf , der auf sozialer Gerechtigkeit gründet und in dem sich die Autonomie des Marktes und staatliche Eingriffe die Waage halten. Auch für Europa bedeutet dies eine Marktwirtschaft mit sozialerem Antlitz. Für die USA hofft Stiglitz auf eine neue Regierung, die die richtigen Lehren aus den letzten zehn Jahren zieht.

Hier liest sich das Buch, im Gegensatz zu vielen Passagen im Mittelteil, gerade auch mit Blick auf die deutsche Diskussion durchaus spannend. Daß Stiglitz ausgerechnet in einer Phase, in der der deutsche Sozialstaat mehr und mehr als schnell abzuwerfender Ballast denunziert wird, eine sozialere Marktwirtschaft fordert, entbehrt keineswegs einer gewissen Ironie. 

Joseph E. Stiglitz: Die Roaring Nineties. Der entzauberte Boom. Siedler Verlag, Berlin 2004, 352 Seiten, gebunden, 24,70 Euro

Foto: Börsenmakler stoßen mit Sekt an: Gier und Gewinnsucht sind für niemanden förderlich


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