© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/04 19. März 2004

Mexiko ist zum Greifen nah
USA: Samuel P. Huntington warnt vor einer Unterwanderung seines Landes durch lateinamerikanische Immigranten / US-Identität in Gefahr
Ronald Gläser

Samuel P. Huntington hat mit einem Aufsatz in der renommierten US-Zeitschrift Foreign Policy an seinen heiß-diskutierten Bucherfolg "Kampf der Kulturen" angeknüpft. Der Professor für Politikwissenschaft und Leiter des John-M.-Olin-Instituts für Strategische Studien an der Universität Harvard wendet sich in seiner Streitschrift den Latinos zu, die seiner Ansicht nach das Fundament der US-Gesellschaft bedrohen. Der Aufsatz ist nur ein Appetitanreger auf sein demnächst erscheinendes Buch "Who we are" (Wer wir sind).

Die Latinos (oder Hispanics) assimilierten sich nicht mehr in der Gemeinschaft, von der sie großzügig aufgenommen werden. Die Masse der US-Bürger ignoriere jedoch die Tatsache, daß sich zwischen Miami und Los Angeles eine Latino-Enklave nach der anderen bildet. Dies empfindet Huntington als bedrohlich. Die ersten europäischen Auswanderer nach Amerika waren zunächst überwiegend britische Protestanten. Später kamen Deutsche, Iren, Franzosen, Skandinavier und schließlich Osteuropäer hinzu. Die Mehrheit der Amerikaner rekrutierte sich aus Weißen.

Politische und religiöse Überzeugungen bildeten das "Fundament der US-Identität". "Wären die Vereinigten Staaten das Land, das sie immer waren und heute noch überwiegend sind, wenn sie im 17. und 18. Jahrhundert nicht von britischen Protestanten, sondern von französischen, spanischen oder portugiesischen Katholiken besiedelt worden wären?" fragt Huntington. "Die Antwort ist ein klares Nein. Es wäre Québec, Mexiko oder Brasilien."

Die "Doktrin der multikulturellen Gesellschaft" und das kosmopolitische Denken im Zeitalter der Globalisierung führen zur Erosion des gemeinschaftlichen Konsenses. Die gefährlichste Bedrohung für die Basis der US-Gesellschaft komme aus Lateinamerika, vorzugsweise aus Mexiko. Huntington listet die Vorzüge einer sofortigen Zuzugsbeschränkung auf: Im Niedriglohnsektor käme es zu drastischen Lohnsteigerungen kommen. Zweisprachiger Unterricht wäre nicht mehr notwendig. Die öffentlichen Haushalte würden nicht länger durch zugewanderte Sozialfälle belastet. Zu einer so verantwortungsvollen Politik zugunsten der eigenen Landsleute ist in Washington jedoch niemand bereit.

Bedrohung der USA durch die Latino-Zuwanderungswelle

Die einzigartige Bedrohung durch die Latino-Zuwanderungswelle macht Huntington an sechs Faktoren fest: Nachbarschaft, Größe, Illegalität, regionale Konzentration, Dauerhaftigkeit und historische Entwicklung.

- Nachbarschaft: In der Vergangenheit symbolisierte die Freiheitsstatue auf Ellis Island vor Manhattan die Einwanderung in die USA. Hier wurden die europäischen Auswanderer über Jahrhunderte hinweg in Empfang genommen. Sie hatten dazu eine Seereise über den halben Globus antreten müssen. Jetzt grenzt die Industriemacht direkt an ein Land der Dritten Welt. Huntington zitiert den Stanford-Historiker David Kennedy: "Der Einkommensunterschied zwischen den USA und Mexiko ist weltweit der größte Unterschied, der zwischen zwei Nachbarstaaten besteht."

- Größe: Die schiere Anzahl von Latinos wächst und wächst - in absoluten wie in relativen Zahlen. 640.000 Mexikaner wanderten in den siebziger Jahren in den USA ein. In den Neunzigern waren es bereits 2,2 Millionen. Der Anteil der Mexikaner an allen legalen Einwanderern ist bereits auf 25 Prozent gestiegen. Unter den illegalen Einwanderern ist der Anteil noch weitaus höher.

- Illegalität: Die Einreise ohne offizielle Erlaubnis und ohne die Kenntnis der Behörden ist ein modernes Problem. Es ist obendrein ein mexikanisches Problem. Wer die Autobahn von San Diego an der mexikanischen Grenze nach Norden - Richtung Los Angeles - fährt, sieht immer wieder Schilder, die vor Mexikanern warnen, die die Autobahn überqueren. Sie werden an der wüstenähnlichen Küste von Menschenschmugglern einfach abgesetzt und schlagen sich ins Landesinnere durch.

Auch die Grenze ist löcherig wie ein Schweizer Käse. Die Grenzpolizei registrierte in den siebziger Jahren durchschnittlich 1,6 Millionen pro Jahr. Grenzverletzungen. In den 1990ern betrug diese Zahl 14,7 Millionen. Schätzungen zufolge reisen zwischen 100.000 und 350.000 Mexikaner jährlich in die USA ein. Rund fünf Millionen Mexikaner halten sich illegal in den USA auf. George W. Bush hat diesen Personenkreis gerade de facto amnestiert.

- Regionale Konzentration: Einwanderer haben sich immer - und Nicht-Latinos tun dies heute noch - gleichmäßig über das Land verteilt. Dies hat ihre Assimilierung gefördert. Latinos sind dagegen stets dem Trend gefolgt, sich in den südlichen Staaten anzusiedeln. Die Mexikaner haben sich Staaten wie Neu- Mexiko, Arizona und vor allem das südliche Kalifornien als Zielort ausgesucht. Puerto Ricaner und Dominikaner siedelten in New York. Kubaner schließlich gingen nach Florida. Florida gilt als das Mekka der Kubaner. Die Castro-feindliche Oberschicht fand dort politisches Asyl. 1980 schob Castro 125.000 Landsleute ab - vorwiegend Kriminelle und Homosexuelle. Dies zog dann wieder andere Latinos an.

Heute sind die Latinos die Mehrheit im Großraum Florida. Sie haben sich längst ihre Position in der vormals weißen US-Gesellschaft erkämpft. Das hat zur Folge, daß sich inzwischen die Schwarzen "doppelt diskriminiert" fühlen. Ohne Spanischkenntnisse sinken die Aussichten auf einen Arbeitsplatz rapide. In Los Angeles sind 45 Prozent der Einwohner Latinos - mehrheitlich Mexikaner. Die restlichen Weißen machen dreißig Prozent aus. 2010 werden die Latinos die absolute Mehrheit in Los Angeles stellen. Dank der höheren Geburtenrate sind die Auswirkungen an den Schulen besonders gut zu registrieren. Siebzig Prozent der Schulkinder in Los Angeles sind Latinos. 2003 überstieg die Zahl der Latino-Neugeborenen in Kalifornien die nicht-hispanischer Weißer.

Nicht neues Québec, sondern Norderweiterung Mexikos

- Dauerhaftigkeit: Gemessen an der Kaufkraft ist das Pro-Kopf-Inlandsprodukt in den Vereinigten Staaten viermal so hoch wie in Mexiko. Doch selbst wenn sich der Lebensstandard in Mexiko drastisch verbessern würde, sieht Huntington keinen Grund für ein Ende der anhaltenden Zuwanderung aus dem Süden. Auch aus den aufstrebenden europäischen Industrienationen sind im 19. Jahrhundert sage und schreibe fünfzig Millionen Menschen in die USA emigriert.

- Historische Entwicklung: Keine Immigrantengruppe konnte bislang territoriale Ansprüche geltend machen. Auf die Mexikaner trifft dies jedoch nicht zu. Mexiko hat vor 150 Jahren große Gebiete an die USA verloren: fast ganz Kalifornien, Texas, Neu-Mexiko, Arizona, Nevada und Utah. Die Demütigungen, die die nördlichen Nachbarn den Mexikanern zugefügt haben, sind in deren kollektivem Gedächtnis verankert. Die Annahme, daß sich hier langfristig ein "neues Québec" entwickelt, basiert auf einer Fehleinschätzung. Eher besteht die Gefahr, daß eine Abspaltung einzelner Bundesstaaten anders als in Kanada zur sofortigen Angliederung an Mexiko führen würde - wie sich umgekehrt die weißen Texaner 1835/36 von Mexiko lösten, um den USA beizutreten.

Bürgerrechtsgruppen, die Kirchen und die Politiker buhlen um die Sympathie der neuen Einwohner. Bush möchte als El Presidente angesehen werden und hält seine wöchentliche Radioansprache auch auf spanisch. Die Forderung nach zweisprachigem Unterricht macht die Runde. Dadurch wird die inneramerikanische Kluft nur noch vergrößert.

Für Huntington ist die kritische Masse längst überschritten. "Blut ist dicker als Grenzen", warnt er. Bei Demonstrationen verbrennen Mexikaner schon US-Fahnen und schwenken die mexikanische. Wie auch Ex-Präsidentschaftskandidat Pat Buchanan sieht er den Zerfall der USA, wie wir sie kennen, als wahrscheinlichste Variante (siehe Buchanans Buch "Tod des Westens" in JF 13/02). Die Masse der weißen Amerikaner scheint sich damit jedoch längst abgefunden zu haben. Sie leistet keinen Widerstand.

Auf Konfrontationskurs zu Huntington gehen jedoch prominente Lateinamerikaner. Der Wirtschaftsexperte Jesús Silva-Herzog etwa bezeichnete Huntington als den "Stephen King der US-Politikwissenschaft". Der argentinische Journalist Andrés Oppenheimer nannte die Thesen "pseudo-akademischen, fremdenfeindlichen Blödsinn".

Der mexikanische Politologe und frühere UN-Botschafter seines Landes sprach von Nostalgie, wenn Huntington glaube, die Uhr zurückdrehen zu können. Das brisante Buch erscheint vermutlich noch in diesem Jahr auf deutsch beim Europa Verlag.


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