© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/04 19. März 2004

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Rußland: Mit der Wiederwahl Wladimir Putins haben sich die Wähler gegen Kommunismus und "Kapitalismus pur" ausgesprochen
Wolfgang Seiffert

Schon am Sonntagnachmittag zeichnete sich ab, daß die einzige Hürde, die Wladimir Putin von seinem Wahlsieg noch hätte trennen können - nämlich eine zu geringe Wahlbeteiligung - genommen war. Letztendlich gaben 64,3 Prozent der etwa 110 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab - 71,2 Prozent von ihnen stimmten für den amtierenden Präsidenten. Im März 2000 waren es nur 52,2 Prozent. Von den anderen Kandidaten kam einzig der KP-Kandidat auf ein zweistelliges Ergebnis: 13,8 Prozent stimmten für Nikolai Charitonow. Der Sowjetnostalgiker erhielt damit fast zwei Prozent mehr als die Kommunisten bei den Duma-Wahlen im Dezember 2003.

Diese Stimmen fehlten wohl dem Linksnationalisten Sergej Glasjew, der mit nur 4,1 Prozent seinen damaligen Erfolg (9,1 Prozent) nicht wiederholen konnte. Doch sein Duma-Wahlbündnis Rodina (Heimat) hatte ihm jetzt die Unterstützung versagt. Die Hilfe der liberalen Parteien Jabloko und SPS (sie boykottierten die Wahl) fehlte auch der neoliberalen Kandidatin Irina Chakamada, die bei 3,9 Prozent landete. Trotz des Mißerfolgs will sie bis 2006 ihre eigene Partei "Freies Rußland" aufbauen, die eine "echte Opposition zur Regierung werden" solle. Mut macht ihr wohl das Abschneiden im prosperierenden St. Petersburg, wo sie 6,7 Prozent schaffte. Mit zwei Prozent völlig bedeutungslos blieb Oleg Malyschkin von den nationalpopulistischen Liberaldemokraten, deren Chef Wladimir Schirinowski diesmal nicht antrat. An letzter Stelle lag der Präsident des Föderationsrates, Sergej Mironow, mit 0,8 Prozent. 3,5 Prozent stimmten "gegen alle".

Der Erfolg für Putin ist überwältigend - daher melden sich oppositionelle Kräfte in Rußland und sprechen von Machtmißbrauch. "Insgesamt hat der Wahlvorgang nicht angemessen die Prinzipien widergespiegelt, die für eine gesunde, demokratische Wahl nötig sind", meinte der Chef der OSZE-Wahlbeobachter, Julian Yates. Er kritisierte auch das Verhalten der staatlich kontrollierten Medien im Wahlkampf: "Unabdingbare Elemente wie eine lebhafte politische Auseinandersetzung und ein echter Pluralismus fehlten".

Gewiß, die Art und Weise, wie diese Wahlen durchgeführt wurden, war anders, als man es in Westeuropa oder in den USA kennt. Putin lehnte ab, mit den anderen Kandidaten in Fernsehrunden zu diskutieren. Er warb nicht auf Wahlplakaten, sondern stellte sich den Wählern bewußt durch sein Amt, seine Leistungen der letzten vier Jahre und sein Programm für die Zukunft.

Kurz vor der Wahl setzte er das Kabinett Kassjanow ab und brachte mit Michail Fradkow eine neue Regierung ins Amt. Von bisher 30 Ministerien blieben nur noch 17 übrig, statt der sechs Vizepremiers gibt es nur noch einen. Presseminister Michail Lessin mußte gehen, Außenminister Igor Iwanow wurde durch den langjährigen Uno-Botschafter und späteren EU-Beauftragten Sergei Lawrow ersetzt. Iwanow wurde Vorsitzender des Sicherheitsrates.

Untergang der Sowjetunion war "nationale Katastrophe"

Von der Zusammensetzung der neuen Regierung gehen so drei Botschaften aus: Künftig ist von der "Familie" des Ex-Präsidenten Boris Jelzin niemand mehr im Amt. Die Korruption wird energisch bekämpft, und zugleich demonstrierte Putin mit der Beibehaltung der Reformer German Gref (Wirtschaft) und Michail Kudrin (Finanzen) Kontinuität in der Wirtschaftspolitik. Er appellierte an das Selbstbewußtsein der Russen, wenn er den größten Manövern der letzten zwanzig Jahre in der Barentsee beiwohnte oder vor Studenten der Moskauer Universität erklärte, der Untergang der Sowjetunion sei eine nationale Katastrophe von ungeheurem Ausmaß gewesen, von der niemand im Volke Vorteile, sondern nur Unannehmlichkeiten gehabt habe. Er ließ Weißrußland den Gashahn zudrehen und erst wieder liefern, nachdem Präsident Alexander Lukaschenko die russischen Bedingungen akzeptiert hatte.

Die meisten der Wähler verstanden von selbst, daß ihr Leben unter Putin geordneter und besser geworden ist als unter Jelzin. Auf diese Weise machte Putin seine Wiederwahl zu einem Referendum über seine Politik - sowohl der letzten vier als der kommenden vier Jahre. Auch wenn man in Rechnung stellt, daß fast 30 Prozent der Wähler gegen ihn stimmten, hat er eine "Mitte von ungeahnter Breite" (Neue Zürcher Zeitung) mit dieser Taktik erreicht. Was wird er mit dieser breiten Zustimmung anfangen? Die immer wieder zu hörende Befürchtung, er könnte nun die Verfassung zu seinen Gunsten dahingehend ändern, daß seine Amtszeit verlängert wird, hat sich eigentlich erledigt. Putin hat solchen Vorschlägen immer widersprochen, und verfassungsrechtlich ließe diese Änderung sich unmittelbar nach den Wahlen überhaupt nicht durchführen.

Aber natürlich wird er damit fortfahren, in allen wichtigen Positionen des Staates Leute seines Schlages zu plazieren. Vor allem wird er bemüht sein, sein Programm durchzusetzen. Er hat angekündigt, daß die Hebung des Lebensstandards und die Steigerung der Wirtschaftsergebnisse die wichtigsten Aufgaben seien. Hält er sich hierbei weiter im Rahmen der geltenden Verfassung, gibt es wenig Grund zur Kritik.

Dennoch kann man fragen, welches politische System sich unter Putin herausbildet. Darüber wird auch künftig viel gestritten werden - innerhalb Rußlands ebenso wie im Ausland. Eins dürfte feststehen: Rußland übernimmt nicht einfach das westeuropäische oder gar das US-Modell, sondern geht seinen eigenen Weg. All die untauglichen Versuche vom Westen finanzierter Institute und Klubs wie George Soros "Offene Gesellschaften" oder die Carnegie-Stiftung, Rußland nach ihren Vorstellungen zu gestalten und zu bewerten, sind gescheitert. Sie mußten scheitern, weil man ein Land von der Größe und mit der Geschichte und Kultur Rußlands nicht dazu bringen kann, seine eigene Identität zu verleugnen. Das Ergebnis der Präsidentenwahl ist eindeutig.

Ob und wann der Westen dies begreift, steht allerdings auf einem anderen Blatt. In der Welt vom 13. März ist Manfred Quirings Leitartikel zu den Präsidentenwahlen mit "So mächtig wie Stalin" überschrieben. Doch wer jahrelang in der UdSSR unter Stalin gelebt hat und das Rußland von heute unter Putin kennt, kann da nur mit dem Kopf schütteln.

Auch Lilija Schewzowa vom Moskauer Carnegie-Zentrum geht in derselben Welt-Ausgabe reichlich leichtfertig mit den Begriffen um. Einerseits meint sie, Putins Rußland sei kein Polizeistaat und keine Diktatur, andererseits aber bezeichnet sie das heutige Rußland als "autoritäres System" und als einen "Staat des militanten Nationalismus". Nun kann man in jedem Lexikon nachlesen, daß unter einem autoritären System "Alleinherrschaft, Selbstherrschaft, Diktatur" zu verstehen ist. Auch daß man zwischen "nationalistisch" und "national" unterscheiden muß. In Deutschland ist solche mangelnde Differenzierung zwar auch nicht zu akzeptieren, aber insofern verständlich, als es auch nach der Wiedervereinigung keine nationale Identität gibt.

Für eine Russin bleibt dies angesichts der russischen Geschichte schlicht unbegreiflich. Vielleicht liegt das auch daran, daß in den letzten zehn Jahren in Rußland zwar viele wissenschaftliche Arbeiten zum Zivilrecht, zum internationalen Privatrecht, aber keine einzige nennenswerte Publikation zum Staatsrecht erschienen ist. Vor allem aber stellt sich bei allen solchen Bewertungen die eigentliche Frage: Welches politische System braucht denn das Rußland von heute, und soll es eines im Rahmen der geltenden Verfassung sein oder nicht?

Von Putin-Gegnern wie Boris Nemzow, Anatolij Tschubais oder Irina Chakamada hört man immer nur das Credo des westlichen Neoliberalismus, vom Markt, der alles selber regelt und davon, daß der Staat sich aus der Wirtschaft heraushalten solle - also "Kapitalismus pur". Die Kommunisten und Wirtschaftsprofessoren wie Glasjew liegen links von Putin. Beide Richtungen sind bei den Wahlen weit unterlegen, weil ihre Konzepte auf die russische Wirklichkeit nicht passen.

Wir werden uns also darauf einzustellen haben, daß Putin und seine Politik Rußland noch für lange Zeit bestimmen. Eine vernünftige Rußlandpolitik muß daher einen Paradigmenwechsel vollziehen und Rußland so nehmen wie es ist und wie es seine Mehrheit will. Ohnehin deutet vieles darauf hin, daß Deutschland künftig nicht nur die Beziehungen zu den USA wieder normalisieren muß, sondern Rußland als festen Partner braucht, wenn es die herannahenden Stürme bestehen will.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht in Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er verfaßte das Buch "Wladimir W. Putin - Wiedergeburt einer Weltmacht?"


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