© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/04 19. März 2004

Das Faß ist bald leer
Energie: Die fossilen Energiereserven werden sehr unterschiedlich eingeschätzt - vieles spricht für ein nahes Ende des Erdölzeitalters
Alexander Barti

Inzwischen weiß es wohl jedes Kind: Die Besetzung des Irak durch US-Truppen hat auch etwas mit dem Öl zu tun. Denn das schwarze Gold ist der Stoff, aus dem die westliche Kultur mittelbar ihre Kraft bekommt. Versiegt diese Quelle, wird auch ihre Kultur untergehen - darin sind sich alle Beteiligten einig. Die entscheidende zivilisatorische Frage lautet daher nicht, welche Länder "der Westen" noch überfallen und kontrollieren muß, um sich den notwendigen Lebenssaft zu sichern, sondern: Wie lange gibt es den fossilen Brennstoff überhaupt noch?

Während die eine Partei davon ausgeht, daß die derzeit wichtigsten fossilen Energieträger - Erdöl und Erdgas - in zwanzig bis fünfzig Jahren restlos aufgebraucht sind, behauptet die Gegenpartei, der Ofen gehe noch für Jahrhunderte nicht aus. Beide Seiten stehen sich nicht nur unversöhnlich gegenüber, sie untermauern ihr Glaubensbekenntnis auch jeweils mit einer Unzahl von wissenschaftlichem Datenmaterial.

Erst kürzlich machte eine Meldung des Monatlichen Informationsdienstes für Wirtschaft und Politik (Nr. 1/4, 30. Januar 2004), herausgegeben vom Mineralölwirtschaftsverband (MWV) Hamburg, die Runde, wonach die "Weltölreserven auf Rekordniveau" seien. Auch im vergangenen Jahr seien die weltweiten Ölreserven weiter gestiegen. Mit etwa 172 Milliarden Tonnen lägen sie Ende 2003 um mehr als sieben Milliarden Tonnen über denen im Vorjahr. Verursacht habe diesen Zuwachs von circa vier Prozent eine Neubewertung der iranischen Ölvorräte sowie die Einbeziehung der kanadischen Ölsande.

Die sicher förderbaren Reserven Irans erhöhten sich um vierzig Prozent auf 17,2 Milliarden Tonnen. Mit Ausnahme der Vereinigten Arabischen Emirate, Katars und Indonesiens haben alle Opec-Staaten ihre Reserven leicht erhöht. Durch diese Veränderung nahm der Anteil der Opec-Mitglieder an den weltweiten Öl-Reserven um neun Prozentpunkte auf 77 Prozent zu. Nach Meinung des MWV beträgt die Reichweite dieser Reserven bei unveränderter Fördermenge neunzig Jahre.

In der Tabelle der ölreichsten Staaten der Welt bleibt Saudi-Arabien mit 35 Milliarden Tonnen an der Spitze. Platz zwei hat mit 24 Milliarden Tonnen Kanada. Das nordamerikanische Land konnte in die Liga der Ölscheichs durch die eigenen Ölsande aufsteigen. Die Förderung dieser Schichten ist sehr energieaufwendig und umweltbelastend. Attraktiv - und daher in die Rechnung miteinbezogen - wurden diese Vorkommen nur aufgrund des anhaltend hohen Ölpreises. Iran hält durch die Neubewertung nunmehr zehn Prozent an den weltweiten Ölreserven und hat damit den Irak vom dritten Rang verdrängt. Aber auch in anderen Regionen hat sich die Lage laut MWV verändert: Nach Jahren rückläufiger Entwicklung ließen neue Ölfunde im Golf von Mexiko die Reserven der USA geringfügig steigen. Auch Europa legte leicht zu: Mit einer Steigerung um knapp ein Prozent auf rund drei Milliarden Tonnen liegen hier weniger als zwei Prozent der Weltölreserven. Der MWV hat für Deutschland einen drastischen Sprung errechnet: Die Erhöhung um dreißig Prozent auf 61 Millionen Tonnen ist auf eine Neubewertung der förderbaren Vorkommen in der Nordsee zurückzuführen.

Der Hamburger Ölverband betont ausdrücklich, daß die aufgeführten Weltölreserven nur einen Teil der gesamten Vorräte umfassen: "Nämlich nur die bestätigten, mit heute vorhandener Technik und bei heutigem Preisniveau wirtschaftlich förderbaren Vorkommen." Aus der Berechnung fielen alle sogenannten "nicht-konventionellen" Lagerstätten wie zum Beispiel Ölschiefer und Ölsande (außer Kanada). Diese Ressourcen könnten "den Weltölbedarf einige hundert Jahre lang decken". Außerdem sei zu beachten, daß die Angaben über die Reichweiten von Ölreserven von der Rohölpreisentwicklung und vom derzeitigen Verbrauch ebenso abhängig seien wie von der Entwicklung der Fördertechnik.

Shell korrigierte die eigenen Reserven um 20 Prozent

Zur gleichen Zeit, als der MWV seine Prognose veröffentlichte, konnte man eine andere Meldung lesen, die allerdings viel weniger Beachtung fand: Shell korrigierte die eigenen Reserven um zwanzig Prozent nach unten. Die Korrektur betraf in erster Linie die Öl- und Gasfelder in Angola und Australien. Wie konnte das bei wachsenden Weltölreserven geschehen? Um diese Korrektur zu verstehen, muß man sich die Entwicklung der letzten Jahre in Erinnerung rufen. Die westlichen Ölgesellschaften erfaßte Ende der neunziger Jahre eine Fusionswelle. Exxon wurde mit Mobil zu "Exxon Mobil", British Petroleum (BP) schluckte Amoco und Arco, Chevron und Texaco fusionierten und aus den französischen Firmen Total, Fina und Elf wurde ebenfalls ein einziges Unternehmen (Total).

Shell beteiligte sich als eines der wenigen großen Unternehmen nicht an dieser Entwicklung. Nach Meinung der Analysten hatten die Briten diesen Prozeß schlicht verschlafen. Schon damals wurde die Fusionswelle auch als eine Marktbereinigung interpretiert. Das Bankhaus Goldman Sachs hatte zum Beispiel in der Zeitschrift Energy Weekly am 11. August 1999 kommentiert: "Die große Fusionswelle ist nichts anderes als das Zurückschrauben einer sterbenden Industrie in Anerkennung der Tatsache, daß 90 Prozent der weltweiten konventionellen Ölreserven bereits entdeckt sind."

Die Produktionsmöglichkeiten wurden so für einige Jahre verbessert. Analysten hatten damals das Reservewachstum der verbleibenden Firmen im Auge gehabt, nicht aber die Summe der Reserven der beteiligten Firmen vor und nach den Fusionen. Hätten sie ihre Arbeit besser gemacht, wären schon damals die Reserven einiger Firmen nach unten revidiert worden. Im Jahr 2002 wurden erstmals die Analysten nervös, als Shell einen drohenden Rückgang der Förderung durch den überstürzten - und daher teuren - Kauf der Firma "Enterprise" abwendete. Enterprise war das größte in der Nordsee tätige unabhängige Ölunternehmen.

Von der Shell-Korrektur abgesehen konnte man in den letzten Jahren auch beobachten, daß die anderen großen Konzerne ihre öffentlich verkündeten Wachstumsziele Schritt für Schritt nach unten revidieren mußten. Von einer Steigerung der Produktion war keine Rede. Auch das ist ein starkes Indiz, daß das Wachstum insgesamt zum Stillstand gekommen ist. Die von Shell nun vorgenommene Korrektur dürfte ausgelöst worden sein von strengeren Regeln der amerikanischen Aufsichtsbehörde SEC (Securities and Exchange Commission). Denn die Regeln für die Berichte über Reserven sind alles andere als klar geregelt, richtige Transparenz gibt es nicht: Firmen schätzen ihre Reserven selbst ein, eine unabhängige Kontrolle von außen ist nicht vorgesehen. Vor allem gibt es eben auch keine Trennung bei den berichteten Reserven zwischen der Höherbewertung bereits entdeckter Vorkommen - der Auflösung von "stillen Reserven" - und den Neufunden. Daß Shell sich zur Selbstkorrektur genötigt sah, ist ein starkes Indiz dafür, daß die in der Vergangenheit noch reichlich vorhandenen "stillen Reserven" inzwischen verschwunden sind.

Aber Shell war nicht die einzige Firma, die sich zu diesem unangenehmen Schritt entschließen mußte. Die eher kleine Ölfirma Forest Oil in den USA gab am 27. Januar bekannt, daß aufgrund schlechter Produktionsergebnisse das Ölfeld "Redoubt Shoal" von unabhängigen Ingenieuren neu bewertet wurde. Als Ergebnis mußten die gesicherten Reserven von 49 Millionen Faß auf acht Millionen Faß Öl zurückgestuft werden. Auch bei dieser Korrektur dürften die verschärften Regeln der SEC eine Rolle gespielt haben.

Von ähnlichen "Neubewertungen" wird man in Zukunft noch öfter hören. Wenige Tage zuvor, am 23. Januar, berichtete das Wall Street Journal von einer Studie der schottischen Beratungsfirma Wood Mackenzie, wonach nur ein Teil der von den Ölfirmen ausgewiesenen Reserven auf wirklich neue Funde zurückzuführen seien: Der wesentliche Teil der wunderbaren Vermehrung gehe auf Höherbewertungen alter Felder zurück. Der Anteil der neuen Funde hingegen sei in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.

Wood Mackenzie weist darauf hin, daß die Neufunde der zehn größten westlichen Ölfirmen von 1997 bis zum Jahr 2000 stetig auf 13,05 Gb (Giga Barrel = Milliarden Faß) angestiegen seien. Im Jahr 2001 wurden von diesen Firmen jedoch nur noch 4,02 Gb und im Jahr 2002 sogar nur 3,34 Gb Öl neu gefunden. In den Berichten an die SEC-Aufsichtsbehörde wurden von diesen Firmen jedoch von 1997 bis 2002 steigende Reserven gemeldet, die im Durchschnitt 10,5 Gb für jedes Jahr betrugen. Die Ölfirmen haben sich demnach verhalten wie jemand, der den eigenen, zunehmend abgenutzten Hausrat eigenmächtig immer höher bewertet, um seine Kreditwürdigkeit zu verbessern.

Daß diese Trickserei wenig mit seriöser Ökonomie zu tun hat, dürfte jedem klar sein. Aber auch die Förderzahlen einzelner Länder sprechen eine deutliche Sprache: Die Ölförderung von Großbritannien, zum Beispiel, hat im Jahr 1999 das Fördermaximum überschritten. Seither ist die Ausbeute um ein Viertel zurückgegangen. Nachdem offiziell diese Tatsache lange diskret übergangen wurde, berichtete erstmals am 12. November 2003 die Londoner Times über den britischen "Alptraum": Im September 2003 wurde das Vereinigte Königreich erstmals Nettoimporteur von Erdöl. Die Folgen sind unangenehm, denn durch die bis zum Jahr 2010 erwartete Halbierung der eigenen Ölförderung wird eine weiter steigende Belastung der Handelsbilanz erwartet.

Vom erdölexportierenden zum -importierenden Land

Konnte man in den vergangenen Jahren die reduzierten Ölexporte noch durch steigende Ölpreise teilweise ausgleichen, so wirkt dieser Vorzeichenwechsel der Handelsbilanz in die entgegengesetzte Richtung: Jeder weitere Anstieg des Ölpreises erhöht die finanzielle Belastung. Eine ähnliche Entwicklung kann man in dem Opec-Land Indonesien beobachten, wo die Ölförderung kontinuierlich seit Anfang der neunziger Jahre zurückfällt, der Eigenverbrauch aber stetig ansteigt. Irgendwann im laufenden Jahr wird Indonesien vom erdölexportierenden zum erdölimportierenden Land. Man darf gespannt sein, in welcher Weise Indonesien seine Opec-Mitgliedschaft dann noch rechtfertigt.

Dunkle Wolken ziehen sich auch über dem Reich der Mitte zusammen. Nach Berichten von Interfax China vom 25. und 26. November 2003 haben die beiden größten chinesischen Ölfirmen, CNCP und Sinopec, die Öllieferungen an unabhängige Tankstellen eingestellt. Begründet wurde dieser ungewöhnliche Schritt ganz ungeschminkt mit einem Versorgungsengpaß. Experten sehen mehrere Ursachen dafür : Aufgrund des starken Wachstums des Ölverbrauchs konnten die Raffinerien ihre Produktion nicht schnell genug ausweiten. Außerdem wurden für den starken Aus- und Neubau von Straßen große Mengen an Asphalt benötigt, so daß die Raffinerien einen Teil des Öls für die Asphaltproduktion verwendeten.

Doch eigentlich ist es völlig unerheblich, was genau die Gründe für die Verknappung waren. Entscheidend ist: Der Ölverbrauch steigt in Chinas so stark an, daß seit 1993 Öl importiert werden muß. China hat Japan als zweitgrößtes Ölimportland hinter den USA bereits abgelöst. Inzwischen verbraucht China zwanzig Prozent der gesamten Energie der OECD-Staaten. Seine Öleinfuhr steigt um neun Prozent jährlich - und der Energiehunger ist ungebremst. Auch Indiens Marktwirtschaft - ebenfalls ein Milliarden-Einwohner Staat - hat sich in letzter Zeit rasant entwickelt.

Vor dem Hintergrund des weltweit stetig steigenden Energiebedarfs weist der Ölexperte William Engdahl ("Mit der Ölwaffe zur Weltmacht") auf ein weiteres Problem hin, nämlich auf den sogenannten "Peak Oil": Der Produktionsverlauf eines Ölfeldes gleicht der Form einer Glocke. Der Höhepunkt ist erreicht, wenn 50 Prozent der Ölreserven gefördert wurden. Zu diesem Zeitpunkt scheinen die Reserven noch üppig vorhanden zu sein, die Fördermenge kann auf diesem Niveau einige Zeit gehalten werden. Ist der Höhepunkt aber überschritten, wird die Förderung immer schwerer, denn die Aufrechterhaltung des Förderdrucks wird immer aufwendiger und damit teurer.

Engdahl kritisiert, daß die meisten Ölgesellschaften und Behörden, wie zum Beispiel das US-Energieministerium, nicht von der wichtigen Variablen "Höchstfördermenge" sprächen, sondern nur von den Gesamtreserven. Dies sei aber irreführend, wie einige Beispiele belegen: 1991 fand man in Cruz Beana in Kolumbien das größte Vorkommen in der westlichen Hemisphäre seit 1970. Aber die Fördermenge fiel von 500.000 Faß pro Tag auf 200.000 Faß pro Tag im Jahr 2002. Mitte der achtziger Jahre wurden im Forty Field in der Nordsee 500.000 Faß pro Tag gefördert - heute sind es nur noch 50.000. Eines der größten Ölvorkommen der letzten vierzig Jahre, Prudhoe Bay, brachte fast zwölf Jahre lang 1,5 Millionen Faß pro Tag. Die Höchstfördermenge wurde 1989 erreicht, heute sind es nur noch 350.000 Faß täglich.

Die Problematik der Höchstfördermenge ist unter den Ölexperten zwar erst seit acht Jahren bekannt, es ist aber anzunehmen, daß auch der Hamburger MWV von diesem Sachverhalt weiß - in seiner Mitteilung findet sich darüber allerdings kein einziges Wort. Glaubt man einem anderen prominenten Ölkrisen-Propheten, dem Geologen Colin Campbell, hat das Totenglöckchen für das Ölzeitalter schon längst geschlagen. In der von ihm gegründeten Association for the Study of Peak Oil and Gas (ASPO) werden all jene Informationen zusammengetragen, ausgewertet und publiziert, die das nahende Ende des letzten Tropfens untermauern. Campbell verkündete schon 1999 vor dem britischen Unterhaus: "Die Entdeckung von neuen Ölreserven erreichte in den sechziger Jahren den Höhepunkt. Heute finden wir für vier verbrauchte Barrel ein neues". Seitdem ist die Lage nicht besser geworden.

Natürlich weiß und wußte auch der Chef der weltgrößten Ölfirma Halliburton - Dick Cheney - von den Prognosen der Experten. Mit Cheney aber schließt sich wieder der Kreis, denn er war es, der als US-Vizepräsident den Vorsitz eines Sonderdezernats für Energiefragen bekam, und der als besonders aggressiver "Falke" in der Bush-Administration immer wieder auf einen Feldzug gegen den Irak gedrängt hatte - ohne Rücksicht auf die eigenen Verbündeten und schon vor dem 11. September 2001.

Aus der Perspektive einer dramatischen Ölknappheit wird überdeutlich, daß die USA nicht aus einer Position der Stärke in den Irak marschiert sind, sondern weil sie gar nicht anders konnten. Die energiefreßsüchtigen Gesellschaften des Westens haben sich selbst in eine fatale Situation gebracht: Beginnen sie mit einer strengen Öl-Diät, bricht ihr System zusammen und sie verlieren die Weltmacht. Fressen sie weiter, ist das Faß bald leer - und wieder sind sie am Ende. Welcher Niedergang angenehmer ist, mögen die Philosophen erklären.

Foto: Raffinerie im mitteldeutschen Leuna: Immer öfter Höherbewertungen alter Erdölfelder statt Neufunde


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