© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/04 12. März 2004

Die Vorräte sind begrenzt
Estland: Die Regierung setzt auf den umweltschädlichen Ölschiefer-Einsatz und erschwert somit die Energiewende
Adrian Gerloff

Der Flieder blüht erst zur Sommersonnenwende und auch wenn die Sonne am Finnischen Meerbusen nicht vor elf Uhr untergeht, sind die Heizungen zwischen dem estnisch-russischen Grenzfluß Narva und der Ostseeinsel Ösel (Saaremaa) immer noch in Betrieb. In Estland, dem nördlichsten der drei baltischen EU-Kandidaten, braucht man angesichts relativ kühler und kurzer Sommer sowie bitterkalter und langer Winter sehr viel Wärme.

Die Energie dafür kommt hauptsächlich aus der Verfeuerung von Ölschiefer, der auf fast 200 Quadratkilometern Fläche im Osten des Landes unter und über Tage gewonnen wird. Dabei ist Wärme beim Abbau des ölhaltigen Gesteins nur ein Beiprodukt, geht es doch bei der Förderung des Ölschiefers in erster Linie um Stromerzeugung. Aus einem Kubikmeter Gestein kann man bei einem Ölgehalt von 15 Prozent rund zehn Kilowattstunden Strom erzeugen. Allerdings ist diese Energie - analog zu Stein- und Braunkohle - alles andere als CO2-neutral ist.

Dieser Nachteil spielte aber in den zwanziger Jahren, als Estland mit deutscher Technologie begann, aus Ölschiefer Energie zu gewinnen, keine Rolle. In Ermangelung eigener Kohlegruben und anderer Energiequellen sicherte die energetische Nutzung von Ölschiefer die wirtschaftliche Unabhängigkeit Estlands zwischen den beiden Weltkriegen. Als die Sowjetunion die kleine Republik 1944 wieder okkupierte, griff man diese Technologie auf und errichtete in der Folge Kraftwerke der Megaklasse. In den Achtzigern wurden noch 31 Millionen Tonnen Ölschiefer jährlich abgebaut, heute hat sich der Abbau auf ungefähr zwölf Millionen Tonnen pro Jahr eingependelt. Der erzeugte Strom ist ein wichtiger Exportartikel Estlands. Die 300 Kilometer östlich gelegenen russische Metropole St. Petersburg wird mit estnischer Ölschiefer-Energie versorgt und selbst Finnland hat sich im vergangenen harten Winter Strom aus Estland zukaufen müssen.

Nach Ölschiefer als mit Abstand wichtigstem Energieträger folgen weit abgeschlagen Gas, Holz, Torf und Steinkohle. Die Nutzung erneuerbarer Energieträger wie Wind, Wasser und Biomasse - soweit überhaupt vorhanden - steckt in den Kinderschuhen und wird erst mit dem EU-Beitritt gefördert. Die Folge der einseitigen Nutzung des Ölschiefers ist eine hohe Emission an CO2, Schwefeldioxid (SO2) und Stickoxiden (NOX).

Verkauf des Stroms ist garantierte Devisenquelle

Ein Umwelt- und Klimadesaster, das kaum zu akzeptieren ist, schimpfen Kritiker wie Jaan Tepp vom estnischen Windenergieverband Tuuleenergia. Auch in Brüssel rümpft man darüber die Nase. Dabei hat sich Estland im Rahmen des EU-Beitritts verpflichtet, den Anteil an erneuerbaren Energien bis zum Jahre 2010 auf fünf Prozent anzuheben.

Die Frage, ob der Ölschieferabbau bestehen bleibt, stellt sich für Alexander Gavrins nicht. Er arbeitet seit 30 Jahren im Führerhaus eines gigantischen Baggers ukrainischer Herstellung und kann auf den Job im Ölschiefer-Tagebau nicht verzichten. "Meinen Job will ich hier bis zur Rente weitermachen", erzählt der 51jährige fast kämpferisch und teilt damit die Haltung von fast 5.000 überwiegend russischen Kollegen, die alle bei Eesti Polevkivi, einer Tochterfirma des staatlichen Energieversorgers Eesti Energia, unter Vertrag stehen.

Die mit dem Verkauf des Stromes garantierte Devisenquelle und die beschäftigungspolitischen Aspekte erschweren die Diskussion um eine Energiewende. Die Mine, in der Gavrin baggert, liegt südöstlich der Stadt Kohtla-Järve. Ihre ölhaltigen Schiefer haben sich rund 200 Meter unter der Erdoberfläche abgelagert. Wo vormals Birken- und Kieferwälder in der baltischen Einsamkeit standen, hat sich das Gelände nach Beginn des Abbaus in eine wüstenähnliche Landschaft verwandelt.

"Wenn wir den Tagebau beenden, dann wird das Gelände auch wieder zugedeckt und neu bepflanzt", versucht der junge Pressesprecher von Polevkivi die Kritik am Landschaftsverbrauch schon im Keim zu ersticken. Ohnehin hat man nicht den Eindruck, als sollte mit dem Beitritt zur Europäischen Union auch die Ölschieferproduktion eingeschränkt werden. Vielmehr unternimmt Polevkivi derzeit mit finnischer Hilfe große Anstrengungen, ihre veralteten Kraftwerke zu modernisieren.

Die Chance, Ölschiefer in Zukunft in großem Stil zur Energiegewinnung heranzuziehen, ist negativ zu bewerten. Wie bei jedem fossilen Rohstoff sind die Vorräte begrenzt. Im übrigen wäre mit der Nutzung ebenfalls ein Kohlendioxidausstoß verbunden, was hinsichtlich des globalen Klimas nicht unproblematisch ist. Ölschiefer stellt an sich einen wichtigen Rohstoff dar, kann aber die anderen fossilen Energieträger keinesfalls ersetzen. Er sollte nach Möglichkeit nicht nur zur Energieerzeugung genutzt werden. Die Verfahren zur Ölschieferverwertung müssen hinsichtlich Rentabilität, Umweltverträglichkeit und eventueller Nebenprodukte weiter optimiert werden. Strom aus Ölschiefer kostet in Estland derzeit in der Erzeugung umgerechnet drei Cent. Dagegen zu bestehen, ist für die erneuerbaren Energien außerordentlich schwer. 


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