© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/04 05. März 2004

Die Philosophie des Leibes
von Heino Bosselmann

Ich würde dir raten", meinte Ulrich, "Diotima den Tip zu geben, daß Gott, aus Gründen, die uns noch unbekannt sind, ein Zeitalter der Körperkultur heraufzuführen scheint; denn das einzige, was den Ideen einigermaßen Halt gibt, ist der Körper, zu dem sie gehören, und dabei hättest du als Offizier überdies einen gewissen Vorsprung." Diese Formulierung aus Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" zeigt an, wie das Thema "Fitneß" schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts unter der Oberfläche brodelte. Die Quelle ist fast immer Nietzsche. In seiner "Genealogie der Moral" entwirft er eine Kulturanthropologie, die Darwins Gedankengut aufnimmt und gegen die europäische Dekadenz einen natürlichen und vitalen Menschen propagiert. Damit wird er zukunftsweisend.

Nietzsche geht von einem durch schlechtes Gewissen zerquälten Menschen aus, der sich, da eine äußere Entladung nicht mehr möglich ist, mit autoaggressiver Wucht nach innen wendet. Man denkt dabei an Sigmund Freuds "Traumdeutung" und an Rilkes Epochengedicht vom "Panther". Der Philosoph erklärt: "Der Mensch, der sich, aus Mangel an äußeren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriß, verfolgte, annagte, aufstörte, mißhandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wundstoßende Tier, das man zähmen will, ( ... ) - dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangene wurde der Erfinder des schlechten Gewissens."

Diese Bestandsaufnahme unterstellt dem modernen Menschen, daß er seine natürlichen Triebe zugunsten einer moralischen Konvention kasteit, verleugnet und - um in freudianischer Begrifflichkeit zu bleiben - verdrängt hat: "Der Mensch hat allzu lange seine natürlichen Hänge mit bösem Blick betrachtet, so daß sie sich in ihm schließlich mit dem bösen Blick verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich - aber wer ist stark genug dazu?"

Gesellschaftspolitisch gesehen sind es zwei Formen des wilhelminischen Zeitalters, denen Nietzsche den Kampf ansagt, zum einen die nationalistisch-imperialistische Kraftmeierei und falsche Opernherrlichkeit, zum anderen die Spießigkeit und kleinbürgerliche Alltagstristesse, die dem Michel noch immer die Schlafmütze aufsetzt. Als Alternative dazu weist Nietzsche den Weg in einen krassen Individualismus, der unter einem verwaisten Himmel und über dem Abgrund des Nichts ausprobiert, was an Leistung und kreativen Entwürfen in ihm steckt. Nietzsches "Gott ist tot!" meint gleichermaßen Schrecken und Chance, Schrecken angesichts der gottverlassenen und säkularisierten Welt, Chance, weil man, wenn der Kapitän von Bord ist, nun selbst die Brücke mutig übernehmen kann.

Die wilhelminische Jugend entdeckt Nietzsche und damit nicht zuletzt ein neues Körperbewußtsein. Der Leib ist nichts Sündiges mehr, sondern eine Art Tempel - vorausgesetzt er erfüllt die ästhetischen Kriterien.

Wegen seines Begriffs vom Übermenschen und eines starken Sendungsbewußtseins ist der Philosoph vor allem von der offiziellen DDR-Philosophie in die geistige Traditionslinie des Nationalsozialismus gestellt worden. Dazu paßt aber nicht, wie Nietzsche gegen Vermassung und Gleichschaltung des Individuums anschreibt. Nicht der Herdenmensch der Nationalsozialisten und Sozialisten, sondern eher schon ein früher Existentialismus des großen einsamen Genies ist festzustellen, das sich im kalten Sternenwind zarathustrischer Einöde schicksalsschwer verfeinert und autonom ausbildet. Nietzsches Ideal ist der große Verneiner, das mit der Welt spielende Kind, der Künstler, dem diese Welt nur noch als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist, der moral- und konventionenbefreite, unkonventionelle Outlaw und Bohemien. Es mag bedenklich genug sein, wenn die Ästhetik die Ethik überholt. Das klingt nicht bloß demokratiefeindlich, sondern ist es tatsächlich, weil Nietzsche in der Demokratie, darin Platon durchaus nah, nie etwas anderes als Pöbel- und Spießerherrschaft sehen konnte.

Ein durchaus nicht marginaler Aspekt seines Werkes betrifft die Begriffe Kraft und Gesundheit. Sie sind inzwischen immer aktueller geworden. Werner Ross hat seine Nietzsche-Biographie "Der ängstliche Adler" betitelt. Es hat tatsächlich etwas Peinliches, wenn ausgerechnet der ständig Kranke und Nervöse sich dem Hochgebirge und den Abhärtungskuren verschreibt. Eher geheim hielt Nietzsche seine vielen Besuche bei Ärzten und eine zeitweise Medikamentenabhängigkeit. Doch wer sollte die Gesundheit besser zu schätzen wissen als ein Kranker oder die Kraft besser als ein Schwacher: "Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt? Und wiederum - wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, sobald wir es machen wie alle Welt und uns gehen lassen wie alle Welt! ... Es bedürfte zu jenem Ziele einer andern Art Geister, die gerade in diesem Zeitalter wahrscheinlich sind: Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfnis geworden ist; es bedürfte dazu der Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne, es bedürfte dazu einer Art sublimer Bosheit selbst, eines letzten selbstgewissesten Mutwillens der Erkenntnis, welcher zur großen Gesundheit gehört, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser großen Gesundheit!"

Nietzsche stellt diese große Gesundheit ganz in den Zusammenhang seiner Philosophie des Übermenschen: "Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts - er muss einst kommen ..."

Zunächst aber läßt sich der Ausdruck "große Gesundheit" durchaus wörtlich verstehen. Als erster stellt Nietzsche fest, daß die Seele des Menschen sein Körper sei. Nach seinem Tod im Jahr 1900 wird der Philosoph von einer gegen wilhelminischen Stumpfsinn sich herausbildenden Jugendbewegung als ihr Apostel auserkoren. Seine Auffassungen inspirieren die geschmackliche Befreiung von Stuck, Plüsch, Plunder und Prüderie mit. Sie führen zum lichten Charakter der Belle epoque, zu Symbolismus und Jugendstil, Ästhetizismus und l'art pour l'art, Lebensreform und Reformpädagogik. Diese Aufbrüche gehen einher mit einem neuen Körperbewußtsein. Sonnen- und Luftbäder, Freikörperkultur und Sexualwissenschaften, die Renaissance der Naturheilkunde und aufkommender Vegetarismus markieren eine tiefgreifende Wende. Zunächst die Gebildeten nehmen daran teil, aber dann auch proletarische Turnvereine meist mit partei-ideologischen Motiven.

Die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts stellten beide das Gesunde in den Mittelpunkt ihrer anthropologischen Auffassung. Gehen die Nationalsozialisten so weit, "lebensunwertes Leben" mittels Euthanasie zu vernichten, führen Behinderte auch im Realsozialismus ein verborgenes Schatten- und Sonderdasein, wobei man Fürsorgeaufgaben gern den sonst beargwöhnten Kirchen überläßt. Favorisiert wird auch hier die Ausrichtung auf das Gesunde. "Wir Jungpioniere halten unseren Körper sauber und gesund!" heißt es in den "Geboten der Jungpioniere" der DDR. Sportfanatisch sind beide totalitaristischen Ideologien nahezu gleichermaßen, so wie auch Sport und Wehrertüchtigung in beiden miteinander stets verbunden werden. Darüber hinaus stellen die "Kinder- und Jugendsportschulen der DDR" Einrichtungen zur Ausbildung einer Sportelite durch Selektion, hartes Training und gezieltes Doping dar.

Das "Zeitalter der Ideologien" ist vorüber - der Körperkult aber entfaltet sich auf individualistischer Grundlage weiter. Eine Grenze ist vorläufig nicht abzusehen. Die "große Gesundheit" schlägt sich paradoxerweise nieder in einem überbordenden Medizinbetrieb und dem allgegenwärtigen Sex- und Jugendwahn. Politisch gibt es daran scheinbar nichts zu kritisieren. Nichts erscheint totalitär, alles freiwillig und im Zuge der Selbstverwirklichung - bis hin zu massenhaften Brustoperationen und künstlichen Befruchtungen.

Schon allein für den Gang ins Büro ist man ausgerüstet, als ob der Berg riefe: Klettverschlüsse, Rucksack, Karabinerhaken, Thermojacken. Equipment ist alles - als ginge es in den Krieg. Kleidung muß atmungsaktiv, wasserabweisend, signalfarbig sein, Sportschuhe sind ein Muß. Dem Handy kommt die Funktion des Funkgerätes zu, mit dem man im Großstadtdschungel Hilfe holt. Dazu paßt der Military-Look. Schon ein Blick in die Morgenzeitung offenbart die allgemeine Leistungsorientierung: Die Kurve des DAX findet sich neben dem Wetterbericht, so daß man auf das Wichtigste eingestimmt ist. Natur genießt man nicht im Sinn des Osterspaziergangs von hohen Gedanken begleitet wie im "Faust", sondern man kämpft sich im Survivaltraining durch sie hindurch. Jeder absolviert seine Trainingseinheiten, um nicht darwinistisch auf der Strecke zu bleiben. Ganz normal, daß Manager morgens um fünf im Central Park joggen und sich nach spätem Feierabend beim stumpfsinnigen, aber kraft- und konditionsintensiven Squash wie die Galeerensträflinge schinden. Vor vierzig Jahren noch galt es als schick, wenn jeder rauchte und schon mittags seinen ersten Longdrink mixte; einst waren Feistheit, Weste, Taschenuhr und Zigarre die Statussymbole des erfolgreichen Unternehmers. Heute absolviert diese Berufsgruppe zur Verbesserung ihrer Teamfähigkeit Bewährungscamps in den Rocky Mountains. Sah man früher jemanden mit Rucksack, so war das ein kauziger Waldmensch, ein Förster oder ein Trichinenbeschauer vom Dorf. Jetzt trägt jeder Yuppie obligatorisch irgendeinen farbaktiven Beutel auf dem Rücken. Fahrräder wurden zu Hightech-Maschinen, mit denen man nicht nur auf der Avenue, sondern auch unter nepalesischen Gefällebedingungen zurechtkommen könnte. Oder ließe sich vor vierzig Jahren ein Broker denken, der mit dem Roller zur Börse kommt?

Das totalitäre Zeitalter ist vorüber, doch der Körperkult entfaltet sich auf individualistischer Grundlage weiter. Die Idealbilder kommen nicht mehr von oben, aber sie gleichen in erstaunlicher Weise ihren Vorgängern.

Gibt es einen subtilen "Rassismus", der vorschreibt, daß ein "Leistungsträger" straight, sexy und fit zu sein hat? Wie idyllisch mutet da in der Rückschau ein Besitzbürgertum an, das zurückgelehnt im Rolls Royce unterwegs war. Marathonwettkämpfe, früher nur etwas für titanische Exoten und Verbissene, sind zu Volksfesten geworden. Und auf den Mount Everest, einst unerreichbar, klimmen die Alpinisten mittlerweile im Gänsemarsch. Wer zur Aufrüstung seines Körpers durch Trainingseinheiten zu alt und mürbe ist, der kompensiert mit Landrover-Autos: entweder ein Marathonherz im eigenen Leibe oder eben einen Zwölfzylinder unter der Motorhaube. Auch die im Medienzeitalter zunehmend degenerierenden Wohlstandskids projizieren ihre Sehnsucht nach Stärke und Fitneß auf körperliche Ideale: Lara Croft und die Helden der Cyberwelt übernehmen die Ästhetik des Faschismus.

Was in amerikanischen Großstadtghettos der 1980er und 1990er Jahre als wütender zynischer Protest entstand, inspirierte mit HipHop, Rave, Graffiti, Skateboard und Underdog-Mode die Jugendkultur Europas. Knasttrainierte Farbige wie der Rapper "2Pac" werden zu Idolen der weißen Kids. Farbige dürfen mit Körperkraft und katzenartiger Eleganz prunken, ohne Verdacht auf sich zu lenken. Da käme keiner mehr auf die Idee, von Nietzsche oder seinen totalitären Erben zu sprechen. Alles verläuft politisch korrekt - doch welcher Geist steckt wirklich dahinter?

Neben der Forderung nach Gesundheit und vitaler Stärke ist es der Gedanke der Askese, den Nietzsche in der "Genealogie" anklingen läßt. Askese kommt dem Priester zu, ist aber unter Nietzsches Blickwinkel Ausdruck der Herrschernatur, indem eigener Leib und sinnliche Bedürfnisse durch Willensstärke überwunden werden. Es kommt dabei auf den Geist an, der Leben bezwingt und so Machtentfaltung gegenüber den Schwächeren ermöglicht.

Auch dieser Ansatz wird in der Kultur des 20. Jahrhunderts fortgeschrieben: Hitler trat als Asket auf. Ebenso gab sich Stalin den Anschein des schlichten Berufsrevolutionärs ("Im Kreml brennt noch Licht!" hieß ein gängiges Festtagsgedicht). Und selbst alle Satrapen des sozialistischen Weltsystems zelebrierten Lebensgenuß und Exzesse nicht offiziell, sondern in einer abgeschirmten Edeldatschenkultur wie Wandlitz. Man vergleiche damit den selbstbewußten Prunk eines Ludwig XIV.

Bei angespannter Wirtschaftslage werden Verzichtbereitschaft und erbgesunde Konstitution wieder Überlebensmittel. Wer kann sich noch leisten, krank zu sein? Wer durchkommen will, muß sich nach Darwin richtig plazieren, auch mittels des körperlichen Durchhaltevermögens. Sonst gibt es keinen Eintritt in eine private Krankenversicherung, die ihre Klientel aufmerksam "selektiert" - nicht nur nach Vermögen, sondern ebenso nach Gesundheitsparametern.

Nietzsche würde das höchstens als "kleine Gesundheit" gelten lassen. Die "große Gesundheit" ist nicht die Erfüllung einer bestehenden Norm, sondern der kreative Überfluß - und der findet sich häufig bei denen, die das System ausspeit. So wie Nietzsche selber Zeit und Ruhe dadurch gefunden hat, daß er noch vor dem 30. Lebensjahr aus gesundheitlichen Gründen in Pension geschickt wurde. Als Hochschullehrer wäre er vermutlich von der Bürokratie aufgefressen worden.

 

Heino Bosselmann ist Lehrer an einem Internatsgymnasium. In JF 50/03 schrieb er zum Thema Vorbilder.

Foto: Albert Janesch, "Wassersport" (Ölgemälde, 1936): Der moderne Mensch definiert sich wesentlich durch Kraft und Geschwindigkeit - quer durch alle Ideologien.


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