© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/04 20. Februar 2004

Masse statt Klasse
Bildung im internationalen Vergleich: Die unterschiedliche Quote von Akademikern in der Bevölkerung gibt wenig Aufschluß über den Qualifikationsstandard
RonaLd Gläser

Seit Jahresbeginn steht die Bildungspolitik hoch im Kurs. "Staunend nimmt die Öffentlichkeit den Tabubruch linker Bildungspolitiker wahr", hieß es zu diesem Thema im DIHK-Magazin. Der Kanzler hat es wieder einmal vorgemacht: Er hat ein Thema aufgegriffen, das seine Regierung seit dem "Pisa-Schock" vor zwei Jahren stiefmütterlich behandelt. Er hat ein einziges Wort gesagt - "Eliteuniversität". Und schon ist die ganze politische Szenerie in heller Aufregung.

Das deutsche Bildungssystem ist geprägt vom Föderalismus. Die Bundesländer haben jeweils eine eigene Gesetzgebung, ihre "Kulturhoheit" ist im Grundgesetz festgeschrieben. Nicht zuletzt deshalb gab es bei der Pisa-Studie ein Süd-Nord-Gefälle.

Edmund Stoiber sagte treffend, daß "die SPD mit Pisa ihr bildungspolitisches Waterloo" erlebt habe. Eine noch jüngere Studie des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr untermauert dies. Beim Vergleich der Bundesländer ergaben sich auffällige Unterschiede bei den Intelligenztestleistungen wehrpflichtiger junger Männer. Neben dem West-Ost-Gefälle existiert ein "kaum weniger starkes Süd-Nord-Gefälle". Wie der Titel der Studie "Verlust von Humankapital in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit" von drei Bundeswehr-Diplompsychologen ahnen läßt, besteht ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und niedrigem Bildungsniveau.

Die Verunsicherung nach dem Pisa-Schock ist groß

Nach 1945 waren es erst die Alliierten, dann die 68er, die den Traum von der "Demokratisierung des deutschen Bildungswesens" träumten. Die Alliierten gaben 1947 Richtlinien für diese "Demokratisierung" heraus. Im Heft 259 der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es über die US-Besatzungszone: "Die Amerikaner propagierten das Modell einer Einheitsschule, in der alle Kinder ohne Unterschied des Geschlechts, der sozialen Herkunft und der Berufsziele die ersten sechs Jahre gemeinsam verbringen sollten, um Gemeinschaftsgefühl und demokratisches Verhalten zu entwickeln. Die höheren Schulen sollten vereinheitlicht, notwendige Differenzierungen nicht durch getrennte Schularten erzielt werden. Kernstück des amerikanischen Reformkatalogs war die Gesamtschule für alle Schulpflichtigen." Der aufziehende Ost-West-Konflikt verhinderte dann die Umsetzung dieser Maßnahmen.

Auch die politische Linke träumte damals schon von einer Zerschlagung des diversifizierten Schulsystems. In der Ausgabe der 05/1950 der Gewerkschaftlichen Monatshefte wird kritisch angemerkt, es sei "doch ein offenes Geheimnis, daß in einer Großstadt mit zahlreichen höheren Schulen immer einige mit ausgesprochen exklusivem Charakter vorhanden sind, in die einzudringen Kindern der arbeitenden Bevölkerung auch heute noch - wo es doch angeblich keine Klassenunterschiede mehr gibt - kaum möglich ist." Es seien Klassen- und Standesinteressen, die die Vertreter des Bürgertums veranlaßten, "durch Statistiken, Gutachten und Denkschriften die Vorzüge des bestehenden und die Nachteile des angestrebten Schulaufbaus zu beweisen."

Zwanzig Jahre später wurde unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit das Leistungsniveau in Deutschlands Schulen und Universität deutlich herabgesetzt. So hieß es 1972 in den Rahmenrichtlinien der SPD-Landesregierung sinngemäß: "Die Überbewertung der Rechtschreibung in Schule und Öffentlichkeit muß korrigiert werden. Die Schule darf Rechtschreibung nicht zum Kriterium für Eignungsbeurteilungen und Versetzungen machen."

In Wirklichkeit meinten die Fürsprecher einer "Gleichheit der Bildungschancen" die Abschaffung eben jener Eliten, denen der Kanzler jetzt nachtrauert. Das traditionelle, dreigliedrige Schulsystem (Grundschule gefolgt von Hauptschule, Realschule oder Gymnasium) sei nämlich "sozial selektiv". Die "Chancengleichheit" müsse gewährleistet sein, hieß es. Gemeint war, daß der schlechte Schüler so lange gefördert wird, bis seine Leistungen denen des guten Schülers gleichen.

Noch heute sollen Schulnoten weggeplant werden

Deswegen propagierten sozialdemokratische Politiker die Gesamtschule als "Jugendschule der Zukunft". Die Bundespolitik mischte sich unter Willy Brandt mit der Bund-Länder-Kommission in die Belange der Länder ein und versuchte, für die "kontinuierliche Beobachtung und Beschreibung der individuellen Lernentwicklung" anstelle von "Selektion und Vergleichsorientierung" zu werben. Mit anderen Worten: Die Schulnoten sollen abgeschafft werden. So zog der Sprecher der Juso-Schüler aus der jüngsten Pisa-Studie folgende Schlußfolgerung: "Anstatt durch schlechte Zensuren die Zukunftschancen lernschwacher Schüler noch weiter zu verschlechtern, setzen sich die Jusos für die konsequente Förderung von lernschwachen Schülern in heterogenen Lerngruppen ein, in denen die Stärkeren die Schwächeren unterstützen. Gleiches gilt für Kinder mit Migrationshintergrund." Dies bedeute vor allem eine Abschaffung der Noten.

Langfristig läßt sich feststellen, daß das Bildungsniveau - allein gemessen am Abschluß - deutlich gestiegen ist. Unter allen Absolventen, hatten 1990 24,4 Prozent einen Hochschulabschluß. 1965 waren es nur 7,5 Prozent. Über einen Realschulabschluß verfügen 36,3 Prozent (1965: 11,9 Prozent). Dafür ist der Hauptschulabschluß (1965: 52,9 Prozent; 1990: 32 Prozent) ebenso rückläufig wie die Kategorie "ohne Abschluß" (1965: 16,8 Prozent; 1990: acht Prozent). Die Fachhochschulreife war 1965 in ihrer jetzigen Form nonexistent. 1990 lag sie bei 9,1 Prozent.

Und wie steht es um die "Eliten"? Bei aller Kritik an der Verschlechterung des Bildungswesens in Deutschland muß festgestellt werden, daß die nackte Anzahl der Akademiker in Deutschland die Wirklichkeit nicht hinreichend darstellt. Denn nur 11,3 Prozent der Deutschen im erwerbsfähigen Alter hatten im Jahr 2000 ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Und das ist im internationalen Vergleich ein erbärmliches Ergebnis, obwohl dieser Wert seit 1993 um zwei Prozent gestiegen ist. Keinen Abschluß hatten 2000 31,4 Prozent, 48,7 Prozent hatten eine Lehre absolviert, und 8,6 Prozent hatten sogar einen Meisterbrief oder waren ausgebildete Techniker. Das Duale System der Berufsausbildung ist im Ausland durchweg anerkannt. Knapp zwei Drittel aller Jugendlichen durchlaufen nach der allgemeinen Schule die Berufsschule und werden gleichzeitig in einem Betrieb ausgebildet. Die Prüfung wird von einer autorisierten Institution (Industrie- und Handelskammer oder Handwerkskammer) abgenommen.

In den USA zum Beispiel sind dagegen zum Beispiel nur einige Monate "training on the job" vorgesehen. Mit einem deutschen Berufsabschluß ist das nicht zu vergleichen. Wer also nach dem Abitur eine Banklehre in Deutschland absolviert hat, ist ähnlich qualifiziert wie ein Absolvent eines amerikanischen College. Die rot-grünen Politikstrategen irren, wenn sie glauben, einzig eine höhere Akademikerquote wäre das bildungspolitische Allheilmittel. "Wir brauchen in Deutschland mehr Fachkräfte und deshalb in Deutschland eine höhere Studierendenquote. Im OECD-Vergleich liegen wir mit 32 Prozent unter dem Durchschnitt von 48 Prozent," warnt Edelgard Bulmahn. Auch der Bundesbildungsministerin ist nicht entgangen, daß das deutsche Schulsystem "auf zentralen Gebieten wie der Lesekompetenz, der Mathematik oder den Naturwissenschaften" nur unterdurchschnittliche Leistungen erbringt. Hier liegt der Hase im Pfeffer - und nicht bei der Zahl der Studierenden. Bemerkenswert ist auch, daß die Ministerin von Studierenden statt von Absolventen spricht, so als wäre der Besuch der Hochschule ohne bestandene Prüfung bereits Qualifikation genug.

Qualifikationen können auf verschiedene Art und Weise erlangt werden. Es muß nicht der Krankenschwester oder dem Kameramann ein akademisches Zertifikat ausgestellt werden. Unbestritten ist die Schweiz wettbewerbsfähig und verfügt über ein solides Bildungswesen. Die Studierendenquote ist aber nur halb so groß wie in Deutschland. Wie sieht es in den anderen Nachbarstaaten aus? In Frankreich gibt es keinen ausgeprägten Föderalismus. Seit den achtziger Jahren haben die Kommunen ein größeres Mitspracherecht. Ähnlich unserem Dualen System teilen sich Arbeitgeber und staatliche Bildungsträger die Berufsausbildung nach der zehnten Klasse. Daneben gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten, weiterhin die Schule zu besuchen: den allgemeinen, den technologischen und den professionellen Abschluß des Lycée. Dadurch wird die allgemeine oder technische Hochschulreife attestiert oder das Techniker-Diplom erworben.

Auch im Vereinigten Königreich teilen sich das nationale Ministerium Erziehung und Beschäftigung (Department for Education and Employment) und die einzelnen Schulen die Macht über die Bildung. Die Schulen genießen eine große Autonomie. Das Ministerium legt nur Minimumstandards fest und weist Gelder zu - an sogenannte Leas (Local Education Authorities) und an einzelne Schulen. Auf die Primary School folgt die Secondary School, an der die Ausbildung bis zum 16. bis 18. Lebensjahr fortgeführt wird. In manchen Kommunen gibt es zudem die Middle School, die zwischen dem achten oder neunten und dem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr besucht wird. Drei A-Levels (bestandene Einzelfachprüfungen) sind in der Regel als Hochschulzugangsberechtigung nötig. Diese Zugangsberechtigung gilt natürlich nur für das entsprechende Fach. Das ist insofern plausibel, als niemand Französisch sprechen können muß, um ein akademisch qualifizierter Chemiker werden zu können. Es ähnelt unserer Fachhochschulreife.

Die Universitäten auf der Insel sind durch eine königliche Gründungsurkunde berechtigt, akademische Abschlüsse zu verleihen. Daneben gibt es noch einhundert weitere akademische Einrichtungen (wie auch in Deutschland): Pädagogische Hochschulen, Kunst- und Musikakademien etc. Die britischen Hochschulen sind berechtigt, sich ihre Studenten selbst auszuwählen oder Aufnahmekriterien festzulegen. Ein Studium ist auch nicht mehr zum Nulltarif zu haben. Die Universitäten ziehen die Gebühren selbständig ein. Die Regierung Blair wäre unlängst fast gescheitert, weil sie eine Gebührenhöhe von maximal 3.000 Pfund festschreiben wollte. Im letzten Wahlkampf hatte die Labour Partei versprochen, die 1997 von ihr eingeführte Jahresgebühr von 1.100 Pfund unangetastet zu lassen.

Die eifrigsten Befürworter von höheren Studiengebühren sind die Eliteuniversitäten wie Cambridge, Oxford oder London School of Economics, die eine eigenen Interessenvertretung, die Russell Group, haben. Sie werden die Höchstgrenze ausschöpfen. Ein großer Vorteil gegenüber den Bildungseinrichtungen auf dem Festland ist die größere Transparenz. Sie ermöglicht Wettbewerb zwischen den Schulen. In einer nationalen Rangliste werden die Ergebnisse der Schüler an den Schulen zusammengestellt. Die Eltern haben die freie Schulwahl und greifen daher auf solche Statistiken zurück. Um die Berufsausbildung ist es weniger gut bestellt.

Ähnlich wenig ausgeprägt ist das Berufsschulsystem Italiens. Etwa 20 Prozent der Schüler, die die Grund- (Scuola elementare) und dann die Mittelschule (Scuola media) absolviert haben, beenden die Schullaufbahn nach nur acht Klassen. Schulpflicht besteht nur bis zum vierzehnten Lebensjahr. Die übergroße Anzahl setzt die schulische Ausbildung an der Berufsfachschule, technischen Oberschulen oder klassischen Gymnasien (liceo) fort. Das Abitur (maturita) erlaubt den Besuch der Universitäten und Hochschulen. Zugangsbeschränkungen gibt es nur im Fach Dentalmedizin. Die Zahl der Studienabbrecher ist gewaltig, die der arbeitslosen Akademiker auch.

Eurostat, das Europäische Statistikamt, hat in einer Langzeitstudie (Labor Force Survey) das Bildungsniveau in einigen europäischen Ländern untersucht. Die Daten lassen einen Vergleich zwischen einzelnen Ländern zu. Im Ergebnis hat das Fraunhofer-Institut in einer Studie den Bildungsstand in Deutschland wie folgt zusammengefaßt: "Das Qualifikationsniveau bewegt sich im Ländervergleich eher auf durchschnittlichem Niveau mit leicht absteigender Tendenz, nicht zuletzt da die anderen Länder aufgeholt bzw. ihre Investitionen in Humankapital ausgeweitet haben."

Selbst die Bundesregierung gibt in aller Offenheit zu, wie sie (und davor die Kohl-Regierung) die Dinge hat schleifen lassen. Schonungslos heißt es auf der vom Bundesbildungsministerium betriebenen Internetseite www.technologischeleistungsfaehigkeit.de  über Hochqualifizierte: "Vor allem im technologisch orientierten Tertiärbereich ist Deutschlands Rückstand größer geworden." Weiter: "Die schwache Neigung, ein 'technikrelevantes' Studium aufzunehmen, ist in Deutschland - trotz vergleichbarer wirtschaftlicher Situation - in den neunziger Jahren schneller gesunken als in fast allen anderen Ländern."

Höhere Akademikerquote soll höheren Bildungsgrad mimen

Das ganze Dilemma rot-grüner Politik kommt schließlich in folgender Analyse zum Ausdruck: "Viele andere Länder haben in absehbarer Zeit eine bessere Ausgangsposition. Sie haben ihr Ausbildungssystem rechtzeitig auf die Erfordernisse der Wissenswirtschaft umgestellt, die jungen Leute dort dürften besser auf die Anforderungen der Wirtschaft hin ausgebildet sein - und sie haben mehr Nachwuchs." Zur Erinnerung: Dies ist keine Darstellung der Oppositionsparteien, sondern "regierungsamtliche" Selbstkritik.

Rot-Grün ist zwar selbstkritisch, aber auch uneinig darüber, wie die Bildungspolitik gestaltet werden muß. In den Ländern machen Sozialdemokraten eine den Sprechblasen des Kanzlers über Eliteförderung entgegengesetzte Politik. So hat der SPD/PDS-Senat die Mittel für Schulen in privater Trägerschaft um sechs bis zwölf Prozent gekürzt. Das Canisius Kolleg in Berlin-Tiergarten muß in Zukunft mit neun Prozent weniger auskommen. Rektor Pater Mertes nahm dazu in einem Brief an die Eltern Stellung: "Im Rahmen der Schulpflicht (...) bringt das Land für jeden Euro, den es für einen Schüler an einer staatlichen Schule ausgibt, nur ca. sechzig Cent für einen Schüler in einer Schule in freier Trägerschaft auf. Mit ihrem Verhalten arbeitet die Berliner Verwaltung intensiv an einer Behinderung der Arbeit der freien Schulen - letztlich nicht nur zu Lasten dieser Schulen, sondern zu Lasten des Landes Berlin."

Es möge sich niemand der Illusion hingeben, demnächst werde alles besser, etwa daß am Tag, an dem Kanzler die erste Elite-Universität feierlich eröffnet, die bildungspolitische Wende vollbracht ist oder daß durch die schiere Präsenz einiger internationaler Koryphäen für Biotechnologie oder Halbleitertechnik die Misere überstanden wäre. Davor warnte kürzlich auch der Präsident des DIHK, Georg Ludwig Braun, der anläßlich einer DIHK-Tagung in Berlin im ZDF auftrat. Deutschland, so Braun, habe in schleichendem Prozeß seine Stellung auf den Weltmärkten verloren, die nur mühsam zurückerobert werden könne. Der Bildungspolitik muß ebenso ein schlechtes Zeugnis ausgestellt werden.

Foto: Schornsteinfegergeselle zündet zur festlichen Lehrlingsfreisprechung im historischen Rathaus von Frankfurt (Oder) zwölf Kerzen an: Ähnlich qualifiziert wie ein Absolvent eines amerikanischen College


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen