© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/04 13. Februar 2004

Die bedrohte Willensfreiheit
von Ulrich Beer

Den Begriff der Freiheit versehen wir gern mit der Präposition "von". Wir lassen uns befreien von fremder Herrschaft, von Tyrannen, vom Ehejoch, von elterlicher Bevormundung, von den Abhängigkeiten der Sucht, vom Streß des Berufs, vom Diktat der Uhr, der Qual einer Krankheit, von Lasten und Zwängen aller nur denkbaren Art. Eben weil es so viele dieser Belastungen und Abhängigkeiten gibt, wird die Befreiung von ihnen bereits als Freiheit empfunden. Dabei befinden wir uns häufig in der Situation des Gefangenen, dessen Zellentür offensteht und der sich deshalb frei wähnt - bis er nach langem Durchirren der Anstaltsschluchten feststellt, daß sich nur Art und Umfang seiner Unfreiheit geändert haben.

Dies hat in der nüchternen Sprache seiner Philosophie Nicolai Hartmann so ausgedrückt, daß Freiheit nicht durch ein "Minus an Determination" verwirklicht werde. Dies überrascht nicht. Überraschend ist aber seine fortführende Gegenthese: Freiheit entstehe aus einem "Plus an Determination". Was ist damit gemeint?

Es gibt keine absolute Freiheit. Unser Handeln ist immer durch Zwänge bestimmt - seien sie äußerer oder innerer Natur. Stets stoßen wir an unsere Grenzen oder werden wir durch eigene Entschlüsse daran gestoßen. Deterministen haben deswegen angenommen, daß wir die Freiheit nur als Schein aufrechterhalten, in Wahrheit aber Gefangene und Getriebene sind.

Gäbe es danach gar keine Chance für die menschliche Freiheit? Es gibt sie, aber gerade umgekehrt, als man es vermuten sollte. Es gibt sie aus dem Umkehrprinzip, nicht aus der schicksalhaften Freiheit, sondern aus der erwählten Freiheit. Diese nennen wir Bindung im Unterschied zu Abhängigkeit, mit der wir unfreiwillige Zwänge und Einengungen unseres freien Handelns und Entscheidens bezeichnen.

Wir differenzieren den oben angeführten Komplex von Freiheiten noch in politische, die durch Macht, und in rechtliche, die durch Recht determiniert sind. Es liegt die Freiheit des Dürfens und Nichtdürfens, bei der politischen sogar nur die des Gezwungen- und Nichtgezwungenseins vor. In diesem blassen Sinn kann man natürlich allem Lebendigen Freiheit zubilligen.

Einen Schritt weiter ins Innere des Problems kommt man, wenn man Freiheit nicht mehr nur versteht als das Tundürfen dessen, was man will, sondern als ein echtes Tunkönnen. Es ist gleich, ob dieses Können - meist Handlungsfreiheit genannt - sich in physischen und technischen Möglichkeiten ausdrückt, entscheidend ist, daß diese Freiheit in der Beschaffenheit, dem absoluten Machtbereich des Subjekts selbst liegt. Der Unterschied zu dem vorher erörterten Freiheitsbegriff wird klar, wenn man sich überlegt, daß man vieles kann, was man nicht darf, und vieles darf, was man nicht kann.

Aber auch diese Freiheit bildet noch nicht das eigentliche Problem. Hinter dem unfreien Handeln kann eine freie höhere Instanz des Subjekts stehen: Wir nennen sie je nach dem Gesichtspunkt den Willen oder das Bewußtsein. Freiheit bedeutet hier nicht mehr, daß man tun kann, was man will, sondern - um mit Fichte zu reden - daß man "wollen kann, was man will". Der erörterte Begriff der Freiheit betrifft ja lediglich die Ausführungen des Willens, nicht aber ihn selbst und seine Entstehung.

Der Philosoph Nicolai Hartmann lehrte, daß Freiheit nicht durch ein Minus an Determination entsteht, sondern aus einem "Plus". Die "Freiheit von" muß sich im Laufe des Lebens entwickeln zu einer "Freiheit zu".

Freiheit in ihrem engeren, eigentlichen und der Philosophie einzig relevanten Sinne kann also nur innere, das heißt Entscheidungs- und Willensfreiheit sein. Sie ist aber im allgemeinen Bewußtsein wie auch in der Geschichte der Philosophie fast ausschließlich als negative verstanden worden. In diesen Teil der Frage gehört auch der Determinismusstreit. Determinismus und Indeterminismus meinen nämlich die negative Freiheit, das nicht restlos Eingeord-netsein des menschlichen Willens in die allgemeine Determination - was der Indeterminismus behauptet, der Determinismus leugnet.

Auch hier sind äußere und innere Freiheit zu unterscheiden. Die äußere wird gebildet durch die Situation, die Möglichkeiten, zwischen denen man sich entscheiden kann. Diesen Aspekt des Ganzen nennen wir Wahlfreiheit. Sie gehört zur Freiheit, aber macht sie nicht aus. Gegen sie kämpft der Determinismus in seiner naturalistisch-mechanistischen Variante, für ihn kann es nicht Möglichkeit geben, wo alles Notwendigkeit ist. Gesetzt, es gäbe diese Möglichkeiten, so könnten sie "mit der Fülle des Daseins", wie Nicolai Hartmann in seiner "Ethik" schreibt, "erst das Material des Willens, der möglichen Entscheidungen" liefern; die Frage nach dem Willen selbst bliebe weiter gestellt.

Freiheit ist, wie gezeigt, in erster Linie innere Freiheit. Das negative Verständnis geht davon aus, daß die objektiven Möglichkeiten bewußt sein müssen, um den Willen, der sich für eine von ihnen entscheidet, frei nennen zu können. Hier wird das Bewußtsein als der Freiheit inhärenter Faktor erkannt. Unbewußtes und damit der Selbstkontrolle Entzogenes liegt natürlich auch außerhalb des Bereichs der Freiheit. So erweist sie sich, was Aloys Müller betont, als eng abhängig von Erkenntnis, also dem Wissen um die Situation.

Schon die Höhe dieses Wissens bestimmt den individuellen Radius der Freiheit. Dieses Wissen ist etwas Psychisches, und so geht der Gedankengang, der mit der Erkenntnis begann, daß Freiheit primär innere Freiheit sein müsse, weiter dahin, daß unter Freiheit zunächst nur Unabhängigkeit des Willens vom Ablauf des inneren Gesche-hens verstanden wird, von dem Kommen und Gehen der Gefühle, Triebe, Motive, Vorstellungen, Einfälle. Gegen diese Konzeption der negativen Freiheit speziell wendet sich die psychologische Lesart des Determinismus.

In der Tat kann bei ihrem rein psychologischen Verständnis der Freiheit nur ein geringer Spielraum bleiben, sie ist nur als aktive zu denken. Der passive Bereich der Wahrnehmung scheidet aus: Ihr Objekt ist außer uns gegeben, Gefühle steigen in uns auf, Triebe werden wach, Motive bewußt, Einfälle kommen uns bzw. eben nicht, auch wenn wir es wollen.

Der Machtbereich des bewußten Ich, der reinen Aktivität ist meist sehr eng, und das Können ist zum Teil nur ein Etwas-dafür-tun-Können. Das Können ist dann nur ein formales Können, wir suchen einen Gedanken, bereiten ihn vor, aber wir können ihn nicht machen, er muß einfallen.

Reiner bezeichnet dies in seinem Buch "Aktivität und Freiheit" als ,Profektion' im Gegensatz zur reinen Aktion, wie sie bei der echten Willensentscheidung vorliegt. Und auch hier ist es ja so, wie wir oben sahen, daß die erkannte Situation das Material liefern muß für eine Willensentscheidung; was Willensentschluß wird, muß zuvor bewußtes Motiv oder erkannte Möglichkeit - richtiger beides zugleich - gewesen sein. Man kann nicht einfach etwas wollen, sondern was man will, ist gegeben, man findet es vor. "Die Aktivität setzt die Passivität voraus" (Reiner). Ein absoluter Indeterminismus, ein "li-berum arbitrium indifferentiae", würde also die Freiheit nicht ermöglichen, sondern verhindern.

In den bisher durchstoßenen Schichten des Freiheitsbegriffes - und das Bild der Schicht anzuwenden, liegt nahe - handelte es sich ausschließlich um negative Freiheit, um Freiheit von Determination. Der Grundzug dieser Freiheit ist, daß sie quantifizierbar ist, daß es ein Mehr oder Weniger an Freiheit gibt. Die Quantifizierbarkeit der Freiheit widerspricht aber ihrem Wesen als einem anthropologischen Faktum. Die Freiheit, die der Mensch hat, besteht nicht darin, daß er mehr hat als das Tier, sondern sie ist eine qualitativ andere. Es muß "Freiheit im positiven Verstande" geben, wie Kant sie nennt, nicht nur Freiheit wovon, sondern Freiheit wozu, wie Fichte und nach ihm Nietzsche formuliert.

Die Beseitigung von Zwang ist noch keine Freiheit, darum mahnt Goethe: "Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich."

Diese Herrschaft über sich selbst, die Selbstbestimmung, mit der man sich selbst bestimmt, das heißt determiniert, ist der Grundzug der positiven Freiheit, der tiefsten Schicht im Begriff der menschlichen Freiheit. Nur daß sie uns niemand zu geben braucht - wir haben sie. Wir wählen die Freiheit nicht, wir sind zu ihr verdammt, sagt Sartre. Wir müssen uns von Augenblick zu Augenblick entscheiden; auch wenn wir es nicht tun, so ist das eine Entscheidung. Die Freiheit ist das Unverlier-bare.

Also nicht das Daß, auch nicht das Was, sondern nur das Wie ist frei. Das freie Wollen ist notwendig bestimmtes Wollen, denn unbestimmtes, ungerich-tetes Wollen ist überhaupt kein Wollen. So ist die positive Freiheit auch keine Ausnahme aus der allgemeinen Determination, sie bedeutet, wie Hartmann sagt, kein Minus, sondern ein "Plus an Determination".

Unter dem positiven Aspekt ist Wahlfreiheit eine Fiktion, denn nach der Wahl ist der Wille bestimmt, vorher ist er kein Wille. Damit ist das letzte psychologisch Faßbare an der Freiheit, nämlich der Wille, in nichts zerstoben.

"Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg", sagt das Sprichwort. Damit wäre der Weg klar - aber was ist ein Wille? Diese Frage beschäftigt Psychologie und Philosophie seit Jahrhunderten. Gibt es einen eigenständigen Willen? Ist der Wille eine oberste Instanz im Menschen, ist er frei, woher nimmt er seine Energie - die Willensenergie?

Bei Kant ist er das einzige, was am Menschen moralisch sein kann, und volkstümlich sagen wir auch bei einem, dem alles schiefgeht: Er hat wenigstens den guten Willen gehabt. Bei Schopenhauer ist der Wille so etwas wie das grundlegende Lebensprinzip, eine in allem wirkende Kraft, die eher Trieb- als Willenscharakter hat: Wir steuern sie nicht - sie steuert uns. Und wenn sie "Wille" sagen, meinen die meisten Entschlußkraft, energischen Vorsatz oder etwas ähnliches. Wir sagen von dem einen, er hat einen starken, vom anderen nur, daß er einen schwachen Willen hat und sich deswegen nicht durchsetzen könne - auch nicht gegen sich selbst.

Weder in der modernen Verhaltenspsychologie noch in der Tiefenpsychologie kommt der Wille als eigene Instanz überhaupt vor.

Wissenschaftlich scheint das unbestreitbare Gefühl der Freiheit nicht erfaßbar zu sein.

In älteren Modellen der Psychologie taucht der Wille als eine eigene Instanz auf - in der neueren sowohl tiefenpsychologischen wie verhaltenspsychologischen Literatur spielt er keine Rolle mehr, zumindest nicht mehr als autonome oder gar oberste Instanz. So sind wir in der Ratlosigkeit um die Bestimmung des menschlichen Willens ziemlich alleingelassen und sozusagen willensschwach geworden.

Aber jeder von uns sagt gelegentlich "Ich will" - heute morgen nur ein Brötchen essen, weil ich abnehmen will, heute nachmittag zu meiner Schwester fahren, vorher noch einen Brief schreiben, heute abend nicht fernsehen, sondern früh ins Bett gehen: Wir erleben uns als frei, indem wir etwas wollen und auch das Gefühl haben, es selbst zu sein, die etwas wollen.

Nach Sigmund Freud haben wir drei Instanzen in uns: das Über-Ich, das Ich und das Es. Das Über-Ich verkörpert das Gewissen, die Normen, die Erziehung, Religion und Moral, Sitte und Brauchtum, also alles, was schon an uns herangetragen wurde und uns meistens in unserer frühen Kindheit geprägt und unseren Eigenwillen überlagert oder unterbaut hat.

Das Ich ist die selbständig entscheidende persönliche Instanz, die bewußt und unter Prüfung sachlicher Gegebenheiten aller Vor- und Nachteile, fremder und eigener Interessen entscheidet und handelt.

Das Es ist die meist unbewußt darunterliegende Sphäre der Triebe und Wünsche, der elementaren und animalischen Impulse und Interessen, aber auch der verdrängten Erinnerungen und Erlebnisse - eine starke, fast vulkanische brodelnde Energie-, aber auch Störungsquelle.

Nach Freud ist der Mensch gesund und harmonisch, in dem diese drei Instanzen zu einer Übereinkunft gelangt sind, aber das Ich die Führung übernommen hat. Es handelt gewissenhaft, aber nicht sklavisch abhängig vom Über-Ich, erst recht nicht vom Es und seinen blinden Impulsen.

Wem diese Harmonie nicht gelingt, der ist zwanghaft an den Vorschriften des Über-Ich angelehnt und von ihnen geleitet. Er hat sozusagen keinen eigenen Willen, sondern handelt fremdbestimmt - im Guten oder im Bösen. Vor allem, wer vom Es bestimmt wird, weil Ich und Es auseinanderfallen oder jedenfalls zeitweise die Herrschaft wechseln, bleibt den triebhaften Impulsen unterworfen, wird süchtig oder verführbar bzw. auch neurotisch gestört, weil es zu einem dauernden Kampf zwischen den nicht vereinbarten und vom Ich gebündelten Instanzen kommt.

Das Ich allein hat allerdings keine Energie und kann gegen die geballte Energie des Es wenig unternehmen. Es bleibt auf die Dauer schwächer, und so kommt es zu Menschen, die wohl triebstark, aber ich-schwach sind und deswegen auch schwerlich willensstark genannt werden können. Willensstark können wir nur jemanden nennen, bei dem das Ich zwar die Führung hat, aber diese Führung die gesamte Energie einsetzen kann.

Erst die positive Freiheit macht möglich, was man seit je als ihren höchsten Ausdruck empfunden hat: Die ethische Freiheit, die Freiheit zum Guten und zum Bösen. Die Determination des Ethischen muß aber von ander Art sein als die der Natur. Sie kann kein Müssen, sondern nur ein Sollen sein. Nach Hegel ist darum der eigentliche Sinn der menschlichen Freiheit, "nicht daß er tun kann, was er will, sondern daß er wollen kann, was er soll."

 

Prof. Dr. Ulrich Beer, Jahrgang 1932, ist Psychologe und Journalist. Einem breiten Publikum bekannt wurde er als sachverständiger Berater der langjährigen Fernsehsendung "Ehen vor Gericht".

Fotos: Fernsehstar Thomas Gottschalk in den Tagen der Wende 1989/90: Autos und Reisen standen für die Bürger der DDR in erster Linie für ein Leben "Marke freie Welt" - viele haben die ersten Enttäuschungen bald hinter sich.


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