© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/04 06. Februar 2004

An Berlin Maß nehmen
Föderalismus braucht ein Zentrum: Warum aus der Hauptstadt eine echte Metropole werden muß
Thorsten Hinz

Der Vorschlag, die Hauptstadtrolle Berlins im Grundgesetz festzuschreiben, hat mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit zwar den falschen Boten erwischt, doch in der Sache ist er richtig. Allerdings werden die Widerstände enorm sein. Schon die Planspiele, das Bundeskriminalamt (BKA) an die Spree zu verfrachten und hier eine "Elite-Universität" zu installieren, haben einen Entrüstungssturm ausgelöst. Vom "Zentralisierungswahn" sprach CSU-Generalsekretär Markus Söder. Roland Koch (CDU) sorgte sich um "das ausgewogene System von Bundesbehörden in den einzelnen Ländern". Der baden-württembergische Wirtschaftsminister Walter Döring (FDP) meinte, solche Vorschläge seien nur dazu da, "davon abzulenken, daß die Hauptstadt selber nichts zustande bringt". Und der grüne NRW-Minister Michael Vesper mahnte: "Deutschlands Kraft beruht auf der Kraft der Bundesländer."

Welche Kraft ? Deutschland befindet sich im freien Fall. Was können Bremen, Hannover, Kiel, Magdeburg, Mainz, Potsdam, Saarbrücken oder Schwerin dem entgegensetzen? Nein, die parteiübergreifenden Äußerungen zeugen vom Länderegoismus - der normal ist -, von der persönlichen Zukunftsangst der Politiker, die um die eigenen Pfründe fürchten - das ist schäbig - und schließlich von einer fast tiefenspsychologischen Furcht vor dem "Moloch" Berlin, der die Gewißheit entgegengehalten wird, der Bonner Föderalismus habe sich bewährt. Diese Haltung ist reaktionär.

Ja, Deutschland hat seine partikularen Traditionen, aber von Mystifikationen muß man sich verabschieden. Das Deutsche Kaiserreich war offiziell ein Zusammenschluß gleichberechtigter Bundesfürsten, doch faktisch war Preußen die Hegemonialmacht. Der preußische Ministerpräsident war in Personalunion Reichkanzler, die preußischen Ministerien wurden zu Reichsämtern. Die süddeutschen Länder durften sich ein paar Extrawürste braten, Steuern erheben, Briefmarken drucken, Gesandtschaften unterhalten. Das war Folklore, mehr nicht. Bayern hatte im Auswärtigen Ausschuß des Bundesrats den Vorsitz inne, doch der sprunghaften Außenpolitik Wilhelm II. hat es nichts entegegengesetzt. Im Ersten Weltkrieg wurde das Reich endgültig zum Faktum. Preußens Macht verlagerte sich auf die Reichsinstanzen, 1932 wurde es sogar vom Reich kassiert.

Die Bundesrepublik Deutschland, so die andere Fama, sei die Schöpfung und der Zusammenschluß der "Länder". Die Wahrheit ist: Deutschland war damals ein besetztes Gebiet. Die Länder waren Verwaltungseinheiten, die von den Alliierten zum Teil übernommen, zum Teil neu zusammengesetzt wurden. Auf ihren Befehl hin wurde dann ein "Bundesstaat" ausgerufen. Die Länder, die heute neben und außerhalb des Bundes ein Minimum an Eigengewicht aufweisen, kann man an einer Hand abzählen. Die anderen hängen am Tropf des Bundes und leisten sich trotzdem Staatskanzleien, Landtage, Landesvertretungen: alles Verfassungsfolklore, so teuer wie unergiebig! Mit ihr läßt sich kaum etwas gestalten, aber viel blockieren. So wird das Land in ein Tollhaus verwandelt.

Aber die kulturelle Vielfalt! Und schon kommen die großen Namen: Bayreuth, Weimar, Schulpforta, Maulbronn usw. usf. Und die berühmten Universitäten! Doch das ist meistens Vergangenheit, die Gegenwart heißt "Pisa-Katastrophe". Vielleicht läßt sich an manche große Traditionen wieder anknüpfen, doch ob der Föderalismus da weiterhilft, das ist fraglich. Die Universitäten in Rostock und Greifswald sind über 500 Jahre alt. Ihr Pech ist, daß sie sich in Mecklenburg-Vorpommern, dem ärmsten aller Bundesländer, befinden. Ihre einzige Chance ist die Finanzierung durch den Bund - nämlich durch "Berlin"!

Man verabschiede sich auch von dem Märchen, die deutsche Dezentralisierung sei historisch ein Segen gewesen, die Dominanz Berlins aber hätte den Polizeistaat bedeutet. Man lese Büchners "Hessischen Landboten", die Werke von Schubart, Schiller (über Württemberg) und Fritz Reuter (über Mecklenburg), man bedenke die Vertreibung der "Göttinger Sieben" aus Hannover, und man erkennt schnell, daß diese Idylle vor allem muffig waren.

Gottfried Benn stellte 1955 in einer Rede dar, daß die kulturelle Bedeutung der Provinzmetropolen einst mit dem Wohlergehen Berlins dialektisch verknüpft war. "Wir sehen jetzt drüben Provinzmetropolen mit Lokalgrößen, Theater- und Rundfunk-Konglomerate mit Cliquenkonkurrenzen, Akademien, die sich Aufgaben suchen, die aber nicht da sind - es fehlt der Blick auf das Regulativ, und das war Berlin. Es fehlt der Blick auf etwas, an dem man Maß nehmen konnte, aus dem man sich Impulse holte, vor allem etwas, vor dem man sich genieren konnte. Jetzt zelebriert jeder seine Messe ..."

Die Summe der föderalen Kulturpolitik - das sind heute die ARD und das ZDF. In Mainz sitzt der wahre Moloch, der mit immer mehr Geld immer schlechtere Programme produziert. Genieren muß er sich nicht im geringsten, weil ein im übrigen unerheblicher Landesfürst (von Rheinland-Pfalz) die schützende Hand über ihn hält. Und das heißt dann: ein "ausgewogenes System von Bundesbehörden". Der Ausnahmefilm "Das Wunder von Bern" hat gezeigt, daß es in Deutschland weder an interessanten Stoffen noch an guten Regisseuren und Schauspielern mangelt. Das Elend der deutschen Filmindustrie liegt wesentlich in dem begründet, was euphemistisch die "Kulturhoheit der Länder" heißt. "Das ganze Paket ist abgelehnt worden vom HR, BR, WDR, SWR, ZDF, FFA, FFF", beschrieb der hochbegabte Filmemacher Romuald Karmakar ("Der Totmacher") in einem Interview den Leidensweg durch die Instanzen auf der Suche nach Geldgebern.

In der Hand der demokratischen Duodezfürsten wird Kultur zum Marketing und zur Strukturförderung. In den neunziger Jahren schossen die Musicaltheater aus dem Boden. "Das Versprechen war dabei immer, ob explizit oder implizit, 'ein Stück Broadway' nach Bochum, Stuttgart, Gelsenkirchen, Duisburg oder Bremen zu holen" (D. Kiecol). Daß dieses Versprechen lächerlich war, fiel mangels einer echten Metropole mit ihrer relativierenden Wirkung nicht weiter auf.

Die Kultur kann es sich bequem machen. Auch für die Politiker, zumal wenn sie sich in der Opposition befinden, hat die "ausgewogene Bundesstaatlichkeit" etwas Bequemes. Anstatt im Bundestag die Konfrontation zu suchen, an ihr zu wachsen, sonnt man sich im Glanz der Landesherrlichkeit, verteidigt die heimischen Häuslebauer, Betriebswagenfahrer und Betreiber heimischer Hühner-Batterien. Nur zum Staatsmann reift man darüber nicht. Sowohl politisch als auch kulturell spricht also viel dafür, das Experiment einer Metropole in Berlin zu wagen.


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