© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/04 06. Februar 2004

Europa wird Hilfspolizist bleiben
Außenpolitik: EU-Außenkommissar Chris Patten träumt von einem größeren weltpolitischen Einfluß der EU / Schwächung durch Uneinigkeit
Alexander Griesbach

Die Frage sei nicht, wie die EU ihre Position in der Uno stärken, sondern was Europa dazu beitragen könne, die Uno zu reformieren, erklärte Christopher Patten, seit 1999 EU-Außenkommissar, vor kurzem in einem Interview mit der Berliner Tageszeitung Die Welt.

"Wir müssen neue Formen der Zusammenarbeit finden", fügte Patten hinzu, "bei der humanitären Hilfe, bei Menschenrechten, in Fragen der Sicherheit." Effektiver Multilateralismus lasse sich am besten im Rahmen der Uno umsetzen. Innerhalb der konservativen Partei Großbritanniens gilt der als "Europäer" dem linken Flügel zugerechnete Patten eher als Außenseiter. Einen Knacks erhielt seine bis dahin glänzende Parteikarriere durch einen Streit mit der EU-skeptischen Premierministerin Margaret Thatcher. Nachhaltig unbeliebt machte sich Patten auch bei den chinesischen Kommunisten. Als letzter Gouverneur der britischen Kronkolonie Hongkong (1992-1997) versuchte Patten, das lokale demokratische Selbstbestimmungsrecht auszuweiten, und erntete dafür massive Kritik seitens der Volksrepublik China. 

Auffällig ist der Wirklichkeitsverlust, der Pattens fromme Wünsche im Hinblick auf eine Erweiterung des Einflusses der EU kennzeichnet. So beunruhigt ihn beispielsweise weniger der immer größer werdende militärtechnologische Abstand zwischen den USA und Europa, sondern vielmehr das angeblich "immer steiler werdende Gefälle im Bildungsniveau" zwischen den beiden Kontinenten. Pattens Wahrnehmung scheint blind für die beiden Grundkonstanten gegenwärtiger Politik zu sein, nämlich die Weltherrschaft der USA und die Bedrohung, die von einer unkontrollierten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ausgeht. Die USA setzen aufgrund ihrer militärischen und politischen Stärke die Normen und Standards der internationalen Gemeinschaft. Der EU bleibt vor diesem Hintergrund keine andere Rolle als die des "Hilfspolizisten". Wie in dieser Situation ein "effektiver Multilateralismus" realisiert werden könnte, darüber ist von Patten bezeichnenderweise nichts brauchbares zu hören. Die "Pax Americana" hat nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA zu einem Paradigmenwechsel geführt, dessen Konsequenzen in Europa immer noch nicht begriffen werden.

Die einzige Weltmacht fürchtet, zum Ziel weiterer Terroranschläge zu werden, die unvorstellbare Ausmaße annehmen könnten. Die Befürchtung hat sich inzwischen zu einem regelrechten Verfolgungswahn entwickelt. Hier liegt wohl auch der tiefste Grund für den immer weniger Widerstand duldenden Unilateralismus der USA. Der 11. September bedeutet das vorläufige Ende der europäischen Hoffnungen auf ein internationales System, das auf Verträgen und verbindlichen Regeln fußt. Die USA lösen ihre Probleme seit dem 11. September auf ihre Art. Hierin liegt die eigentliche Zäsur. Politromantiker wie Patten, der in seiner Zeit als EU-Kommissar vor allem gelernt hat, Probleme in langwierigen Verhandlungen auszusitzen, haben nicht registriert, daß die Politik der USA inzwischen für das Gegenteil dessen steht, was sie für Politik halten: nämlich für schnelle, ja handstreichartige Lösungen.

"Multilateral" sind diese Lösungen nur insoweit, als sich jeder Staat selbst entscheiden kann, ob er die USA von Fall zu Fall unterstützt oder eben nicht. Die Zeit der liberalen Politromantiker, deren Denken sich um Werte und Ideen dreht, ist damit vorerst vorbei.

Schaut man allerdings auf die Verlautbarungen europäischer Spitzenpolitiker, dann muß man den Eindruck gewinnen, daß sie diese Zäsur noch gar nicht bemerkt haben. Die in West Point angekündigte und in der nationalen Sicherheitsdoktrin der USA formulierte neue Doktrin der "vorbeugenden" Krisenentsorgung und des "Regimewechsels" in unliebsamen Staaten sind Indizien eines Gestaltungswillens ("Neue Weltordnung"), der sich aktuell mehr und mehr auf eine Neuordnung des Größeren

Mittleren Ostens richtet (siehe JF 4/04). Das Interesse an Ressourcen (Erdöl) spielt in diesem Zusammenhang zwar eine Rolle, ist aber nicht das entscheidende Motiv für diese Orientierung.

Für Europa lautet die Frage, ob und inwieweit es sich den geostrategischen Zielen der USA entziehen kann bzw. will. Die tiefgreifenden Differenzen im Vorfeld des Irak-Krieges lassen eher vermuten, daß beide Kontinente langsam auseinanderdriften werden. Dieses Auseinanderdriften ist auch eine Folge der geostrategischen Maximen der USA, die im wesentlichen auf fünf Säulen ruhen:

- auf der Verhinderung möglicher Rivalen,

- auf der vorbeugende Beseitigung von Krisen,

- auf der Einschränkung der Souveränität von Staaten, die den USA auf irgendwelchen Gründen mißliebig geworden sind (sogenannte Schurkenstaaten),

- auf der Mißachtung internationaler Vereinbarungen

- und dem daraus abgeleiteten Recht zur alleinigen Krisenintervention, wenn es die USA "im Interesse ihrer Sicherheit" für richtig hält.

Diese Maximen haben neoimperiale Züge, die den multilateralen Visionen von EU-Romantikern diametral entgegenstehen. In den USA bestehen hinsichtlich dieser Maximen nur dann Differenzen, wenn es um deren konkrete Umsetzung geht. Die einen (etwa die

"Neokonservativen" um US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld) setzen auf Alleingänge, die anderen (etwa US-Außenminister Colin Powell und Teile der oppositionellen US-Demokraten) warnen davor, daß sich die USA isolieren könnten ("lonely superpower").

Daß sich die Europäer auf "europäische Interessen" einigen und eine gemeinsame Geostrategie formulieren könnten, kann vor dem Hintergrund einer demnächst auf 25 Staaten erweiterten Europäischen Union als ausgeschlossen betrachtet werden.

Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang nur an den Bruch zwischen dem "Alten Europa" (Gegner des Irak-Kriegs) und "Neuen Europa" (Befürworter des Irak-Kriegs), den der konservative US-Präsident George W. Bush und vor allem der sozialdemokratische britische Premierminister Tony Blair herbeigeführt haben. Blair und andere US-"Pudel" (so ein Bonmot der britischen Presse) wie der spanische Ministerpräsident José María Aznar und sein italienischer Amtskollege Silvio Berlusconi sind die Gewähr für das US-Imperium, daß von der EU auch in Zukunft keine Eigenwille ausgehen wird. Und mit dem Beitritt von Polen und anderen "neuen Europäern" am 1. Mai 2004 wird der US-Einfluß noch weiter zunehmen - und dabei ist es gleichgültig, ob in Warschau eine "linke" (wie derzeit) oder "rechte" Regierung amtiert.

Und sollte ab 2006 in Berlin die Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Außenamtschef Friedbert Pflüger heißen, dann stehen die "alten Europäer" in Paris und Brüssel ziemlich einsam da.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen