© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/04 06. Februar 2004

Erst am Beginn der Krise
Die Regierung verschleiert Ursachen und Wirkungen der dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit
Bernd-Thomas Ramb

Die Massenarbeitslosigkeit ist und bleibt die gesellschaftspolitische Seuche des 21. Jahrhunderts. Seit mehr als zehn Jahren schwankt die Zahl der amtlich ermittelten Arbeitssuchenden zwischen 4,5 und 5,5 Millionen Menschen. Die jüngste Erhebung für den Januar 2004 beziffert sie auf 4,55 Millionen. Stolz vermelden die staatlichen Statistiker: Das wären zwar 230.000 mehr als im vorangegangenen Dezember, aber 70.000 weniger als im Vergleichsmonat des Vorjahres. Nur am Rande wird dabei erwähnt, daß 80.000 Arbeitslose nicht mehr erfaßt sind, weil die statistische Abgrenzung geändert wurde. Die Berufswechsler, die in sogenannten "Trainingsmaßnahmen" stehen, ehemals Umschüler genannt, zählen ab sofort nicht mehr als Arbeitslose. Zudem wird die Zahl der offiziell anerkannten Arbeitslosen nach unten gedrückt, weil die örtlichen Arbeitsämter schärfer beurteilen, ob ein Arbeitssuchender ihrer Meinung nach tatsächlich noch vermittelt werden will oder nicht.

Die Januarzahl der Arbeitslosen ist demnach auch im Jahresvergleich effektiv gestiegen. Die amtliche Statistik entlarvt sich aber nicht nur als statistische Lüge, weil die Regierungspropaganda zu verschleiern sucht, was tatsächlich gemessen wird. Es können auch nicht alle Arbeitslosen behördlich erfaßt werden, vor allem nicht die als steigend geschätzte Anzahl der Beschäftigungslosen, die es aufgegeben haben, über die staatliche Vermittlungsbehörde mit dem modernistischen Namen "Bundesagentur für Arbeit" einen Arbeitsplatz zu finden, oder die es überhaupt aufgegeben haben, nochmals in ihrem Leben einen sogenannten "ordentlichen Beruf" auszuüben, obwohl sie es könnten und wollen.

Die tatsächliche Arbeitslosigkeit bleibt somit nicht nur auf dem hohen Niveau bestehen, sondern zeigt deutliche Anstiegstendenz. Statistische Schönfärberei hilft da ebensowenig wie regierungsamtlicher Optimismus. Die Bundesregierung prognostiziert in ihrem Jahreswirtschaftsbericht 2004 in ihrer üblichen Methodik des rosigroten Blicks in die Zukunft ein diesjähriges Wirtschaftswachstum von 1,5 bis 2 Prozent. Der Wirtschaftsminister bleibt aber immerhin so realistisch, deshalb kaum Erholungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten. Langfristig überwiegt jedoch auch bei ihm das Prinzip Hoffnung, daß "aufgrund der Arbeitsmarktreformen und später auch zunehmend infolge der konjunkturellen Belebung" die Zahl der Arbeitslosen 2004 um bis zu 100.000 unter dem Durchschnitt des Jahres 2003 liegt.

Mehr als die Blauäugigkeit der Regierungsargumentation erschreckt die Dimension der Zahlen. Eine Verringerung um 100.000 beträfe bestenfalls zwei Prozent der Beschäftigungssuchenden. Da war doch einmal von einer Halbierung der Arbeitslosenzahl die Rede. Offensichtlich hat die Regierung endlich erkannt, daß die Massenarbeitslosigkeit tiefer greifende Ursachen hat. Die bloße Reform der Arbeitslosenverwaltung hilft da wenig. Auch das ständige Schielen auf den Konjunkturaufschwung nervt mit der allgemein zunehmenden Erkenntnis, daß die Wirtschaftskonjunktur weder alleiniger Grund noch absolutes Allheilmittel zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit ist.

Die Bundesregierung setzt laut Wirtschaftsbericht auf die Wachstumskarte: "Wachstum ist die Voraussetzung für mehr Beschäftigung. Es gilt aber auch: Mehr Beschäftigung schafft mehr Einkommen und damit wiederum mehr Wachstum." Diese Einsicht kommt der philosophischen Frage nahe, ob zuerst das Huhn da war oder das Ei. Gleichwohl weiß das Haus Clement aber auch, daß die Wachstumsschwäche der Jahre 2001 bis 2003 mehr als nur ein konjunkturelles Phänomen war und die längerfristige Wachstumsentwicklung in Deutschland "Anlaß zur Besorgnis" gibt. Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten sind von 2,8 Prozent in den siebziger Jahren und 2,3 Prozent in den achtziger Jahren auf nur noch 1,6 Prozent in den neunziger Jahren gefallen.

Die Lösung dieser Problematik wird in einer "gemeinsam mit Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften ins Leben gerufenen Initiative 'Partner für Innovation'" gesehen. Will heißen, einer Mischung aus Entlastungen bei Steuern und Abgaben, Arbeitsmarktreformen und Innovationsförderung. Klar dürfte der Regierung sein, daß Deutschland dabei zunehmend im internationalen Wettbewerb - auch und besonders auf dem Arbeitsmarkt - steht. Das muß zu einschneidenderen Konsequenzen als den bisher halbherzig erfolgten Reformansätzen führen. In der Steuerpolitik tritt Deutschland beispielsweise mit einer Unternehmenssteuerquote von 40 Prozent in Konkurrenz zu Irland, das sich mit 12,3 Prozent begnügt.

Das deutsche Lohnniveau, auf das nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Regierung durch die Festlegung der Lohnnebenkosten einen erheblichen Einfluß hat, übersteigt das anderer, vor allem der osteuropäischen Staaten beträchtlich. In Deutschland sind nicht nur aus Unternehmersicht die Arbeitsplätze schlicht zu teuer und die Gewinnaussichten illusorisch geworden. Die Abwanderung deutscher Firmen in andere Länder oder der Import preiswerter ausländischer Arbeitskräfte ist zwangsläufig und kaum von heute auf morgen abzustellen - selbst wenn die Regierung dazu willens und in der Lage wäre.

Die langfristigen Aussichten für den deutschen Arbeitsmarkt sind daher trübe. Helfen könnten kurzfristig drastisch sinkende Bruttolöhne. Dabei ließe sich ein Durchschlagen auf die Nettolöhne kaum vermeiden, selbst wenn die Lohnnebenkosten vollständig abgebaut würden. Die Verringerung der staatlichen Sozialabgaben hat zur Folge, daß die Vorsorge für Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflege und Alter verstärkt - im Grenzfall vollständig - dem Einzelnen überlassen wird. Ein Großteil der Bevölkerung dürfte damit sicher zunächst nicht nur finanziell überfordert sein. Zu befürchten ist jedoch, daß daran langfristig kein Weg vorbeiführt.

Eine andauernd hohe Arbeitslosigkeit kann ein Staatswesen nur auf niedrigstem Versorgungsniveau verkraften. Das historische Beispiel des römischen Reichs belegt die Konsequenzen. Brot und Spiele gilt es dem Volk zu bieten. Die Versorgung breiter Bevölkerungsschichten, insbesondere der Rentner, mit Niedrigeinkommen ist beispielsweise in Großbritannien bereits realisiert. Ersatz für den Circus Maximus oder das Colosseum bieten die sich an Primitivität gegenseitig überbietenden Fernsehunterhaltungsserien. Die Ansätze sind also erkennbar, die Folgen weniger. Das dekadente alte Rom wurde von den Barbaren überrannt. Wer deren Rolle in der Zukunft übernehmen wird, darüber darf spekuliert werden.


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