© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/04 30. Januar 2004

"Rauchen können Sie auch zu Hause"
Wer nicht krank ist, braucht auch nicht krankgeschrieben zu werden: Sparmaßnahmen in der Psychiatrie und ihre möglichen Folgen
Angelika Willig

Was der "Marsch durch die Institutionen" der 68er nicht schaffte, besorgen fast unbemerkt die Kürzungen. Wer erinnert sich noch an die "Patientenkollektive" (Pk), die im Zuge der "Randgruppenstrategie" gegründet wurden, um die psychiatrischen Kliniken mit ihrer Psychopharmaka-Behandlung abzuschaffen und sich künftig selbst zu heilen - kollektiv und kritisch. Die "Antipsychiatrie" wie sich diese Richtung nannte, stülpt das Konzept der "Resozialisierung", wie es an Strafgefangenen, Heimkindern oder Körperbehinderten entwickelt worden war, den "Verrückten" über. Auch sie, hieß es, seien "Opfer der Gesellschaft" und würden in den Anstalten bloß "weggesperrt" und "niedergespritzt" oder gar "fixiert", also als Wohlstandsabfall gedankenlos entsorgt, statt daß man sich Gedanken um seine Vermeidung machte.

Der Aufstieg vom apathischen Pillenschlucker zur revolutionären Heldengestalt machte manchen Betroffenen so viel Spaß, daß ihre Leistungsfähigkeit sprunghaft anstieg. In Italien gelang es tatsächlich, eine Welle von Entlassungen auszulösen. Leider erwiesen sich die Befreiten im Alltag als so anstrengend, daß die von Angehörigen verabreichten Medikamentengaben schnell das Format von Klinikpackungen erreichten. Im Grunde, so fanden viele, ist ein Irrer nur schlafend erträglich, und schlafen tut er - auch nachts - nur mit der entsprechenden Neuroleptika-Dosis.

Umsonst war das mutige Experiment trotzdem nicht. Nun wissen wir wenigstens, was auf uns zukommt, wenn die Klinikbetten in der Psychiatrie zwecks Kostensenkung drastisch abgebaut werden. Dieser Prozeß ist schon im Gange. Und noch wichtiger: Wir wissen, mit welcher Ideologie die Sparmaßnahmen zu unterlegen sind, um das ganze menschlich abzufedern. Bei einer gestrichenen Zahnbehandlung ist das erheblich schwieriger.

Auch Alkohol bessert die Stimmung durchschlagend

In der "Antipsychiatrie" gibt es einen radikalen und einen gemäßigten Zweig. Die Gemäßigten gehen davon aus, daß Psychiatrisierte tatsächlich krank sind und eine Behandlung brauchen, allerdings führen sie die Ursache eher auf Elternhaus und soziales Milieu zurück, während die "biologische Psychiatrie" von einem entscheidenden genetischen Faktor ausgeht. Beide sind für eine durchgreifende Kostensenkung nicht zu gebrauchen; sowohl Gesellschaftsveränderung als auch Eugenik greifen nicht bis zur nächsten Legislaturperiode. Hilfreich ist hingegen der Rückgriff auf die Antipsychiatrie im engeren Sinne. Hier wird die Existenz von Geisteskrankheiten glattweg bestritten. Im Darm, in der Lunge, am Herzen, überall können Krankheiten entstehen, nur im Gehirn nicht. Dieses sentimentale Credo schmiegt sich wunderbar an die ökonomischen Interessen von Sozial- und Krankenkassen. Wer nicht krank ist, kann auch nicht krankgeschrieben werden, braucht keine Frührente, keine Kur und keine ärztliche Behandlung. Wenn ein Gutteil der Obdachlosen psychiatrisch vorbelastet ist, dann sind es die, die sich frühzeitig vom medizinischen Apparat emanzipierten. Die Angepaßten, die trübselig in den Wartezimmern der Psychiater hocken, sollten sich daran ein Beispiel nehmen. Alkohol wirkt auch stimmungsaufhellend und schlafanstoßend, ohne die Pharmakonzerne reich zu machen.

Im fortgeschrittenen Schweden laufen bereits viele Irre in den Straßen umher und verbreiten Phantasie und Spontaneität. Böse Zungen behaupten, daß dem Attentäter, der die Außenministerin Anna Lindh erstach, kurz zuvor die Aufnahme in eine psychiatrische Klinik verweigert worden war. In Wirklichkeit handelte es sich um ein ganz normales politisches Motiv. Man hatte dem Angeklagten seine an Alzheimer erkrankte Mutter zur Pflege aufgehalst, wofür er sich an den Politikern rächen wollte.

Mit dem neuen Betreuungsgesetz ist auch in Deutschland ein großer Schritt vorwärts getan. Ab jetzt können sogar "selbstgefährdende" oder "fremdgefährdende" Patienten, die bisher einer Zwangseinweisung kaum entkommen konnten, zu Hause - und damit viel billiger - behandelt werden. Die Angehörigen müssen sich nur verpflichten, auf pünktliche Medikamenteneinnahme zu achten. Was war das auch für ein Luxus, ein Klinikbett und drei Mahlzeiten am Tag plus Beschäftigungstherapie, nur um monatelang herumzusitzen und eine Zigarette nach der anderen zu rauchen.

Der Psychiatriekritiker entpuppt sich als Neoliberaler

Die antipsychiatrischen Klassiker Ronald D. Laing und David Cooper hatten immer wieder darauf hingewiesen, wie sogenannte Geisteskranke auf ihre Umgebung einen wohltätigen Einfluß ausüben, indem sie hergebrachte Verhaltensmuster aufbrechen. In vormodernen Zeiten, so erklärt Michel Foucault in "Wahnsinn und Gesellschaft", hatte man der "dämonischen Besessenheit" sogar heilige Züge verliehen. Wir können es uns also gar nicht leisten, Psychotiker stationär zu behandeln, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch weil wir sie spirituell draußen dringend brauchen.

Allerdings gibt es auch Spielverderber. Beim "Foucault-Tribunal" wurde vor einigen Jahren in der Berliner Volksbühne der Psychiatrie ganz theatralisch der Prozeß gemacht. Als prominentester Mitwirkender kam Thomas Szasz aus den USA angereist. Bereits in den siebziger Jahren durch sein Buch "Die Fabrikation des Wahnsinns" bekannt geworden, gehört der Psychiater zu den härtesten Kritikern seiner Zunft. Auch für ihn sind psychische Krankheiten ein reiner Mythos. Doch der Auftritt von Szasz geriet außer Kontrolle. Erst entpuppte er sich als Mitglied von Scientology, dann - noch schlimmer - als Neoliberaler. Er verspricht sich keine revolutionären Potentiale von seinen Patienten, sondern im Gegenteil: Wer sich nicht anpaßt, muß die Folgen tragen. Krankheit als Ausrede für abweichendes Verhalten gibt es nicht mehr und keinerlei Verpflichtung zum Verständnis.

Noch immer argumentiert der Bund der Psychiatrie-Erfahrenen (BPE), als ob es ein Zuviel an Behandlung gebe. Dabei hat sich der Wind längst gedreht. In Kürze wird eine Patienten-Lobby daran gemessen werden, wie viele zusätzliche Klinikplätze und wie viele neue Rezepte sie für ihre Klientel erkämpft. Schon übersteigt der tägliche Bedarf chronisch Kranker das Budget, und Nervenärzte müssen billigere Präparate verschreiben, auch wenn diese mehr Nebenwirkungen haben.

Es muß nicht gleich Blut fließen wie beim Berliner "U-Bahn-Schubser", der ebenfalls vorher in der Klinik abgewiesen worden sein soll. "Da hat mir mein Gehirn einen Streich gespielt", erklärte er hinterher. Ob man das nun Streich oder Krankheit nennt, das Opfer sitzt jedenfalls im Rollstuhl.


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