© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/04 23. Januar 2004

Kolumne
Hilflosigkeit
Klaus Motschmann

Die Diagnose einer schweren Krankheit verliert für den Patienten ihren Schrecken, wenn ihm mit der Diagnose mitgeteilt wird, daß es zuverlässige Methoden der Therapie gibt und genügend Ärzte, die sie beherrschen. Anders verhält es sich dann, wenn es zwar eine klare Diagnose gibt, aber keine erfolgversprechenden Therapien, so daß die Ärzte zwar dies und jenes, oft sehr Widersprüchliches versuchen, um die gewünschte Heilung zu erreichen, letztlich aber doch ihre Hilflosigkeit eingestehen müssen. Wohl niemand wird einem Arzt deshalb Unfähigkeit unterstellen und ihm Vorwürfe machen; ganz gewiß aber dann, wenn er seine Hilflosigkeit durch einen naßforschen Aktivismus zu kaschieren versucht, der dem Patienten kurzfristig Linderung seines Leidens und damit Hoffnung auf Genesung verschafft. Dies muß längerfristig zu schweren Enttäuschungen führen, weil der Patient über seinen tatsächlichen Gesundheitszustand getäuscht wurde. Resignation, Verzweiflung und Apathie greifen um sich. Damit eröffnen sich ungeahnte Chancen für alle möglichen Wunderheiler, Medizinmänner und Scharlatane aller Art.

Sie treiben die allgemeine Verwirrung der Gemüter nur voran und erzeugen ein Meinungsklima, das vor allem die eigenen Interessen begünstigt. Trotz aller gebotenen Vorsicht bei Vergleichen können diese Erfahrungen der individuellen "Alltagspsychologie" auf die allgemeine Massenspychologie bezogen werden. Hier wie dort gilt das bedenkenswerte Wort Friedrich Nietzsches: "Der Mensch erträgt (fast) jedes wie, wenn er weiß warum". Es kommt also nicht allein darauf an, ob und welche Wege es aus der Krise gibt, sondern immer auch auf eine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Grund. Nur so lassen sich Rückfälle, Übertragungen auf andere Menschen, Erbschäden usw. vermeiden. Immer neue Programme, immer neue Experten, immer neue Einrichtungen, vor allem immer mehr Geld reichen zur Lösung gesellschaftlicher Krisen erfahrungsgemäß nicht aus. Dazu gehört z.B. die Erfahrung mit der vermeintlichen Bildungskatastrophe, die in den 1960er Jahren ein Bildungsexperte namens Georg Picht diagnostizierte. Sie wurde nachweislich nicht bewältigt, sondern hat sich verschärft - und dies, obwohl in Deutschland in den siebziger Jahren alle sechs Monate eine neue Universität gegründet wurde. Welche Gründe gibt es für die Annahme, daß die sehr viel größere Bildungskatastrophe unserer Zeit durch die Gründung einiger "Eliteuniversitäten" auf diese Weise bewältigt werden könnte?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


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