© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/04 23. Januar 2004

Für eine Berliner Republik
Die politische Klasse hat keine Vision für Deutschland
Doris Neujahr

Der Begriff "Berliner Republik", als er vor über zehn Jahren geprägt wurde, bezog sich kontrastierend auf drei Voraussetzungen des Bonner Interregnums: Erstens hatten Teilung, beschränkte Souveränität und die geographische Frontlage die außenpolitischen Interessen und Möglichkeiten der Bundesrepublik definiert und eingegrenzt. Die letzte Verantwortung für ihr Schicksal lag in den Händen der USA, einem vergleichsweise gutmütigen Hegemon.

Die Existenz im weltpolitischen Windschatten hatte, zweitens, im Innern zu einer Reduktion des Politischen geführt. Es verengte sich auf den Ausbau des Sozialstaates und auf reformerische Nippes. Adenauers Wahlmotto von 1957, "Keine Experimente!", bezeichnet eine bis heute wirksame Mentalität.

Doch der Versuch, eine kollektive Identität primär aus dem Wirtschaftswunder und dem Sozialstaat zu schöpfen, konnte, drittens, die "offene Wunde des deutschen Wir-Bewußtseins" nicht heilen. Aufgeweckte junge Menschen fanden, so die Beobachtung von Norbert Elias Ende der siebziger Jahre, in dieser Gesellschaft "nichts, was dem Leben Sinn, Wert und Richtung geben" konnte. Sie kompensierten dieses Manko mit nationalem Masochismus und der Moralisierung politischer Begriffe. Daß diese Verirrungen keine lebensgefährlichen Folgen zeitigten, war dem US-Hegemon zu verdanken - ein Teufelskreis!

Die Ereignisse von 1989/90 boten die Chance, ihn zu durchbrechen. Das wiedervereinigte Deutschland war mit mehr Macht und mehr Verantwortung ausgestattet - zunächst einmal für sich selbst. Seine Interessen - die Sicherung von Frieden, Wohlstand und eigener Lebensweise - mußte es ab jetzt in einem internationalen Kontext wahren, der seit dem Ende des Kalten Krieges wieder flottierte. Dies setzte einen politischen Reifeprozeß voraus.

Der Ort dafür konnte nur Berlin sein, weil die bekannten Berliner Straßen, Gebäude und Plätze eine historisch-politische Signifikanz und "metropolitane, kollektiv mythische und literarische Qualität" (Karl-Heinz Bohrer) aufweisen, wie sie keine andere deutsche Stadt besitzt. "Berliner Republik" meint also mündige, mit einem weiten Geschichtshorizont ausgestattete Bürger, die ihr souverän gewordenes Land gestalten. Spätestens der Umzug der Regierung würde, so die Vorhersagen, den qualitativen Sprung markieren.

Der Optimismus hat getrogen. Was seinerzeit als messerscharfe Analyse oder unumstößliche Antizipation galt, hat sich als Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse und politische Romantik herausgestellt. Die mentalen Prägungen des Interregnums erweisen sich als zählebig. Noch bevor der Regierungsumzug stattfand, wurde die Symbolik Berlins durch unsägliche Mahnmaldebatten konterkariert. In Kürze wird das Regierungsviertel von einem regelrechten "Gedenkpark" eingehegt sein, einer Vielzahl von Denkmälern, die sich sämtlich auf das "Dritte Reich" beziehen.

Der Charakter des Landes soll nach dem Willen seiner politischen Eliten auch weiterhin nicht durch das Politische bestimmt werden, nicht durch die Fähigkeit freier Bürger, ohne Vorurteile und Furcht über ein gemeinsames, ziel- und interessengerichtetes Handeln zu streiten und zu befinden, sondern durch die moralisierende Auslegung eines verengten Geschichtsbegriffs.

Man lasse sich von Schröders gelegentlichem Poltern und Auftrumpfen in Brüssel nicht täuschen! Dahinter steckt keine politische Idee, sondern der Vorsatz, ihre Abwesenheit zu verbergen. Die wichtigste außenpolitische Entscheidung seit der Wiedervereinigung, die Einführung des Euro, war ein kalter Putsch. Vielleicht wird er sich bewähren. Tatsache bleibt aber, daß die Bürger über seine Hintergründe im unklaren gelassen und sachliche Einwände mit dem Nationalismus-Vorwurf abgebügelt wurden. Das gleiche kündigt sich mit dem EU-Beitritt der Türkei, der offenbar längst beschlossen ist, und mit der EU-Verfassung an.

Niemand wird behaupten, daß das Niveau der Politik und der politischen Debatten seit der Wiedervereinigung oder seit dem Umzug nach Berlin gestiegen ist. Helmut Kohl erwies sich nach dem 3. Oktober 1990 als ebenso völlig überfordert wie vor 1989. Der "Aufbau Ost" ist inzwischen stillschweigend begraben worden. Psychologisch war die Wiedervereinigung ein sadistischer Unterwerfungsakt, durch den die DDR-Bürger gezwungen wurden, ihre ganz anderen Erfahrungen in ein westdeutsches Begriffsraster zu zwängen. Dahinter stand unter anderem die Absicht, das Nationale zurückzudrängen, das in der DDR positiv besetzt war, weil sich damit das Ende des SED-Regimes verband. Rot-Grün, das vor fünf Jahren mit Aplomb antrat, hat seitdem viel Budenzauber geboten: "Neue Mitte", "Bündnis für Arbeit", "Agenda 2010" und jetzt das "Aktionsbündnis für Innovation". Der Rest ist Chaosverwaltung.

Die Tatsache, daß der Begriff "Berliner Republik" eine leere Hülle geblieben ist, widerspiegelt das Scheitern der politischen Eliten. Ihre strategische und handwerkliche Unfähigkeit hat zu einem massiven Vertrauensverlust geführt, sie stößt auf allgemeine Verachtung. Ihre Selbstbedienungsmentalität ist verständlich: Sie sichern sich gegen die Folgen des eigenen Versagens ab. Ihre Herrschaft legitimieren sie nicht mehr politisch und sachlich, sondern durch die priesterliche Funktion als Verwalter der "richtigen Lehre" aus der deutschen Geschichte.

1999, als die Regierung nach Berlin umzog, wurde Johannes Rau zum Bundespräsidenten gewählt: ein Untoter als Galionsfigur! Wie passend! Kein Satz und keine einzige Geste, die ins Freie weisen, werden von ihm in Erinnerung bleiben. Zwanzig Jahre lang war er als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen der mächtigste deutsche Landesfürst. Damit ist er - Schulen und Universitäten sind Ländersache - einer der Hauptverantwortlichen für die jetzt eingetroffene Bildungskatastrophe!

Statt sich zum eigenen Versagen zu bekennen und wenigstens ein moralisches Achtungszeichen zu setzen, wo ihm ein politisches oder intellektuelles nicht möglich ist, hat er nach dem Motto: Je schlimmer, desto besser!, befunden, wenn das Kopftuch nicht ins Klassenzimmer dürfe, gehöre auch kein christliches Symbol dorthin. So wird die Axt an eine Wurzel gelegt, die diesem Land noch Halt gibt, wie schwach auch immer.

Der Wahnsinn hat Methode: Rau und die anderen fühlen sich von Furien verfolgt, die die beleidigte politische und sittliche Ordnung rächen wollen. Um sie abzuschütteln, werfen sie ihnen die letzten Bestände vor, über die Deutschland noch verfügt. Die Ordnung, vor der sie auf der Flucht sind, heißt: Berliner Republik!


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