© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/04 16. Januar 2004

Ein 9. November ist nicht in Sicht
Vom schwierigen Umgang mit der Teilung in Korea: Die deutsche Wiedervereinigung hat sowohl Hoffnungen wie auch Ängste im „Land der Morgenröte“ geweckt
Detlef Kühn

In Deutschland ist die Teilung des Landes nach 1945 inzwischen Geschichte. Wir erleben zwar ihre Folgen im wirtschaftlichen, teilweise auch im gesellschaftspolitischen Bereich noch täglich. Die Ost-West-Wanderung hat bis heute nicht völlig aufgehört. Insgesamt ist der Vorgang aber abgeschlossen. Junge Leute unter dreißig haben in den vergangenen zwölf Jahren in Ost und West politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich gleiche oder zumindest ähnliche Erfahrungen gemacht, Arbeitslosigkeit eingeschlossen.

In Berlin trifft man nicht nur in der Nähe des Potsdamer Platzes Touristen aus aller Herren Länder, die verzweifelt versuchen herauszufinden, wo denn hier einst die berühmt-berüchtigte „Mauer“ gestanden hat. Selbst wenn man den schmalen Eisenstreifen findet, der diese Linie markieren soll, hat man auch als Berliner in dieser Umgebung Mühe, sich vorzustellen, wie denn dieses Ungetüm wirklich ausgesehen hat. Dabei ist die Mauer erst vor 14 Jahren abgerissen worden.

Es ist in diesem Zusammenhang gut, sich daran zu erinnern, daß es noch immer ein Land gibt, das – ebenso wie Deutschland es war – als Folge des Ost-West-Konflikts geteilt ist, und zwar schon seit über fünfzig Jahren. In Nord- wie in Südkorea hat man in den vergangenen Jahren den Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung mit all ihren Folgen mit Hoffen und Bangen verfolgt. Hoffen, weil man aus der rasanten Entwicklung in Deutschland Mut schöpfte für eine Überwindung der Teilung auch im eigenen Land. Bangen, weil man vor allem in der nordkoreanischen Führungsschicht einen Machtverlust ähnlich wie bei der SED-Führung befürchtet, während man im Süden eher Angst vor den wirtschaftlichen Folgen eines Kollapses des nordkoreanischen Regimes hat.

Großes Interesse am Umgang mit der Teilung Deutschlands

Die Anfänge meiner Beschäftigung mit der Teilung Koreas liegen schon 25 Jahre zurück. Die Bundesanstalt, die ich von 1972 bis zu ihrer Auflösung als Folge der Wiedervereinigung leiten durfte, das Gesamtdeutsche Institut, erlebte seit dem Ende der siebziger Jahre regelmäßig Besuche von (süd-)koreanischen Wissenschaftlern, Beamten und Politikern, die in die Bundesrepublik kamen, um zu erfahren, wie denn die Deutschen mit dem Problem der Teilung ihres Landes umgingen. Im Rahmen dieses regen Erfahrungsaustausches hatte ich in den achtziger Jahren viermal Gelegenheit, das „Land der Morgenröte“ zu besuchen – das letzte Mal im April 1990, als sich die baldige Wiedervereinigung Deutschlands schon deutlich am Horizont abzeichnete, eine Aussicht, die meine koreanischen Gesprächspartner und ihre Medien naturgemäß faszinierte. Auf ihre Frage, was ich ihnen denn vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen raten würde, sagte ich: „Versuchen Sie, besser auf eine plötzliche Wiedervereinigung vorbereitet zu sein, als wir es sind.“

Als ich kürzlich, nach mehr als 13 Jahren, erneut Gelegenheit hatte, das Land auf Einladung der Korea-Stiftung zu besuchen, hatte ich den Eindruck, daß dieser Rat befolgt wurde. Nicht nur die Nord-Süd-Politik ist in Bewegung geraten, auch politisch-konzeptionell sind die Südkoreaner inzwischen auf weitere Veränderungen vorbereitet.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Frage gestellt, ob man überhaupt die Situation in Deutschland mit der in Korea vergleichen könne. Die Antwort kann nur lauten, daß man selbstverständlich alles mit allem vergleichen kann. Welche Aussagekraft solche Vergleiche haben, ergibt sich immer erst, wenn Schlußfolgerungen gezogen werden. Spätestens dann findet man Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Gemeinsam ist beiden Ländern, daß sie 1945 durch fremde Truppen besetzt wurden: Deutschland im Kampf nach einem verlorenen Weltkrieg; Korea weitgehend kampflos von Norden her durch sowjetische und von Süden her durch amerikanische Truppen, die am 38. Breitengrad zusammentrafen und von der koreanischen Bevölkerung meist als Befreier vom japanischen Kolonialjoch empfunden wurden. Amerikaner und Russen zogen sich zwar bald wieder zurück, die Sowjets aber nur über ihre nahe Grenze und nicht ohne im Norden des Landes ein kommunistisches Regime unter ihrem Gefolgsmann Kim Il Sung etabliert zu haben. Mit Stalins Rückendeckung überfiel dieser 1950 den militärisch schwachen Süden und besetzte ihn bald bis auf einen kleinen Bereich rund um die Hafenstadt Pusan.

Dies war die Situation, als die USA und andere Mächte – ausgestattet mit einem Mandat der Vereinten Nationen – eingriffen und die kommunistischen Truppen bis fast zur Nordgrenze zurückdrängten. Nunmehr griff Rotchina mit Hunderttausenden von sogenannten Freiwilligen in den Kampf ein. Insgesamt ging die Front drei bis viermal über das Land hinweg, das weitgehend zerstört wurde. Schließend kam die Front nach anderthalbjährigen Kämpfen etwa in Höhe des 38. Breitengrades zum Stillstand. Es dauerte noch bis 1953, als ein Waffenstillstandsvertrag abgeschlossen wurde, der heute noch gilt. Ein förmlicher Friedensvertrag ist nicht in Sicht. Die Waffenstillstandslinie bildet die Grenze. Nördlich und südlich von ihr existiert eine jeweils zwei Kilometer breite entmilitarisierte Zone, die weitgehend entvölkert ist und von normalen Sterblichen nicht betreten werden darf. Die anschließenden Regionen sind auf beiden Seiten mit Minenfeldern, Bunkern und Verhauen schwer befestigt. Die südkoreanische Hauptstadt Seoul ist weniger als fünfzig Kilometer von der Grenze entfernt. Die Angst vor einem erneuten Überraschungsangriff ist groß. Haß und Mißtrauen übertreffen alles, was wir diesbezüglich bis 1989 in Deutschland erlebt haben.

Von Nord nach Süd gibt es weder Post noch Telefon

Seit dem Bürgerkrieg sind alle Verbindungen zwischen Nord und Süd unterbrochen. Es gibt keinen Grenzübergang, keine privaten Besuche, keine Post- und Telefonverbindungen. Selbst Rundfunkempfang über die Grenze hinweg wird unterbunden, allerdings hört man neuerdings, daß die Angehörigen der nordkoreanischen Elite in Pjöngjang über das südkoreanische Fernsehprogramm informiert seien, was zumindest einige Empfangsmöglichkeiten via Satellit voraussetzt. Militärische Zwischenfälle zu Lande und vor allem zur See sind nicht selten. Die meisten Familien wissen nichts über das Schicksal ihrer Verwandten im anderen Teil des Landes. Unter strenger Aufsicht fanden bisher nur einige wenige offizielle Familientreffen statt, an denen insgesamt etwa 4.000 Personen teilnehmen durften.

Im Süden war man noch in den achtziger Jahren fest davon überzeugt, der „große Führer“ Kim Il Sung habe durch einen beispiellosen Personenkult, in den sein Sohn und Nachfolger Kim Jong Il einbezogen wurde, mit Hilfe seiner Juche-Ideologie aus kommunistischen Versatzstücken aus Deutschland, Rußland und China sowie nationalen Vorstellungen seine Landsleute einer massenhaften „Gehirnwäsche“ unterzogen. Inzwischen bestehen aber Zweifel, ob diese „Gehirnwäsche“ tatsächlich so umfassend funktioniert wie bisher befürchtet, wobei allerdings die Folgen der geistigen Isolierung gegenüber dem Ausland nicht unterschätzt werden sollen. Schließlich herrscht in Nordkorea – eine weitere Besonderheit gegenüber der DDR – seit längerem bei großen Teilen der Bevölkerung blanker Hunger, der umfangreiche Hilfslieferungen aus Südkorea und aus dem Ausland erfordert. Die nordkoreanische Bevölkerung weiß inzwischen, woher diese Hilfe kommt, und dürfte nicht mehr ohne weiteres glauben, im Norden sei alles besser als im Süden.

Nordkorea akzeptiert mittlerweile, daß es für längere Zeit auf Hilfe von außen angewiesen ist. Das Regime hat aber den Untergang der DDR und seine Ursachen sorgfältig studiert und ist fest entschlossen, die destabilisierenden Folgen zu enger Kontakte mit dem Süden zu verhindern. Den Ausweg aus dem Dilemma sieht es in der nuklearen Erpressung. Durch Drohung mit Nuklearwaffen möchte sich Nordkorea international Gehör und vor allem von den USA eine Existenzgarantie verschaffen. Niemand weiß, ob Nordkorea wirklich zu einer atomaren Bedrohung seiner Nachbarn (der USA sowieso nicht!) in der Lage ist. Aber niemand möchte es natürlich ausprobieren. Das macht Nordkorea politisch relativ stark.

Ähnlich wie in der DDR ist auch in Korea die systembedingte mangelhafte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Nordens das Hauptproblem. Die industrielle Infrastruktur scheint dort inzwischen noch mehr verkommen zu sein, als es in der DDR 1990 der Fall war. In ihrer Not hat sich die nordkoreanische Regierung bereiterklärt, im Südosten nahe der Grenze, in Kaesong, der zweitgrößten Stadt des Landes, eine Art Sonderwirtschaftszone einzurichten, wo südkoreanische (mittelständische) Investoren Fabriken errichten, in denen nordkoreanisches Personal zu Löhnen arbeitet, die nur ein Viertel der im Süden üblichen Bezahlung ausmachen sollen. Für südkoreanische Wirtschaftskreise ist das natürlich sehr reizvoll. Der Norden hat es aber – im Gegensatz zum Süden – noch nicht fertiggebracht, die nötige Infrastruktur, zum Beispiel Autobahn und Eisenbahn bis zur Grenze, zu schaffen. Die südkoreanischen Gleise und Straßen enden einstweilen bei dem Militärstützpunkt Dorasan im Nichts.

Das Atomprogramm dient nur als Erpressungspotential

Wie die Bundesrepublik vor 1989 setzt auch die südkoreanische Regierung nicht unbedingt auf eine baldige Wiedervereinigung, sondern zuerst einmal auf menschliche Erleichterungen. Und wie in Deutschland wenigstens in den fünfziger und sechziger Jahren halten auch im Korea von heute beide Seiten an dem Ziel der Wiedervereinigung fest – natürlich jeder zu seinen jeweiligen Bedingungen, was einen baldigen Erfolg naturgemäß ausschließt. So sucht man erst einmal das Heil in dem Ausbau wirtschaftlicher Beziehungen, wobei vor allem der Norden offenbar von der Angst verfolgt wird, damit dem kapitalistischen Teufel schon zu viel Zugeständnisse zu machen. Diese Angst ist wohl nicht unberechtigt, wenn man hört, daß seit einiger Zeit Nordkoreanern der Besitz von Valuta harter Währung gestattet ist, mit der man in Spezialläden alles das einkaufen kann, was sonst im Lande nicht zu haben ist. Der deutsche Besucher wird dabei an die Intershops der DDR erinnert, die sicherlich wegen ihrer psychologischen Folgen auf die DDR-Bevölkerung einen der größeren Sargnägel der untergehenden DDR darstellten.

Ein anderes aus der DDR bekanntes Problem hat Nordkorea ebenfalls bereits erreicht: die „Republikflucht“. In den achtziger Jahren war es nur eine Handvoll Flüchtlinge, die auf dem Umweg über das Ausland nach Südkorea kamen. Jetzt zählen die Flüchtlinge alljährlich schon nach Tausenden. Die meisten kommen über China, wo Koreaner mit chinesischer Staatsangehörigkeit als kommerzielle Fluchthelfer tätig sind. Wenn eine Ausreise über die diplomatischen Vertretungen Südkoreas oder anderer Staaten in Peking nicht möglich ist, weil die Botschaften überfüllt sind, geleiten sie ihre Schützlinge auch durch das ganze Land zur Grenze nach Burma oder Vietnam, von wo aus man dann weiterreisen kann. Das alles kostet natürlich Geld. Wie man hört, sind die Fluchthelfer aber auch in der Lage, inoffizielle Verbindungen zwischen betuchten Südkoreanern oder US-Amerikanern koreanischer Herkunft und ihren nordkoreanischen Verwandten herzustellen. Auf diese Weise kommen manche Nordkoreaner zu Devisen, die sie dann in den Spezialgeschäften ausgeben können.

Jedenfalls sind die Flüchtlinge die wichtigste Ursache, daß man in Südkorea inzwischen recht gut über die Lebensbedingungen, den Alltag des durchschnittlichen Nordkoreaners, aber auch der kommunistischen Eliten Bescheid weiß. Das wird, so ist zu vermuten, auf die Dauer auch die Angst vor dem aggressiven Bruder im Norden etwas relativieren. Die Folge könnte sein, daß Gesetze, die einstweilen noch nicht genehmigte individuelle Kontakte zum Norden unter Strafe stellen, gemildert oder abgeschafft werden. Möglicherweise wird es wegen der dann möglichen massenhaften Kontakte über die Grenze hinweg für das nordkoreanische Regime erst richtig gefährlich.

Wie die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition nach 1969 in der Bundesrepublik ist auch die „Sonnenschein-Politik“ des früheren Präsidenten Kim Dae-jung, die von seinem Nachfolger Roh Moo-hyun weitergeführt wird, in Südkorea stark umstritten. Wie weit darf man dem Norden entgegenkommen? Darf man ihm für politisches Entgegenkommen Bares zahlen (unter Kim Dae-jung sind für ein Gipfeltreffen etwa 200 Millionen Dollar gezahlt worden)? Erreichen die Reislieferungen des Südens wirklich die Hilfsbedürftigen im Norden, oder kommen sie nur den Machthabern und ihren militärischen Helfern zugute? Wie gefährlich ist es überhaupt für das politische System im Süden, sich dem Einfluß des Nordens zu öffnen? Kann man gegebenenfalls den Wiedervereinigungsprozeß zeitlich strecken, um die Folgen besser beherrschbar zu machen?

Das alles sind Fragen, bei denen die Entscheidungsträger in Seoul durchaus von den deutschen Erfahrungen profitieren können, denen ja ähnliche Bedenken und Probleme zugrunde gelegen haben. Es liegt im deutschen Interesse, einem Volk nach Kräften bei der Bewältigung seines nationalen Problems zu helfen, das wie kaum ein anderes Deutschland und seiner Kultur Sympathie entgegenbringt.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn. Er bereiste in dieser Funktion mehrfach Nord- und Südkorea. 2003 reiste er erneut nach Korea.


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