© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/04 09. Januar 2004

Die deutsche Sphinx
Heiner Müller begriff die Revolution als Notbremse der Geschichte
von Doris Neujahr

Ajax war der nach Achill stärkste Kämpfer vor Troja. Im Kampf um dessen Waffen unterlag er dem listenreichen Odysseus. Aus Zorn darüber erschlug er die Viehherden der Griechen, die er für seine Feinde hielt. Als er zur Besinnung kam und seinen Irrtum erkannte, stürzte er sich in sein Schwert. Das war ein Bekenntnis ungebrochenen Stolzes, aber auch der Verzweiflung und der Scham. Für Heiner Müller wurde er zur Identifikationsfigur: "Ich Ajax der sein Blut verströmt / über sein Schwert gekrümmt am Strand von Troja".

Das Langgedicht "Ajax zum Beispiel" erschien am 29. Oktober 1994 in der Tiefdruckbeilage der FAZ. Zu diesem Zeitpunkt wußte Müller bereits, daß er todkrank war. Im September war bei dem notorischen Zigarrenraucher und Whiskytrinker Kehlkopfkrebs diagnostiziert worden. Eine sechsstündige Operation in einer Münchner Privatklinik, der Erholungsaufenthalt in Kalifornien und Chemotherapien konnten nichts mehr ausrichten. Er selber sah einen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Situation, in der er sich seit dem Zusammenbruch der DDR befand. 1990 hatte er die Ereignisse kommentiert: "Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute / Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit / die vor vierzig Jahren mein Besitz war / Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend". Die Krankheit war sein Ajax-Opfer, sein Sturz ins Schwert: "beinahe / war ich stolz auf meinen unbesiegten / Tumor / Einen Augenblick lang Fleisch / von meinem Fleische". Wenige Tage nach Fertigstellung dieses Gedichts, am 30. Dezember 1995, starb Müller in Berlin.

"Ich Ajax Opfer zweifachen Betrugs": Der erste Betrug war zweifellos die kommunistische Verheißung, der er selber anhing, die Hoffnung auf die Humanisierung des Menschen durch die soziale Revolution. In einem kurzen Text aus dem Jahr 1958 hatte er eine Umdeutung von Walter Benjamins Engel der Geschichte vorgenommen, welcher rückwärts aus dem Paradies geschleudert wird und mit schreckgeweiteten Augen auf die Trümmerlandschaft zu seinen Füßen blickt.

Müllers Engel dagegen hat sein Gesicht gen Zukunft gedreht, die allerdings die Härte von Granit hat. Folglich wird sein Flug gehemmt, auf den Flügeln sammelt sich Geröll, und er versteinert, bis endlich "das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt".

In Sätzen wie diesem war seine Haltung zur DDR beschlossen. Über deren politischen Charakter machte er sich deswegen keine Illusionen. Im Mauerstaat sah er einerseits eine Neuauflage des Stalingrader Kessels, andererseits die Rache deutscher Altkommunisten, die der DDR-Bevölkerung ihre erlittene KZ-Haft heimzahlten. Jenseits davon glaubte er in ihr eine geschichtsphilosophische Hoffnung verkörpert, die irgendwann eingelöst werden würde. Dadurch sollte das sehr reale Leiden an ihr einen Sinn erhalten. Im Lebensgefühl in der DDR waren Tragik und Geschichtlichkeit unauflöslich miteinander verknotet, die Folgen waren bis in die Verästelungen des Alltags hinein spürbar. Für einen geborenen Tragödienschreiber waren das ideale Arbeitsbedingungen.

Für den an Brecht geschulten Marxisten lautete die globale Alternative "Sozialismus oder Barbarei"! Barbarei war die sich überschlagende kapitalistische Beschleunigung, die Ökonomisierung, die kalkulatorische Erfassung und Verwertung noch der innersten Substanz des Menschen. Die Revolution begriff er nicht mehr wie Marx als die Lokomotive, sondern als die Notbremse der Geschichte, welche die Talfahrt in den Abgrund verlangsamte. Die DDR stellte für Deutschland eine Art Zeitreserve dar, so wie Sibirien eine Zeitreserve im Weltmaßstab bedeutete. 1989 hatten die Vorräte sich aufgelöst, schlimmer noch, sie hatten sich gleich den Ziegenherden als Chimären erwiesen. Wie Ajax zweifelte Müller an sich selbst: "Götter werden dich nicht mehr besuchen".

Was war der zweite Betrug, von dem im Gedicht die Rede ist? Man könnte annehmen, der Nationalsozialismus, der - neben dem Stalinismus - das zweite große Thema in Müllers Dramen war. Er stammte aus einer sozialdemokratischen Familie, sein Vater hatte 1933 ein Jahr im KZ gesessen. Müller hatte also keinen Grund, sich vom NS-System betrogen zu fühlen, es hielt bis zum Ende, war es ihm versprochen hatte. Bleibt als die zweite Betrügerei die bundesdeutsche Gesellschaft: "In den Buchläden stapeln sich / Die Bestseller Literatur für Idioten / Denen das Fernsehn nicht genügt". In dieser Situation sind die Attribute des Tragischen: die Ausweglosigkeit, das tragische Bewußtsein und die Schuld, versammelt. Trotzdem sieht der Schreiber keine Möglichkeit mehr, eine Tragödie zu verfassen, weil die Adressaten dafür abhanden gekommen sind: "Die Staatsgewalt geht vom Geld aus Geld / muß kaufen Arbeit macht unfrei Heimat ist / Wo die Rechnungen ankommen ..."

Die "Aushöhlung von Geschichtsbewußtsein durch einen platten Begriff von Aktualität" war für ihn ein signifikantes Merkmal der BRD. Das traf ihn doppelt, weil die deutsche Geschichte sein Grundthema war, das ihn zu surrealen Szenen inspirierte. In "Germania Tod in Berlin" gebiert Goebbels unter Mithilfe der Drei Heiligen aus dem Abendland (die Westalliierten) einen Contergan-Wolf, der anschließend mit Sunil weißgewaschen wird. Germania tritt als Hebamme auf. Sie spottet, daß mit Hitler nie viel los gewesen sei im Bett, weshalb der ihr den Garaus macht. Die Regieanweisung lautet: "Hitler lädt die Kanone. Germania wird von der Ehrenkompanie an die Kanone gebunden. Mit der Detonation fällt der Vorhang."

Wie ein aktueller Kommentar zu der Szene lesen sich Sätze von 1986, die Müller über die westdeutsche Lust an Weltuntergangsszenarien geäußert hatte: "In der Bundesrepublik gibt es aber das merkwürdige Problem mit der Geburtenrate. Das klingt vielleicht biologistisch, aber ich glaube, daß es mit dem Lebensgefühl oder der Haltung einer Bevölkerung zum Leben zu tun hat, wenn die Geburtenrate sinkt: ein Volk, das sterben will. Es will natürlich das Leben noch genießen bis zum Ende. Es will nichts abgeben. (...) Man will hierzulande alles Bier selber trinken, und wenn man selbst kein Bier mehr trinken kann, soll es keines mehr geben."

Von hier aus läßt sich der Bogen schlagen zu den "Kirchhorster Blättern" Ernst Jüngers, der im Frühjahr 1945 beim Einmarsch der amerikanischen Panzer notierte: "Von einer solchen Niederlage erholt man sich nicht wieder wie einst nach Jena oder Sedan. Sie deutet nicht nur eine Wende im Leben der Völker an, und nicht nur zahllose Menschen, sondern auch vieles, was uns im Innersten bewegte, muß sterben bei diesem Untergang." Hier sind die mentalen Untiefen benannt, die die deutsche Politik partout zu verdrängen sucht.

Zwischen Ernst Jünger und Heiner Müller gab es eine beidseitige Wertschätzung: Müller besuchte Jünger, der in der DDR offiziell als Gottseibeiuns galt, erstmals 1988 in Überlingen. Er fühlte sich durch ihn physiognomisch an seinen Vater erinnert. Jünger zitierte in einem seiner letzten Fernsehinterviews das Müller-Gedicht über seinen Jugendirrtum und fragte anschließend den Interviewer: "Das ist gut, oder?"

Als Müller 1990 Präsident der Ost-Berliner Akademie der Künste wurde, ließ er in der Zeitschrift Sinn und Form Jünger-Texte abdrucken, was auf wütende Proteste unter anderem von Walter Jens stieß, der damals Präsident der Kunstakademie in West-Berlin war. Müller beschied ihn: "Einen 97jährigen Schriftsteller auf die Äußerungen seiner Jugendzeit festzulegen und mit dieser Begründung einer Leserschaft fernzuhalten, die gerade erst anderen Bevormundungen entrückt ist, wäre ein Verfahren, das sich mit dem Geist einer unabhängigen Literaturzeitschrift weder bei Ernst Jünger noch irgendeinem anderen Fall verträgt."

Kein Wunder, daß auch Günter Grass, der Müller politisch gar nicht so fern stand, mit ihm nichts anfangen konnte. "Aufgedonnerter Kulissenzauber", nannte er seine Stücke im "Weiten Feld", seinem Roman-Monstrum, in dem alles Kulisse und nichts echt ist.

Heiner Müller leitete von 1991 bis zu seinem Tod das Berliner Ensemble. Nach seinen Vorstellungen sollte es eine Enklave bleiben, frei vom Verwertungszwang, ein Kunst- und Denkraum, wo an einer bestimmten Monumentalität gearbeitet wird, um Dinge festzuhalten: Faktisch ein DDR-Mausoleum, "aus dem ab und an Klopfzeichen dringen", wie sein Mitarbeiter Stephan Suschke sagte.

In diesem Bayreuth-Pendant sollten neben den eigenen Stücken die von Brecht sowie die Shakespeare-Tragödien gespielt werden. Ein subversiver DDR-Geschichtsgeist sollte von hier aus in die BRD hineinwirken. Es wäre immerhin eine Alternative gewesen. Statt dessen lechzt heute ein ideenloser Claus Peymann nach billigen Medienerfolgen.

Aus einem tragischen sah Müller sich 1990 in ein Land der Schicksallosigkeit katapultiert: in ein Land von Voyeuren, die über genug Geld verfügen, um sich komfortable Plätze zu sichern ("Bei uns sitzen Sie / in der ersten Reihe"), von wo aus sie die Geschichte danach durchmustern, welchen emotionalen und (pseudo-)metaphysischen Mehrwert sie bietet. Bis heute bringen Müller-Zitate das linksliberale Milieu zur Weißglut. Was dieses für geläutertes Geschichtsbewußtsein hält, war für Müller "die Unfähigkeit, der Geschichte ins Weiße der Augen zu sehen", und dies sogar noch "als Grundlage der Politik".

Für Müller war der Holocaust "Hitlers geographischer Lapsus: Genocid in Europa statt, wie gewohnt und Praxis heute wie gestern, in Afrika Asien Amerika." Er war eine Konsequenz der kapitalistischen Gesellschaft, die alles auf Verwertung abgestellt hat. Seinem Freund Alexander Kluge sagte er 1990 in einer Fernsehsendung: "Also wenn Du mal Auschwitz nimmst als Metapher - ja, Metapher ist ein sehr barbarisches Wort -, aber als die Realität der Selektion. Selektion ist global das Prinzip der Politik. Es gibt noch keine Alternative zu Auschwitz. (...) Ich meine einfach, daß alles, was denkbar ist, auch machbar ist. Und alles, was machbar ist, wird gemacht. Auf irgendeine Weise, irgendwann, von irgendwem."

Kluge dazu: "Und dies ist genau das, was eine plurale Gesellschaft nicht aushält. Sie fordert Sentimentalisierung, so wie sie die Industrialisierung vertritt und so wie sie den Volkskrieg macht." Wann wird man so einen Dialog mal zur besten Sendezeit bei Sabine Christiansen hören? Und wann im Berliner Ensemble eine surreale Müller-Szene sehen, in der bewältigungstrunkene deutsche Eliten als Jubelidioten dargestellt sind, die sich zum anachronistischen Zug formieren, der, angeführt von Hitler, eine Polonaise in Richtung Abgrund tanzt? Im Hintergrund würde sich, analog zum letzten Müller-Stück "Germania Tod in Berlin 3", wo die diversen Brecht-Frauen und -Freundinnen sich um die Witwenschaft streiten, Lea Rosh mit Eva Braun, Magda Goebbels und Winifred Wagner um den Status als einzig rechtmäßige Führer-Witwe prügeln!

"Im weißen Rauschen / kehren die Götter zurück nach Sendeschluß". Welche Götter sind es? Und befinden wir uns kurz vor oder bereits nach Sendeschluß? Das Rauschen kann ein Zuviel an Information sein oder eine nicht decodierbare Nachricht. Es kann sich aber auch um eine bloße Störung handeln. Müllers Texte geben Rätsel auf. Sie immer wieder an der Wirklichkeit zu messen und zu versuchen, sie zu entschlüsseln, ist so spannend und so unheimlich wie die Antwortsuche des Ödipus vor der ägyptischen Sphinx.


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