© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/04 02. Januar 2004

Wissen
von Wolfgang Saur

Wer überzeugt ist, die Moderne stecke in der Sackgasse, und was sie als "Liberalität", "Emanzipation" und "westliche Mündigkeit" preist, realisiere geschichtlich nur eine neue Form der "Vermachtung", dem fällt das Gegenargument zur Tradition nicht leicht. Vollkommen trifft zu, was Helmuth Plessner schrieb: "Wer heute auf die überweltliche Autorität (Gottes) oder die innerweltlichen Autoritäten (...) der Geschichte zurückgreifen will, muß die Kraft aufbringen, gegen ihre Entwurzelung im aufgeklärten Bewußtsein, gegen all das, was zu ihrer Zerstörung unternommen worden ist, die eigene Glaubensgewißheit wiederzugewinnen." Das verdeutlicht besonders die aktuelle Situation, in der sich - islamistisch provoziert - die aufklärerische Vulgärmeinung erneuert, Religionen seien eo ipso gefährlich und destruktiv. Dies verbindet sich mit einem Antitotalitarismus ultraliberaler Provenienz im Intellektuellenmilieu seit der Wende. Alles, was sich dem postmodernen Mix ohne Mitte widersetzt, wird als kryptototalitär verdächtigt, natürlich alles Kollektive, vor allem aber die Gottesidee selbst bis hin zu allen sich schließenden Sinngestalten überhaupt. Diffuse "Offenheit" und "Entgrenzung" halten programmatisch das Vakuum der entleerten Mitte besetzt und propagieren eine Art demokratischer negativer Theologie.

Hierin zeichnet sich ein neues Stadium der Säkularisierung ab, die uns seit Hegels und Goethes Tod begleitet. Erst damals hat die moderne Welt Ideen endgültig durch Interessen ersetzt, die Welt, wie sie glaubte, "auf den Boden der Tatsachen gestellt", um endlich anzukommen bei dem, was "real" und "objektiv" sei. Doch ist die Säkularisierung viel älter. Sie deutet sich religionsgeschichtlich bereits im "Innovationsschub" der jüdischen Religion an, gewinnt indes erst seit der Reformation Gestalt. Der prophetische Gestus der Reduktion: Ablehnung von Tradition und Sakramentskirche, Privilegierung des Wortes, Verwerfung von Bildern und religiöser Folklore, Zurückweisung der Mittlerinstanzen, wie Engel, Selige, Heilige etc. haben eine Frömmigkeit des Buches, des Gewissens und den vertieften Umgang mit Texten begründet, der später Philologen und Historiker inspiriert, doch vorderhand zur Erosion der religiösen Symbolkultur geführt hat und die mittelalterliche Ordnung hinwegfegte. Nun konnte der Verstand ungehindert an die rationale Durchdringung und technokratische Vernutzung der Welt gehen. Dieser Vorgang wird indes erst manifest seit dem Ausgang der katholischen Barockkultur und dem Zusammenbruch des Deutschen Idealismus. Erst hier endet die große Struktureinheit Alteuropas und setzt sich ein weltgeschichtlich neuartiges Modell durch: das der modernen Industriegesellschaft mit dem revolutionären Charakter permanenter Innovation.

Nun wird auch der Atheismus akut, nicht nur weil ihn Aufklärung und Revolution explizit, ja aggressiv vertreten, sondern weil die moderne Gesellschaft sich in einer Gott prinzipiell ausschließenden Weise organisiert. Den Schlüssel hierfür bildet das Rationalitätsproblem. Im Kern geht es um die Hegemonie der "instrumentellen Vernunft", also einer generellen Umstellung auf formal-operative Rationalität und "methodische Lebensführung". Aus Effizienzsteigerungsgründen splittert dies Modell Tätigkeiten analytisch auf nach Komponenten, um diese einer Optimierungslogik zu unterwerfen. Das Ganze der Gesellschaft driftet ins Irrationale ab, hinter den Formeln von mündiger Selbstbestimmtheit setzen sich krude Interessen als neuartige Fatalität durch.

Es ist klar, daß bei dieser Realitätskonstruktion zwei Beteiligte schlecht abschneiden: Gott und der Mensch. Entfallen beide, ist die Kultur kein Organismus mehr, vermittelnd zwischen Natur und Übernatur, sondern eine Maschine, der Mensch bloß Anhängsel des Mechanismus.

Gott bleibt ausgeschlossen, hatte doch gerade Er die moderne Perfektion behindert. Alle Weltbemächtigung hatte sich zuvor gebrochen an der "Weltachse", der transzendenten Dimension. Erst wenn diese Potenz absorbiert wird von der horizontalen Bewegung unendlichen Fortschritts, selbstläufiger "Autonomisierung", ist Gott völlig "empirisch" geworden und "Gesellschaft" als hochkomplexes, offenes Experiment mit ungewissem Ausgang total. Religiosität wird nunmehr als "Funktion" privatisiert, die Bezugnahme auf Gott überall sonst als "unsachlich" ausgeschlossen: als Absolutes gegenüber dem Relativen, als Ewiges gegenüber dem Vergänglichen, als Einheit gegenüber dem Mannigfaltigen, als Ganzes gegenüber dem Teil.

Peter Berger hat gezeigt, wie sehr Säkularisierung und Pluralisierung Hand in Hand gehen. Die "prinzipienpluralistische" Industriegesellschaft (Gehlen) mutet dem Menschen als Rollenträger zu, unterschiedlichste Funktionsfelder, miteinander inkompatible soziale Räume mit allen Widersprüchen auszubalancieren und diese "Pluralität von Weltaspekten" zu integrieren. Säkularisierung als "Tod Gottes" resultiert subjektiv aus diesem Dilemma, so Karl Rahner, indem der Mensch in der diffusen Lage zu scheitern droht, diese nicht mehr in die Entscheidung auf Gott hin fokussieren kann.

Das "Projekt der Moderne" rechnet nicht mit dem konkreten Menschen, vielmehr auf Gattung und "Gesellschaft" als anonyme Größen, was mir freilich wenig hilft, bin ich doch sterblich, muß ich doch handeln, eine Biographie organisieren, entscheiden.

Festzuhalten bleibt: Unsere sprachliche Ordnung ist weder anthropomorph noch theonom.

Der Emanzipationsbetrug am Menschen vergiftet auch die Wirklichkeit, die ihre einladenden und verwandten Züge verliert und zu einer schreckhaft monströsen, opaken Größe verfratzt, ohne Sinn und Transparenz. Existentialistisch gewinnt sie den Charakter des Absurden, des Labyrinths, eines Dschungels, worein sich der Mensch geworfen fühlt, gefesselt in seiner nichtigen Existenz. Dem entspringt dann verzweifelter Drang zum Sein und "metaphysischer Durst".

Das ist die Stunde der Gnosis und ihrer Wiederkehr als einer ewig mythischen Möglichkeit. In Fremdheit verstrickt, erahnt die Seele die wahre Natur und ihre Abkunft aus der himmlischen Welt. Die antike Gnosis artikuliert die Krise des Hellenismus, die Überwältigung von Daseinsfreude durch Pessimismus als generelle Unheilsituation, aus der sich der Geist nach Befreiung sehnt.

Hier sind die sogenannten Traditionalisten lokalisierbar. Von vielfältiger Überlieferung ausgehend, bemühen sie sich darum, essentielle Gemeinsamkeiten interreligiös aufzuzeigen. Eine magisch-aktivistische Variante dieses mystischen Weltbilds verkörpert nun Julius Evola. Bei ihm zeigt sich dreierlei: Die gnostische Kosmologie vom Sturz des Geistes in die Finsternis wird geschichtsmythologisch umgedeutet und mit Hilfe der Vier-Zeitalter-Lehre systematisiert. Zweitens werden die mythischen Themen nicht mehr nur beschrieben, sondern zu einer hermetischen Doktrin konfiguriert, die dann eine interpretative Norm abgibt, einen generellen Schlüssel zur Welt. Hellsichtige Zeitkritik geht da Hand in Hand mit fundamentalistischen Obsessionen.

In diesem gedanklichen Kontext ist der Beitrag von Alexander Barti zu lesen. Er spiegelt unsere postheroische Mentalität im spirituellen Pathos und dem militanten Opfermut der Islamisten. Bei allem Respekt bleibt der Gewaltaspekt irreduzibel und Bartis Reverenz vor einem Existentialismus der Tat, der nach keinen Inhalten mehr fragt, dem es nur mehr formal auf seine finstere Bereitschaft ankommt, fragwürdig.

Solchem politisch-spirituellen "Dezisionismus" ist entgegenzutreten. Es gilt, wie verzweifelt schwer auch immer, zwischen Scylla und Charybdis durchzukommen, also zwischen dem System des "letzten Menschen", dem "Blinzeln" der Spaßgesellschaft und ihrer Banalisierung von Mensch und Gott und einem Fundamentalismus, der die Wahrheitsfrage stark macht, aber an der konkreten Erfahrung scheitert. Wir sollten vielmehr das konstruktive Potential von Mystik, Traditionalismus und Vedanta erkennen. Der religiöse Monismus, der immer nach der metaphysischen Einheit in der Vielfalt der Erscheinungen, auch Religionen fragt, liefert ein Modell, absolute Wahrheit mit zeitlicher Erfahrung nicht-dualistisch zu vermitteln. Hier liegt ein Schlüssel für den interreligiösen Dialog und eine pluralistische Religionstheorie, wie Indien nicht müde wird zu betonen.

Das heißt freilich auch: sich verabschieden von prophetischem Exklusivitätsdenken und mosaischer Verwerfung, dem "Absolutheitsanspruch" des Christentums und neuzeitlichem Konfessionalismus, ganz zu schweigen von illusionärer Autoritätsgläubigkeit, die eh der moderne Säkularismus abgeräumt hat.

Dagegen läge im traditionalen Weltbild gerade für Konservative und Rechte der Schlüssel zum Konzept eines alternativen Universalismus, jenseits der westlichen Globalisierung.

 

Wolfgang Saur, Jahrgang 1959, Germanist, lebt als freier Autor in Berlin.


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