© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/04 02. Januar 2004

Glauben
von Alexander Barti

Für jeden Bürger ist der Gedanke an einen "Gottesstaat" seit jeher ein Greuel. Vor seinem geistigen Auge erscheinen bei diesem Wort fanatisch verzerrte Gesichter und Menschen, die sich als Selbstmordattentäter mit selbstgebastelten Bombengürteln an belebten Plätzen in die Luft sprengen. Oder besoffene Kreuzritter, die raubend und vergewaltigend über das Mittelmeer fahren. Die Fanatiker von heute behaupten doch tatsächlich, durch ihr furchtbares Tun direkt in ein ominöses "Reich Gottes" einzuziehen - obwohl sie doch tot sind und ihre Körperteile zerfetzt im eigenen Blut schwimmen. Was jedem Bürger einleuchtet, nämlich daß die "Gotteskrieger" einem schrecklichen Irrtum unterliegen, weil sie einfach nur tot sind, weist auf die Quelle dieses Phänomens: Hier zeigt sich eine merkwürdige innere Haltung. Menschen, die zum rituellen Selbstmord bereit sind, müssen anders sein als der Rest. Fest steht, daß es sich nicht um eine allgemeine Art von Geisteskrankheit handeln kann, wenn junge Männer und Frauen freiwillig in den sicheren Tod gehen. Denn zu dieser Annahme fehlen die medizinischen Anhaltspunkte: Die "Gotteskrieger" sind jung, körperlich gesund und nicht selten überdurchschnittlich gebildet. Wie kann man dieses absurde Phänomen begreifen?

Es muß an einer inneren Verfaßtheit liegen, ob Menschen ein gottesstaatliches Prinzip anerkennen und sogar bereit sind, dafür zu sterben. Innere Verfaßtheit bedeutet aber, daß wir die physikalisch zu begreifende Welt hinter uns lassen und uns Dimensionen zuwenden müssen, die darüber hinaus bestehen. Bei diesem Schritt über die Schwelle des Materialismus steigt der moderne Bürger in der Regel aus. Er kann sich noch allenfalls vorstellen, daß es psychische Erklärungen für das Phänomen "Selbstmordattentäter" gibt: frühkindliche Störungen oder sexuelle Komplexe verursachen im Zusammenhang mit religiösem Eskapismus eine Disposition zum TNT-Suizid. Aber die Freudschen Analysen - übrigens auch nur ein Produkt modernen Denkens - greifen zu kurz.

Warum leben wir? Um Gott zu verherrlichen - lautete seit Jahrtausenden die Urthese der menschlichen Existenz. Das heißt Gott in allen Dimensionen unseres Daseins zur Geltung zu bringen. Denn nach Überzeugung der Gläubigen sind wir Geschöpfe dieses Gottes, ganz und gar von ihm abhängig und daher zu Dank und Dienst verpflichtet. Gegen diese Vorstellung zieht seit ebenso langer Zeit ein Gegenprinzip zu Felde, welches die Menschen dazu auffordert, die Verbindung zum Zentrum allen Seins zu verneinen. Denn als die Welt noch in Ordnung war, befanden sich alle Menschen im Mittelpunkt; erst der Sturz in die Materie schleuderte sie aus dem Zentrum heraus. Seitdem bewegen wir uns in zwei Richtungen, denn es gibt prinzipiell nur zwei Menschentypen: Der eine Typus bewegt sich auf das Zentrum zu, der andere von ihm weg. Weil es eine dritte Möglichkeit nicht gibt, stehen sich beide Menschentypen unversöhnlich gegenüber. Einen Ausgleich kann es nicht geben, denn das hieße Stillstand auf dem Marsch von und zum Zentrum - was gleichbedeutend ist mit dessen Verneinung. Soweit das abstrakte Szenario.

Betrachtet man nicht nur einzelne Menschen als Träger eines göttlichen Prinzips, sondern bezieht man auch ihre Vielheit mit ein - also die Völker der Erde -, erkennt man sehr schnell, daß auch sie Träger dieses Prinzips sein können. Denn sie erschaffen und leben entweder in einer säkularisierten Kultur - oder in einer geheiligten. Bis zur Renaissance waren die Völker Europas ohne Zweifel nach heiligen Prinzipien geordnet. Vom Tagesablauf einer einfachen Bäuerin angefangen bis hin zu dem des Königs war alles nach dem "Mehr-als-Leben" ausgerichtet. Das europäische Mittelalter war daher auch die Zeit der letzten christlichen "Gotteskrieger", die auszogen, das "Heilige Land" zu befreien. Der Materialist wird in diesen Kreuzzügen selbstverständlich nichts Heiliges entdecken können, im Gegenteil, er verweist auf schreckliche Mißbräuche eines entfesselten Mobs. Doch das ändert nichts an der Tatsache, daß die Motivation der Ritter und ihrer Begleiter hauptsächlich die Erlangung eines übernatürlichen Ziels war. Aber nicht nur wer sein Schwert in den Leib eines Ungläubigen senkte, vollzog einen Gottesdienst: in dem gleichen Bewußtsein kultivierte der Landwirt seinen Acker, fertigte der Handwerker sein Produkt, hütete die Hausfrau das Herdfeuer. Alle Tat war ein heiliges Ritual. Wer jetzt auf "soziale Mißstände" des frühen Mittelalters verweist, oder gar die "Willkür" feudaler Herrschaft anprangert, kann aus einem inneren Mangel heraus nicht erfassen, was die Metaebene dieser Kultur bedeutete - weitere Erläuterungen sind daher vertane Liebesmüh. Die Bindung an das Heilige wird mit Beginn der Renaissance immer schwächer, so daß auch die Lebensziele immer profaner werden. Am vorläufigen Ende dieses langen Sturzes in die Finsternis steht die Parodie einstiger Kreuzzüge: Die modernen Soldaten - im übrigen auch sie nur Zerrbilder des abendländischen Kriegeradels - kämpfen für die Errungenschaften deregulierter Märkte und sterben und töten für die "Würde" ihrer eigenen Erbärmlichkeit.

Im Alltag der europäischen Jetztzeit ist von Metaphysik nichts mehr zu erkennen. Es herrscht die klirrende Geschäftigkeit untoter Krämerseelen, die nur durch eine schrille Ablenkungsindustrie ihre jämmerliche Existenz ertragen können. Wird auch die Ablenkung zu schwach, öffnen sich die Tore zu den pharmazeutisch-narkotischen Knästen. Und mit ein bißchen Glück bleibt man für den Rest des irdischen Lebens wenigstens medizinisch "gut versorgt". Die göttlichen Kulthandlungen, die notwendig sind, um den Menschen immer wieder nach "oben" zu öffnen, sind zu einem interreligiösen Dialog entartet. Die geweihten "Brückenbauer" können die Stege von einst nicht mehr errichten, denn es fehlt an Wissen, Wollen und Kraft. So flüchtet man sich lieber in sentimentale Worthülsen über soziale Gerechtigkeit: Der Priester erstarrt zum unbegabten Sozialarbeiter und begeht Hochverrat an seiner Berufung.

Der Leichengeruch des Abendlandes wurde schon vor Jahrhunderten deutlich gespürt. Ganz besondere Schlaumeier der westlichen Zivilisation glaubten das Problem ihres peinlichen Verfalls zu lösen, indem sie Gott einfach für tot erklärten. Was von den illuminierten Moderatoren den Massen als genialer Schachzug menschlichen Geistes verkauft wurde, steht in Wahrheit nicht über dem Niveau eines verängstigten Kindes: Wenn ihm ein Schatten im Keller zu bedrohlich erscheint, schaut es schnell weg und redet sich ein, daß dort nichts ist. Nur zu dumm, wenn der "Onkel" dann trotzdem neben ihm steht.

Denn eines steht fest: Nicht das Heilige braucht den Menschen, sondern umgekehrt, das Erschaffene benötigt den Schöpfer. Wird dieses eherne Gesetz gebrochen, entfesseln sich die chaotisierenden Kräfte - die Kultur wird eine "Kultur des Todes", die sich selbst in immer rasenderem Tempo verzehrt.

Bisher wurden in den fortschrittlichen Zivilisationen nur Millionen von Embryonen ermordet, aber inzwischen beginnt man auch das Lebensende der Durchgekommenen zu regulieren. Wer heute aus Altersgründen nicht mehr operiert werden soll, wird morgen schon aus gleichen Gründen ganz entsorgt. Denn wenn der Mensch das Maß aller Dinge ist, wer könnte ihm verbieten, die Lebenszeit "im Namen der Bevölkerung" auf 70 Jahre zu begrenzen? Da der Mensch zu allen nur erdenklichen Perversionen fähig ist, wird er - allein oder als Masse - alle erdenklichen Perversionen durchprobieren, solange ihn nicht etwas Höheres in Schach hält. Der Humanismus hat dem Menschen eingeredet, er müsse auf seinen Wächter nicht mehr hören. Und prompt feiert der solchermaßen Gewürdigte die blutigsten Orgien zur Verherrlichung seiner selbst.

Inmitten der virtuellen Ruinen westlicher Zivilisation erheben sich die gänzlich Anderen, um sich für etwas Jenseitiges zu opfern. Es ist dabei unerheblich, für welches "Reich" sie ihr Opfer bringen, wie genau ihr Glaube aussieht. "Gott ist das Ziel, der Prophet der Führer, der Koran die Verfassung; der Heilige Krieg weist den Weg, und der Tod für Gott ist die innigste Sehnsucht", lautet etwa die Hamas-Charta vom August 1988. Sie gehen ihren Weg, unverstanden, geächtet von den Satten und Lauen. Denn "keine materiellen Vorteile, keine Posten sind mit der Mitgliedschaft zu erringen, es ist einfach eine Glaubensentscheidung". Ob sie auf dieser Erde "gewinnen" werden, ist ebenfalls unerheblich. Nicht ausgeschlossen, daß auch sie mit der Zeit weich und lebensversichert werden. Dann kommen andere Kultgemeinden und werden erneut Träger eines realen Opfergangs. Denn der Durst nach der Nähe Gottes bleibt für die wenigen ein quälendes Verlangen; und was die einen nur erhoffen, erstürmen sich die anderen mit Gewalt. Wir braven Europäer können das nicht mehr verstehen - das Tor zum "Reich Gottes" bleibt für uns schon lange geschlossen.

 

Alexander Barti, Jahrgang 1974, ist Publizist und lebt in Budapest.


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