© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/04 02. Januar 2004

Pankraz,
I. Kant und die Freiheit der Gehirnforscher

Einige Gehirnforscher haben im letzten Jahr mit großem Aplomp versucht, uns den freien Willen auszureden, und sie werden das auch im neuen Jahr versuchen. "Die Diskussion ist im vollen Gange", heißt es selbstzufrieden. Bei Lichte betrachtet sind es aber nur uralte philosophische Ladenhüter, die da - in neuem Gewande - hin und her gewendet werden.

Man hat neuronale Ströme tomografiert, die abliefen, wenn der Proband etwas Bestimmtes wollte, und weil die Ströme (angeblich) schon zu fließen anfingen, noch bevor der Proband seinen Gedanken gefaßt hatte, soll der Neuronenstrom nun also "die Ursache" für den Gedanken sein. Ähnlich hat vor anderthalbtausend Jahren der hl. Augustinus argumentiert, nur daß er statt der Gehirnströme den lieben Gott bemühte.

Mag sein, räumte er ein, der Wille will dies und das, doch wie steht es mit ihm selbst, der allem Wollen vorausgeht? Können wir auch etwas gegen den Willen selbst wollen? Nein, sagte er, gegen den Willen selbst können wir nichts wollen, der Wille selbst steht nicht in der Beliebigkeit, er ist nicht frei, es gibt keine vom Willen und damit von Gott dispensierende Willensfreiheit.

Später fiel ihm freilich ein, daß wir Menschen seit Adams Sündenfall "in der Schuld" leben und daß das Aus-der-Schuld-heraus-Leben, diese pure Amoralität, doch eine Art von (negativer) Willensfreiheit konstituiert. Im Namen der Schuld denken wir gegen Gottes Güte an - und sind damit frei, freie Gefährten des Teufels nämlich. Bei den modernen Gehirnforschern wird sich dieser augustinische Erkenntnisschritt auch noch einstellen. Wir können, werden sie realisieren müssen, gegen unser Gehirn andenken, und damit sind wir frei, auch wenn wir dadurch leicht in unmoralisches und vielleicht sogar unwissenschaftliches Gelände geraten.

Kein Gott und kein Neuronenstrom hindert ja einen Gehirnforscher zu denken: "Das, was mir da mein Kernspintomograph zeigt, paßt mir aber gar nicht in den Kram. Ich werde es also einfach ignorieren." Mit solchem Entschluß riskiert er unter Umständen seinen Ruf als korrektes Mitglied der "scientific community", aber er beweist damit gleichzeitig, daß er wahrhaft frei ist, daß er über Willensfreiheit verfügt und daß sein Gehirn kein Kommandogeber und Unteroffizier ist, sondern lediglich ein hochkomplexes natürliches Werkzeug der Weltorientierung und des Überlebens.

Keine Moral und nicht einmal ein auch nur halbwegs geordnetes menschliches Zusammenleben wären möglich, falls es sich anders verhielte. An dieser Einsicht sind bisher alle Leugner der Willensfreiheit gescheitert. Nach den Augustinern und vor den Gehirnforschern waren es die Milieutheoretiker und die Genetiker, die das lernen mußten; sie sprachen und sprechen in Kriminalprozessen von "verminderter Zurechnungsfähigkeit" oder von "eingeschränktem Urteilsvermögen" usw., doch an der prinzipiellen Willensfreiheit des Angeklagten konnten sie niemals rütteln.

Die Wissenschaft (und damit auch die Gehirnforschung) ist für das Problem der Willensfreiheit gar nicht zuständig, wie schon Kant erkannte. Wir können nie vollständig wissen, ob und inwieweit wir bei unseren Willensent­scheidungen von "objektiven" Ursachen, von der Einwirkung irgendwelcher Gene, Säfte oder Milieus bis auf den Grund determiniert werden. Andererseits müssen wir einfach davon ausgehen, daß der Mensch in seinen Entscheidungen grundsätzlich frei ist. Wir müssen die Willensfreiheit, genau wie das Kant gesehen hat, als Bedingung aller Sittlichkeit akzeptie­ren, obwohl wir sie durch die Kategorien der "gedachten und er­kannten" Erfahrung nicht festmachen können. Das heißt, wir müs­sen sie als Imperativ postulieren.

Nach den Prinzipien der gedachten und erkannten Erfahrung ist je­des einzelne empirische Wollen durch ein anderes, also durch ein inhaltliches Motiv, kausal bestimmt. Die Freiheit kann insofern prinzipiell nicht Gegenstand des Wissens sein, als die­ses es mit Zusammenhängen zu tun hat, sie ist eine Ange­legenheit des Glaubens, aber eben eines Glaubens, der im "Übersinnlichen", wie es Kant formu­liert, ganz dieselbe Dignität und Notwendigkeit in Anspruch neh­men kann wie im Bereich der sinnlichen Erfahrung die Grundsätze des Verstandes, eines apriorischen Glaubens mithin.

Kant überschreitend, ließe sich allenfalls fragen, ob sich die von ihm so genannte "gedachte und erkannte Er­fahrung" (womit er die mathematisch-kausalitäre, reduktionistische Methode der mo­dernen Naturwissenschaft meinte) denn wirklich so grundle­gend und absolut von der imperativ-postulativen Methode der Ethik unterscheidet. Es ist wohl wahr: Keine noch so feine Ethik-Analyse kann die Grundlagen der Moralität mit gleichsam mathematischer Axiomatik festlegen, sie beruht letztlich stets auf willkürlichen, aus der konkreten Lebenssituation sich ergebenden Setzungen. Aber ist das denn, so ließe sich im Lichte neuester Erkenntnisse fragen, in den Naturwissenschaften mit ih­rer Kausalität als Generalprinzip anders?

Es ist zwischen dem Wissen der Naturwissenschaft und dem Postulieren der Ethik, so dämmert heute vielen, ein viel kleinerer Unterschied, als Kant noch anzunehmen schien. Und das gibt uns zusätzliche Zuversicht, daß die Konklusio­nen und Versprachlichungen der traditionellen Ethik Bestand haben und weiter Respekt genießen werden.

Die Welt wird sich nicht zur "betreuten" (durch die Gehirnforscher betreuten) Welt wandeln, in der es keine Freiheit und keine Moral mehr gäbe, sondern nur noch "Patienten", und in der nur noch medizinische Weißkittel darüber entscheiden dürften, wer von den Zeitgenossen noch einigermaßen "Auslauf" hat und wer voll in der Klapsmühle verschwindet. 2004 ist "Kantjahr" (zweihundertster Todestag am 12. Februar). Immanuel Kant wird helfen.


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