© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/04 02. Januar 2004

Kanzler des Abschwungs
Reformstau hält an: Wie Regierung und Opposition Deutschland ausbremsen
Alexander Griesbach

Die im Dezember vorigen Jahres auf den Weg gebrachten Arbeitsmarkt- und Steuerreformen seien ein Signal, daß Deutschland sich bewege: So kommentierte Bundeskanzler Gerhard Schröder die Verabschiedung der entsprechenden Gesetze in Bundestag und Bundesrat. Das Land stelle sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, namentlich der Globalisierung und einer radikal veränderten Bevölkerungsstruktur. Mit der tristen Wirklichkeit in Deutschland haben diese selbstzufriedenen Bekundungen indes wenig zu tun. Es steht weiter - um nur einige wenige Problemfelder zu nennen - eine echte Steuerreform aus, das Gesundheits- und das Rentensystem stecken nach wie vor in der Krise, eine zielgerichtete Familienpolitik ist nicht zu erkennen, und die Arbeitslosenzahlen sind unverändert hoch.

Der desolate Zustand der Sicherungssysteme wird vor allem der SPD angelastet. Die Union, die in 16 Jahren Regierung Kohl einen Gutteil zu deren Zerrüttung beigetragen hat, liegt nach den letzten Meinungsumfragen bundesweit bei über 50 Prozent. Die SPD befindet sich dagegen mit 28 Prozent auf einem neuen Rekordtief. Es ist kaum zu erwarten, daß es der SPD im Superwahljahr 2004 gelingen wird, diesen Trend umzukehren. Ende Februar stehen bereits die Neuwahlen zur Hamburger Bürgerschaft an. Hier zeichnet sich laut Forsa-Umfrage eine absolute Mehrheit der Mandate für die CDU ab. Mitte Juni folgen die Europawahl, die Landtagswahl in Thüringen sowie Kommunalwahlen in einer Reihe von Bundesländern. Im September stehen dann die Landtagswahlen im Saarland, Brandenburg und Sachsen an. Ein weiterer Stimmungstest für die SPD dürfte nach den zahlreichen lokalen Korruptionsaffären auch die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen Ende September des Jahres werden.

Der dramatische Sympathieverlust, mit dem die Sozialdemokratie zu kämpfen hat, muß tiefere Ursachen als den vermeintlichen Unmut des Volkes mit den Reformvorhaben der rot-grünen Regierung haben. Viele Deutsche haben inzwischen eingesehen, daß es drastischer Einschnitte bedarf, wenn Deutschland weiter in der ersten Reihe der Industriestaaten stehen will. Aus dieser Einsicht kann die SPD aber kein Kapital schlagen. Ganz im Gegenteil: Die Unionsparteien, deren Reformvorstellungen nicht überzeugender als die von Rot-Grün sind, legen in den Meinungsumfragen immer weiter zu.

Die Gründe für den Niedergang der deutschen Sozialdemokratie müssen also tiefer liegen. Sie haben mit dem Verlust der Voraussetzungen sozialdemokratischer Politik zu tun. Zu diesen Voraussetzungen gehörte bisher unter anderem, daß das hohe Niveau der sozialen Sicherung, wie wir es in Deutschland lange Zeit gewohnt waren, mehr oder weniger problemlos durch das Steueraufkommen finanziert werden konnte. Die uneingeschränkte Mobilität des Kapitals hat aber dazu geführt, daß die Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen erheblich schwieriger als früher geworden ist.

John Gray, ein englischer Wirtschaftswissenschaftler, der sich vom Cheftheoretiker der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher zum exponierten Kritiker der Globalisierung gewandelt hat, brachte diesen Zusammenhang auf den Punkt: Die globalisierten Kapitalmärkte hätten eine "sozialdemokratisch orientierte Politik praktisch unmöglich gemacht". Damit steht auch ein Begriff zur Disposition, der bis heute zum Kernbestand sozialdemokratischer Politik gehört: der der "sozialen Gerechtigkeit". Soziale Gerechtigkeit läßt sich offenbar nur in einer geschlossenen Volkswirtschaft verwirklichen. In offenen Ökonomien muß soziale Gerechtigkeit eine Illusion bleiben, weil das Kapital jederzeit die Möglichkeit hat, abzuwandern.

Vor dem Hintergrund heutiger ökonomischer Rationalität wirkt es geradezu hilflos, wenn Bundeskanzler Schröder prominente Deutsche attackiert, die wegen niedrigerer Steuern ins Ausland ziehen. "Wir können die Freizügigkeit nicht einschränken, aber wir sollten dieses Verhalten gesellschaftlich ächten", erklärte Schröder und fügte hinzu, daß mit solchen Leuten kein Staat zu machen sei. Diese Äußerung ist auch ein Reflex auf den Wettbewerbsdruck, dem sich Staaten, die an einer sozialen Marktwirtschaft festhalten wollen, ausgesetzt sehen. Was heute gerne als "Reformen" gefeiert wird, nämlich die fortschreitende Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Einsparungen bei den Sozialausgaben, ist bei Lichte betrachtet nichts anderes als eine Defensivstrategie, zu der der internationale Steuerwettbewerb zwingt. Dieser Wettbewerb bringt eine Erosion der öffentlichen Finanzquellen mit sich, die dem Wohlfahrtsstaat mehr und mehr die Grundlage entzieht.

Diese Situation dürfte sich mit der EU-Osterweiterung weiter verschärfen. Völlig unklar ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt, welche Konsequenzen der EU-Beitritt von Litauen, Lettland, Estland, Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern im Mai dieses Jahres für Deutschland haben wird. Die Befürchtung, Einwanderer könnten für noch mehr Arbeitslosigkeit sorgen, kann trotz aller Propaganda nicht von der Hand gewiesen werden. Dazu kommt, daß allein schon wegen der zurückgehenden EU-Förderung für Mitteldeutschland aus deutscher Sicht die Nachteile einer EU-Osterweiterung überwiegen werden. Ursache und Wirkung sollen aber nicht verwechselt werden. Ursache für die großen Probleme gerade in Mitteldeutschland ist ein Lohn- und Gehaltsniveau, das sich nahe bei jenem der alten Bundesländer bewegt und die Arbeitsproduktivität im Osten kaum widerspiegelt. Im Gegensatz dazu sind die Löhne und Gehälter in den Beitrittsstaaten nie per Gesetz festgelegt worden. Deshalb können sie sich als attraktive Wirtschaftsstandorte präsentieren. In Zukunft dürften deshalb noch mehr deutsche Unternehmen Teile ihrer Produktion in Tschechien, Polen oder anderswo in Osteuropa abwickeln.

Die Krise, in der sich die deutsche Sozialdemokratie befindet, ist eine grundsätzliche. Sie hat diese Krise mitverschuldet. Der unreflektierte Internationalismus, der bis heute große Teile der SPD bestimmt, schlägt jetzt mit voller Härte auf die Genossen zurück. Abzuwarten bleibt, wie das sich abzeichnende Vakuum, das die SPD hinterlassen wird, gefüllt wird. Derzeit profitierten vor allem die Unionsparteien. Das Hoch der Union dürfte allerdings nur vorübergehender Natur sein, unterscheidet sich deren Politik doch nur noch partiell von der der heutigen SPD. Ob der Parteienstaat bundesdeutscher Prägung in der Lage ist, auf den bevorstehenden Umbruch eine Antwort zu finden, darf bezweifelt werden.


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