© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 01/05 31. Dezember 2004

Pankraz,
das Horoskop und der dreimal große Hermes

Bei der letztjährigen Silvesterfeier, beim gemeinsamen Bleigießen und In-die-Zukunft-Schauen, merkte Pankraz zu seinem Erstaunen, daß gleich zwei seiner Gäste, keine "Spinner", sondern sachliche, gebildete Leute durchaus, die Sache ernster nahmen, als sie es wohl verdiente. Sie glaubten, so kam heraus, "an die Sterne", lasen regelmäßig in der Bild-Zeitung die für sie zuständigen Horoskope und ließen sich jetzt auf eine engagierte, fast leidenschaftliche Debatte über Tierzeichen und Astrologie ein, die erst durch die Neujahrsglocken zum Verstummen gebracht wurde.

Einer nannte einige Namen überzeugter Astrologie-Anhänger; es hörte sich an wie ein "Who's who?" aus den Spitzen von Politik und Wirtschaft. Der andere sagte: "Was der große Hermes Trismegistos verlautbart und was sich so lange gehalten hat, kann kein blanker Unsinn sein." Er spielte damit auf die Schriften des "dreimal großen Hermes" an, einen geheimnisumwitterten Korpus, der seit der Spätantike und bis in die Renaissance und in die Goethezeit hinein von faktisch jedem Gelehrten mit heißem Bemühen studiert wurde und dessen Kern (neben der Alchemie) eben die Astrologie ist.

Die Welt, lehrt Hermes Trismegistos, ist eine Kugel mit einem vollkommen finsteren Zentrum, das ring­schalenförmig von den sogenannten Sphären umgeben ist. Die Oberfläche unserer Erde ist die unterste Sphäre, die Gestirne aber fahren auf höheren Sphären um das Zentrum herum, und sie sind Geister, die den Astronomen als Lichtpunkte, als Feuerquellen, erscheinen. Hinter der letzten Sphäre beginnt das Reich Gottes, dessen Substanz der Äther ist, eine ganz und gar unmeßbare Sub­stanz, gleichsam das Nichts, doch ein aufgeladenes, von Vollendung durchwaltetes Nichts, ein wohltätiges, erstrebenswertes Nirwana.

Aus dem Äther fällt das Licht auf die Erde herunter, und die Gestirne sind erstens Geschöpfe dieses Lichts, andererseits aber auch Verhinderer des Lichts, enge Durchgangsschleusen und so eine Art Photonen-Staubsauger. Da sich buchstäblich alles von oben herunter aus dem Äther ergießt, also auch unsere Seelen, muß es, müssen unsere Seelen, die diversen Gestirne passieren und sind ihren Einflüssen ausgesetzt. Und noch einmal müssen sie die Ge­stirne passieren, nämlich wenn sie, nach dem Tod von der Last der Materie befreit, wieder nach oben steigen, um in die Gött­lichkeit des Äthers einzugehen.

Das unerforschliche Schicksal, die "Heimarméne", wie Hermes sagt, bestimmt, wo sich die Gestirne auf ihrer Sphä­renkugel gerade befinden, wenn unsere Seele auf ihrem Weg nach unten oder oben ihre Sphäre passiert, in welchem Sternbild wir also geboren werden oder sterben. Und diese Passagen, speziell die erste, die Geburts-passage, haben einen gewaltigen, ja, prägenden, entscheidenden Einfluß auf unsere Exi­stenz. In wessen Sternbild wir stehen, dessen besonderer Kräfte und Eigenheiten werden wir teilhaftig, im Guten wie im Bösen.

Das Schicksal ist unabwendbar, aber wir können uns darauf einstellen, indem wir ein Leben im Zeichen der Gestirne, im Zeichen unseres Sternbilds, führen. Zunächst gilt es da, herauszufinden, welche Dinge und Phänomene ebenfalls in welchem Sternbild stehen, Steine, Pflanzen, Tiere, Mitmenschen. Rückt ein Sternbild in seine Kalendertage, dann werden alle diese Dinge mit entsprechenden magischen Kräften aufgeladen, und es kommt darauf an, sie nun irgendwie zu aktivieren oder zu deaktivieren, durch seit uralten Zeiten überlieferte Geheimwörter, aus denen die hermetischen Gelehrten Verhaltensregeln, Horoskope, basteln.

Ich gehe also an einem bestimmten Tag nicht ins Freibad schwimmen, weil ich da, wie mein Horoskop sagt, bevorzugt leicht ertrinken könnte. Oder ich setze im Lotto freiweg auf Gewinn, weil meine Sterne "günstig stehen" usw usw. Das also steht schon im Hermes Trismegistos und hat, wie bekannt, eine ungeheuer ausgedehnte Folgewissenschaft verursacht, die für uns heutige Aufgeklärte natürlich eine Afterwissenschaft, eine Pseudo-Wissenschaft, ist, über die wir lachen oder lächeln oder die wir gar bekämpfen. Doch es gibt tatsächlich einiges anzumerken.

Einerseits beeindruckt jeden Historiker und jeden Seelenforscher die Ausgedehntheit dieser astrologischen Wissenschaft und die Intensität, mit der sie jahrhundertelang, ja, jahrtausendelang betrieben wurde. Es waren keine Dummköpfe, die sie be­trieben, sondern es waren jeweils die Eliten der alten Hochkulturen, die Erzpriester und Himmelsbeobachter, dann das Gros der besten Philosophen in der Spätantike und dann verstärkt wieder in der doch so fortschrittlichen Renaissance. Trotzdem alles Humbug?

Und festzuhalten wäre auch noch dies: Indem die alten Gelehrten Astronomie und Astrologie, Sternenkunde und Seelen­kunde, verbanden, machten sie die erstere, die Sternenkunde, bei den Menschen erst wirklich interessant. Was oben passiert, das passiert auch in meinem Inneren - mit einem solchen Paradigma weckte man das Interesse, das notwendig war, um die Astronomie überhaupt erst in Fahrt zu bringen. Dagegen heute? Heute haben wir zwar unsere modernen Teleskope, aber erschüttern kann uns keines ihrer Beobachtungsergebnisse mehr.

Satelliten-Erkundungen in der näheren Erdumgebung bezeugen, daß es sich bei den anderen Pla­neten um trostlose, lebensfeindliche Staub- und Gaswüsten han­delt, und was uns die Observatorien über weit entfernt liegende Raumphänomene mitteilen, klingt mittlerweile derart abstrakt, daß wir immer mehr geneigt sind, nicht mehr an irgendwelche realen Welten, sondern nur noch an bloße Formeln zu glauben, die nicht das geringste mit unserem Schicksal zu tun haben.

Bleibt der Trost der alten, hermetischen Astrologie. Ihre Horoskope liefern uns immerhin Lebensanweisungen, die meistens irgendwie zu gebrauchen sind, ob sie in den Sternen stehen oder nicht.


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