© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/03 05. Dezember 2003

Die Dialektik des Chaos
Der CDU-Parteitag beschließt widersprüchliche Pläne zur Steuer- und Gesundheitspolitik
Kurt Zach

Ein SED-Parteitag war kaum langweiliger: Die Delegierten klatschen, wo es die Regie erwartet, und segnen geduldig alles ab, was Politbüro bzw. Parteivorstand ihnen vorsetzen - auch wenn die einzelnen Teile des großen Reformplans sich zum Teil direkt widersprechen. Radikale Steuersenkung auf der einen Seite und Umbau der Sozialsysteme mit massiven steuerfinanzierten Transferleistungen auf der anderen Seite - wie paßt das zusammen? Dem rot-grünen Regierungschaos setzt die CDU ein eigenes unausgereiftes Reformchaos entgegen, dessen größter Pluspunkt ist, daß es so wohl nicht verwirklicht werden wird.

SED-reif waren auch die Abstimmungsergebnisse. Ganze vier Gegenstimmen bei der Herzog-Kopfpauschale, keine einzige bei der Merzschen Steuerreform - das ist kein Beweis für Geschlossenheit, eher schon dafür, daß den Delegierten völlig egal ist, was sie beschließen, Hauptsache, es hört sich gut an und riecht nach Rückkehr an die Macht. Tieferes Nachdenken und kritisches Nachfragen stören da nur, also läßt man es sein.

Noch am solidesten ist das von Friedrich Merz vorgetragene Steuerkonzept, das eine seit Jahren von Ökonomen vorgetragene Forderung aufgreift: Steuerfreibeträge für jedes Mitglied des Haushalts, auch für die Kinder, in der vollen Höhe. Der Ansatz ist richtig: Besser, als den Familien Einkommen wegzubesteuern, um ihnen etwas davon als "Wohltat" wieder zurückzugeben, ist es, ihnen das zum Unterhalt der Kinder erforderliche Existenzminimum gleich in der Tasche zu lassen. Daß dies bei Kindern eher höher liegt als bei Erwachsenen, hätte man getrost noch berücksichtigen können. Gegen Steuersenkung und -vereinfachung ist nichts einzuwenden - gerne hätte man freilich gehört, auf welche Ausgaben der Staat verzichten soll, wenn er weniger Einnahmen hat. Auch bei Wegfall zahlreicher Steuersubventionen bleibt schließlich eine Nettoentlastung von geschätzten zehn Milliarden Euro.

Dennoch: Das Steuerkonzept, das Merz aus lange ignorierten Modellen abgeschrieben hat, ist ein echter Reformansatz. Es durchbricht die Umverteilungslogik, die zwischen das Einkommen und seine Verfügbarkeit den allmächtigen Wohlfahrtsstaat setzt. Statt auf diesem Weg weiterzudenken, beschlossen die Delegierten munter weitere "Reformkonzepte", die das Umverteilungskarussell wieder schneller drehen lassen.

Herzogs "Kopfpauschale" in der Krankenversicherung ist im Unterschied zu Merzens Lesefrüchten eine Kopfgeburt aus Professorenzirkeln, deren Praxistauglichkeit schwer vorstellbar ist. Die Brüche und Ungereimtheiten dieses Konzepts sollen mit steuerfinanzierten Transferleistungen notdürftig überdeckt werden. Sozialausgleich für Monatseinkommen unter 1.400 (Verheiratete 2.800) Euro, Sozialausgleich, wenn die Kopfprämien eines Haushalts 15 Prozent des Bruttoeinkommens übersteigen, die Kindergeldstelle soll pro Kind 90 Euro in die Krankenversicherung einzahlen - da kommt ein satter zweistelliger Milliardenbetrag zusammen. Wo der herkommen soll, bleibt der CDU launiges Geheimnis.

Eine Andeutung gab der saarländische Ministerpräsident Peter Müller am Montag im Deutschlandfunk: Dann müßte eben die Merzsche Nettoentlastung wieder wegfallen, als "Preis für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem". Merz wehrt sich bereits gegen die Verwässerung seines Konzepts durch die Umverteilungsfanatiker. Den Delegierten ist dagegen offenbar gar nicht aufgefallen, daß sie da eben zwei diametral entgegengesetzte Konzepte beschlossen haben.

Ein "zukunftsfähiges Gesundheitssystem" kommt beim Herzog-Modell nicht heraus, eher schon eine Beitragsentlastung für "Besserverdienende" und ein gigantisches steuerfinanziertes Konjunkturprogramm für die privaten Krankenversicherer und andere Lieblingslobbygruppen der CDU wie Ärzteverbände und Pharmaindustrie. Arbeitnehmer wie Unternehmer müssen unterm Strich mehr an den Fiskus zahlen - und eine riesige Umverteilungsbürokratie muß jährlich prüfen, wer warum wieviel Steuergelder für die "Gesundheitsprämien"-Subventionierung bekommen soll!

Von Kostendämpfung im Gesundheitswesen ist bei Herzog keine Rede, und die PKV freut sich schon auf ein dickes Geschäft mit Zusatzversicherungen, für die es natürlich keine Einheitsprämien, sondern markt- und risikoorientiere Prämien gibt. Daß die magische Zahl von 200 Euro bei der Kopfprämie ein Placebo ist, das den Ausstieg aus der solidarischen Krankenversicherung versüßen soll, kann man sich ausrechnen. Ist die Kopfprämie erst eingeführt, wird sie rasant nach oben gehen.

Insgesamt gesehen ergeben die einzelnen CDU-Konzepte ein schlecht zusammengeleimtes Reformmonster. Widersprüche tun sich nicht nur innerhalb der einzelnen Unionspläne auf, sondern auch zu den Vorstellungen der Schwesterpartei CSU. Edmund Stoiber wurde in Leipzig kühl empfangen - nicht mal anderthalb Minuten müden Applaus registrierten die Berichterstatter.

Der offene Streit mit der CSU ist bereits in vollem Gange. Stoiber hat wiederholt den Finger in die Wunde gelegt und die Unionsschwester gewarnt, daß man gegen den Sozialstaat keine Mehrheiten gewinnen kann. Die Differenzen in der Rentenfrage sind so fundamental, daß es - allen Gemeinsamkeitsparolen zum Trotz - keinen faulen Kompromiß geben kann, sondern nur ein Entweder-Oder: entweder Anerkennung des Beitrags der Familien zum Generationenvertrag durch Entlastung innerhalb des Solidarsystems (CSU) oder steuerfinanziert (CDU). Letzteres erscheint kaum realistisch angesichts der sonstigen Umverteilungswünsche der CDU. Die aggressive Gereiztheit, mit der die Kritik aus München an unsozialen und unsolidarischen Maßnahmen quittiert wird, spricht für das Unbehagen der CDU am eigenen undurchdachten Reformbauchladen.

Weder Stoiber noch Herzog oder Merkel verloren im übrigen ein Wort darüber, wie die Belastung der Sozialsysteme durch beitragsfreie Leistungsempfänger zu reduzieren wäre. War da nicht was mit Chipkartenschwarzhandel in Asylantenheimen und Familienversicherung für Anatolien über das deutsch-türkische Sozialabkommen? Wann erfahren die Bürger wohl von einer mutigen Opposition einmal die Wahrheit über die gut verschleierten Umverteilungskosten der Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme? Auch die "Patriotismusdebatte" fand nicht statt. Otto Schily (SPD) hatte das schon am Wochenende für die Union erledigt - mehr als irgendwas über "modernen Patriotismus ohne völkische Scheuklappen" hätte die Union der Jung-opportunisten sich doch nicht getraut.


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