© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/03 28. November 2003

Das Lächeln der Pisa-Sieger
von Albrecht Rothacher

Die Ergebnisse der Pisa-Tests der OECD machten es einmal mehr offenkundig: Neben Finnland erzielten Japan und Korea, die konfuzianisch geprägten Industrienationen des Fernen Ostens, die weitaus besten Ergebnisse. In den Naturwissenschaften und der Mathematik erreichten sie die ersten Plätze, im sprachlichen Verstehen die Ränge 6 und 8. Deutschland, der kranke Mann an Rhein und Spree, landete unter den 32 Teilnehmern bekanntlich abgeschlagen auf den Plätzen 21 und 22, im Umfeld von Polen und Rußland. Österreich, das die meisten Reformtorheiten der 1970er Jahre nicht mitgemacht hatte, erreichte die noch respektablen Plätze 8 bis 11.

Maßen die Pisa-Tests die Leistungen von 15jährigen am Ende der Mittelstufe, so beurteilte die Internationale Mathematik- und Wissenschaftsstudie (TIMSS) die Rechen- und Naturwissenschaftskünste von Achtkläßlern. Wiederum schlossen die Ostasiaten - Singapur, Korea, Taiwan, Hongkong und Japan - am weltbesten ab. Die USA kam auf Rang 19, Deutschland trat gar nicht erst an.

Woran liegt der Bildungserfolg der Ostasiaten? An einem Faktor sicher nicht: an den formalen Schulstrukturen, auf die in Deutschland die Reformdiskussion gerne verkürzt wird. Von der "demokratisierenden" US-Besatzungsmacht wurde 1946/48 in Japan und Südkorea das vorher nach deutsch-französischem Vorbild bestehende dreigliedrige "elitäre" System von Volksschule, Realschule und Gymnasium durch die amerikanische 6+3+3 Sequenz (Grundschule, Junior High, Senior High) ersetzt. Doch wurde diese fremdbestimmte Struktur bald wieder durch die Inhalte der eigenen Kulturtradition gefüllt. So wurde die von den USA dekretierte Schulautonomie durch zentrale Lehrpläne, einheitliche Prüfungen, durch vom nationalen Unterrichtsministerium ernannte Schulleiter und vorgegebene Lehrbücher und Budgets ausgehebelt.

Denn die konfuzianische Welt ist scharf hierarchisiert. Der Zugang zum meritokratischen Mandarinat des öffentlichen Dienstes und der Großbetriebe ist durch strenge Massenprüfungen ausnahmslos genau geregelt. Wer in Japan höherer Beamter der wichtigsten Ministerien oder Führungsnachwuchs der größten Unternehmen werden will, sollte möglichst Absolvent der besten staatlichen (Tokio und Kyoto) oder privaten (Waseda und Keio) Universitäten sein. Denn diese erzielen regelmäßig die besten Ergebnisse der Einstellungswettbewerbe.

In diese Hochschulen wird man aber auch nur nach dem Bestehen härtester Aufnahmetests zugelassen, bei denen sich wiederum nur die Absolventen der besten Oberschulen des Landes auszeichnen. Wenig überraschend ist der Zugang zu diesen Oberschulen vom Bestehen von Eingangsprüfungen abhängig, bei denen nur die Kandidaten einiger hervorragender Mittelschulen gut abschneiden. Auch diese verlangen ihrerseits Aufnahmeprüfungen bis hin zu manchen Privatkindergärten. Der elitäre, selektive Charakter des Bildungssystems blieb also erhalten. Die zwangsweise Übernahme des US-Systems hatte allerdings den Vorteil, das Bildungsangebot für alle Jugendlichen massiv auszuweiten.

Der Zugang zum meritokratischen Mandarinat des öffentlichen Dienstes und der Großbetriebe ist durch strenge Massen-prüfungen geregelt. Wer aufsteigen will, sollte eine der vier besten Universitäten absolviert haben.

Auffällig ist in Finnland wie in Japan und Korea die große kulturelle Homogenität der Völker. In den USA hatten Schwarze und Lateinamerikaner wesentlich schlechtere Ergebnisse als Asiaten und die sogenannten "Kaukasier". Auch in Deutschland schlossen jene städtischen Schulen mit hohen Anteilen bildungsferner nicht-integrationsbereiter Ausländer wenig überraschend besonders schlecht ab. Somit liegt die Vermutung nahe, daß kulturelle Homogenität für den nationalen Bildungserfolg eine Rolle spielt.

Noch entscheidender ist das ungebrochene Bildungsbedürfnis der ostasiatischen Gesellschaften. Das beginnt bei einer steten Neugierde, dem Hunger nach neuen Informationen und Sachverhalten, einem weitverbreiteten lebenslangen Fortbildungswillen, äußert sich aber auch in der universellen Wertschätzung des Gelehrten, formaler Bildungsabschlüsse der Lehrenden selbst, des Respekts vor dem gedruckten Wort, der Kultur des Lebens und Schreibens, des Beherrschens traditioneller und moderner Fertigkeiten und eines hohen persönlichen, möglichst enzyklopädische Ausmaße annehmenden Wissensstandes.

Das Erlernen der rund 2000 chinesischen Schriftzeichen mit ihren zigtausend Kombinationsmöglichkeiten, das erst mit dem Ende der Mittelschule mit einem Kenntnisstand abgeschlossen ist, bei dem eine einfache Zeitungslektüre möglich ist, stellt sicher ein ausgezeichnetes Training des Gedächtnisses und die Einübung einer kollektiven mentalen Disziplin dar. Denn die gesamte Jugend des Landes unterwirft sich dieser täglich mehrstündigen Übung des Schreibens und Erinnerns mindestens neun lange Jahre lang.

Die Bildungsbeflissenheit konfuzianisch geprägter Gesellschaften ist aber nicht nur auf den Erwerb formaler Bildungsprädikate beschränkt. Sie ist lebenslange Praxis.

Der Bildungsauftrag wird vom Elternhaus sehr ernst genommen - oft sogar todernst. Ob eine Frau eine gute Mutter ist, entscheidet sich, ähnlich wie in manchen jüdischen Elternhäusern, erst mit dem formalen Bildungserfolg der Kinder, das heißt mit ihren bestandenen Auswahlprüfungen. Entsprechend hoch ist der soziale und familiäre Erfolgsdruck auf Mutter und Kinder. Der Besuch teurer allabendlicher Nachhilfeschulen ist mittlerweile nahezu universell. Repetitorien für verbummelte Jurastudenten nicht unähnlich, vermögen sie den Prüfungsstoff effizienter als die staatlichen Schulen einzupauken. Spätestens ab dem 10. Lebensjahr, der Vorbereitung auf die Mittelschuleingangsprüfungen, ist für die meisten Jugendlichen Japans und Koreas die sorglose Kinderzeit vorbei. Es beginnt ein Jahrzehnt erbarmungslosen Paukens von Prüfungswissen, unter dem vor allem die kreativeren Geister und die eher praktisch Begabten leiden.

Der Wertschätzung von Bildung entspricht die Hochschätzung der Lehrer. Die Gehälter sind gut. 50.000 Euro beträgt das Jahresgehalt eines 37jährigen japanischen Lehrers ohne Zulagen. Der Ehrentitel "sensei" als Suffix zum Familiennamen steht ihm ebenso zu wie jedem Hochschullehrer. Und will man einem hochverdienten Politiker, von dem man viel gelernt hat, schmeicheln, dann benutzt man es auch für ihn. Keinem japanischen Studienrat käme es in den Sinn, sich als gescheiterten Akademiker zu sehen, dem nach ziellosen Studien- und Selbstfindungsjahren nur noch der Schuldienst offen blieb, wie dies deutsche Pädagogen in ihren veröffentlichten Selbstdarstellungen mittlerweile gerne tun.

Der Lehrer in Ostasien muß allerdings auch nicht täglich das Gefühl haben, mit dem delinquenten und bildungsunwilligen Nachwuchs einer erziehungsunwilligen permissiven Immigrantengesellschaft heillos alleingelassen zu werden. Die Lehrerausbildung für Grund- und Mittelschullehrer findet an Lehrerbildungsanstalten alten Stils mit dem Schwerpunkt einer praxisnahen Methodikausbildung statt. Angesichts der konservativen Prüfungsvorgaben der Ministerien gelten die aktuellen Didaktikmoden geltungsbedürftiger Pädagogikprofessoren sämtlich als entbehrlich.

Gelegentlich ist der Unterricht durch die Reformresistenz des Systems jedoch nachgerade schlecht. Im Fremdsprachenunterricht werden fast ausschließlich Grammatikregeln gepaukt und Übersetzungen angefertigt. Die mündliche Einübung des Englischen (oder anderer Fremdsprachen) unterbleibt, nicht zuletzt deshalb weil die meisten Lehrer das Sprechen nie gelernt haben.

Entsprechend mühsam stotternd sind heute die Englischvorträge der meisten japanischen Politiker und Wirtschaftsführer vor internationalen Gremien. Für sie findet alles gleichsam wie auf Latein statt.

Vorbildlich sind in Japan sicher die Lehrbücher. Sie sind optisch und in ihren Texten außerordentlich klar, anschaulich, erklären einfach und deutlich Sachverhalte mit altersgerechtem Bild- und Kartenmaterial, vielen graphischen Darstellungen und Diagrammen. Sie stellen die zu lernenden Regeln und Daten deutlich abgehoben und in kurzen Merksätzen dar. Das Zielpublikum sind offenkundig die Kinder und nicht wie in Deutschland die Kultusbürokraten.

Im Gegensatz zu den typischen europäischen Vertretern des Lehrgewerbes sind die Ostasiaten bereit zur selbstkritischen Analyse der Schwachstellen ihres Bildungssystems, zumal in den Ländern selbst die bildungspolitische Debatte unübersehbar mit großem Engagement geführt wird. Dies wurde bei einem in diesem Sommer auf der koreanischen Insel Cheju von der Asien Europa Stiftung (ASEF) veranstalteten Seminar zum Bildungsvergleich zwischen Europa und Asien deutlich. Dort kritisierten hochrangige Ministerialbeamte aus den Unterrichtsministerien Tokios und Seouls die eigenen Bildungssysteme schonungslos, während sich die Europäer in der Selbstkritik, zu der sie eigentlich mehr Anlaß gehabt hätten, vornehm zurückhielten.

Aktuelle Unterrichtsreformen sollen japanischen Kindern und Jugendlichen mehr Raum zur individuellen Kreativität und Urteilsfähigkeit geben, statt nur konform die herrschende Meinung nachzubeten. Doch soll der Unterricht weiter auf japanischer Tradition und Kultur begründet sein und die Schüler zur Liebe zur Heimat und Nation anleiten.

Direktor Bong Gun Chung vom Kultusministerium in Seoul unterstrich die Wichtigkeit des Bildungssystems für die Wettbewerbsfähigkeit der koreanischen Wirtschaft. Seine Analyse der vermeintlichen Fehlentwicklungen an den koreanischen Schulen war aber noch unverblümter als die des Japaners. So habe der Versuch, die Qualitäten der Mittel- und Oberschulen auf hohem Niveau zu vereinheitlichen, zu jener beispiellosen Ausbreitung der Repetitorien geführt, von deren Besuch sich Eltern und Schüler Wettbewerbsvorteile bei den Aufnahmeprüfungen zu den besten Hochschulen versprechen. Alle Versuche, den öffentlichen und privaten Schulen wieder mehr Autonomie zu gewähren und damit mehr Leistungsdifferenzierung zu ermöglichen, scheiterten am Widerstand der militanten Lehrergewerkschaft.

Ähnlich wie in der jüdischen Familie bemißt sich auch in der konfuzianisch geprägten Gesellschaft der Wert einer Mutter vor allem daran, wie erfolgreich sie ihre Kinder gefördert und auf Leistung gedrillt hat.

Statt den Pisa-Sieg zu feiern, beklagte die koreanische Presse das Motivationsdefizit der Schüler: Bei der Pisa-Umfrage hatten die jungen Koreaner auch die größte Unlust an der Schule und das größte Desinteresse an ihren Lerninhalten bekundet - angesichts des hohen Lerndrucks eigentlich eine gesunde vorübergehende Reaktion. Vielen Schülern und Eltern ist dieser Druck zu stark geworden. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder jetzt auf Oberschulen in die USA, nach Kanada, Australien oder Neuseeland. 300.000 junge Koreaner gehen dort schon zur Schule.

Für die meisten Ostasiaten beginnt jedoch erst nach dem Bestehen der Hochschuleingangsprüfungen die Zeit der Entspannung. Wer einmal seine Zulassung erhalten kann, ist sich seines B.A.-Diploms vier Jahre später ziemlich sicher. Die Inhalte des Grundstudiums ähneln einem weitgespannten Studium generale. Den Studenten sind sie durch ihre intensive Studiumsvorbereitungen bereits weitgehend vertraut. Abseits langweiliger Vorlesungen (wo die Professoren ihre Skripten monoton vom Blatt ablesen) herrscht auf koreanischen und japanischen Campussen eine ausgelassene, lärmende Stimmung von Spiel, Sport und Spannung, bei denen die vielfältigen Aktivitäten der Studentenklubs das Hochschulleben und den Studentenalltag bestimmen. Sie reichen von zahllosen Musik- und Laienspielbühnen zu allen denkbaren Sportarten, religiösen Angeboten und studentischer Politik, die vor allem in Korea sehr laut, leidenschaftlich und in Auseinandersetzungen mit der Polizei auch oft noch gewalttätig betrieben wird.

Jene vier Jahre sind als eine Art Moratorium die einzige Zeit der Entspannung im Leben der Koreaner und Japaner zwischen Schule und Berufswelt, die die Gesellschaft und das zahlende Elternhaus toleriert. Spätestens mit dem Graduiertenstudium, das allerdings nur von einer Minderheit aufgenommen wird, mit seinen Fachausbildungen zum Arzt, Juristen oder Ingenieur beginnt der Ernst des Lebens wieder.

Es ist also nicht alles Gold, was da fernöstlich verheißungsvoll glänzt. Was kann aber Deutschland in seiner selbstverschuldeten Bildungsmisere lernen ? Unter der Schlagzeile "Das Leiden der Pisa-Sieger" verkündete die linke tageszeitung, von Ostasien sei schlechterdings überhaupt nichts zu lernen. Ein schwedischer Bildungsreformer sekundierte: "Die Deutschen sollten sich entspannen".

Eine Imitation der ostasiatischen Systeme im Maßstab 1:1 ist sicher nicht sinnvoll. Doch gibt es zweifellos einige beherzigenswerte Erfolgsfaktoren, die im übrigen auch beim kulturellen Aufstieg Deutschlands seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt hatten: die kulturelle Homogenität der Bevölkerung; die große gesellschaftliche Wertschätzung von Bildung; die soziale Aufwertung des Lehrerberufs; die entideologisierte didaktische Reorientierung der Schulbücher; am wichtigsten ist sicherlich die Rückbesinnung auf die Kerninhalte des Bildungsgut der deutschen Klassik und der europäischen Kulturgeschichte.

Nichts ist denn peinlicher, als in Japan deutsche Jungakademiker zu erleben, die dort auf Kant, Nietzsche und Max Weber angesprochen, entgegnen, diese Fußballer seien ihnen leider nicht geläufig.

 

Dr. Albrecht Rothacher ist Lehrbeauftragter für Europäische Studien an der National University of Singapore und Autor von "The Japanese Power Elite" (1993).


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