© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/03 28. November 2003

Zu viel von Liebe und zu wenig von Zement
Debatte im geschichtslosen Raum: Eine Tagung der Anna-Seghers-Gesellschaft in Berlin läßt viele Fragen offen
Jörg Bernhard Bilke

Die Beschäftigung mit der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, vornehmlich mit den Romanen Leo Tolstojs und Fjodor Dostojewskis, setzte bei Anna Seghers schon zu der Zeit ein, als sie noch Schülerin in Mainz war und Netty Reiling hieß. Genauer datieren läßt sich der Beginn ihrer Auseinandersetzung mit sowjetrussischer Literatur: Sie hatte 1927, als sie bereits als Schriftstellerin in Berlin lebte, aber noch nicht der Kommunistischen Partei angehörte, die deutsche Übersetzung von Fjodor Gladkows (1883-1958) Industrieroman "Zement" (1925) gelesen und darüber eine Rezension geschrieben, die unter dem Titel "Revolutionärer Alltag" am 22. Mai 1927 in der Frankfurter Zeitung erschien und mit dem merkwürdigen Satz endete: "Es ist noch zu viel von Liebe und zu wenig von Zement die Rede."

Fast vier Jahrzehnte später, im Juni 1965, wurde Anna Seghers, damals schon 13 Jahre Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbands, von der jüngeren Kollegin Christa Wolf nach ihrer frühen Prägung durch russische Literatur befragt, worauf sie zur Antwort gab: "Eine Wirklichkeit ist uns aus den Büchern gekommen, die wir im Leben noch nicht gekannt haben."

Beide Zitate sind kennzeichnend für die Art der Aneignung von russischer Literatur und sowjetrussischer Wirklichkeit durch Anna Seghers. Sie ist fünfmal als Touristin und Kongreßbesucherin in der Sowjetunion gewesen, zuerst 1930 zur Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Charkow und zuletzt 1967 beim "Allunionskongreß der sowjetischen Schriftsteller" in Moskau, wo sie die Rede "Das Licht des Oktober" hielt. Sie hat das Land immer nur als Touristin bereist, als sympathisierende Beobachterin aus dem nichtkommunistischen Ausland, die nie im Lande selbst gelebt und ihre Erfahrungen mit dem Sowjetalltag gesammelt hat wie beispielsweise die Gruppe deutscher Kommunisten im Moskauer Exil, die vor Hitler geflohen waren und von Stalin verfolgt und ermordet wurden.

Das zu wissen ist unabdingbar, wenn man, wie die Anna-Seghers-Gesellschaft am 14./15. November in Berlin, eine Tagung veranstaltet, bei der es um das Verhältnis der Schriftstellerin zur Sowjetunion und zur russisch-sowjetischen Literatur geht. In Monika Melcherts einleitenden Worten wurde zwar davon gesprochen, daß der Autorin "Verhältnis zum Stalinismus nicht ausgeklammert" werden sollte, doch in den Diskussionsbeiträgen nach den drei Referaten wurde das Thema umgangen oder vermieden oder aber, was vielleicht noch schlimmer ist, aus Unkenntnis verschwiegen.

Möglicherweise waren bei vielen, vor allem jüngeren Tagungsteilnehmern die Geschichtskenntnisse über die blutigen Jahrzehnte Stalinscher Vernichtungspolitik einfach nicht vorhanden, obwohl es heute ganze Bibliotheken von Aufklärungsliteratur über "Das Jahrhundert der Wölfe" (Nadeshda Mandelstam) gibt, nicht zuletzt die Erinnerungen deutscher und russischer Kommunisten, sowie außerdem das 1981 erschienene wissenschaftliche Werk des amerikanischen Germanisten David Pike "Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933-1945" mit dem Kapitel "Stalins Säuberungen unter den deutschen Kommunisten". Bei der Berliner Tagung hatte man freilich mitunter den Eindruck, als würde im geschichtslosen Raum argumentiert, als dürfte das Anna-Seghers-Bild auch heute noch nicht beschädigt werden, als sei das zeitgebundene Denken und Handeln der Autorin unangreifbar.

Heute wird Anna Seghers in Rußland kaum noch gelesen

Daß russische Referenten eingeladen werden mußten, war bei dem gestellten Thema unabweisbar. Leider war der Erkenntniswert beider Referate über der Autorin "lebenslanges Verhältnis zur Sowjetunion und zur russisch-sowjetischen Literatur" und "zur russischen Rezeption von Anna Seghers Werk vor und nach 1989" gering. Daß ihre Werke, so Wladimir Sedelnik (Moskau), in der Sowjetunion eine breite Leserschaft hatten, daß sie mit Konstantin Fedin (1892-1977), Konstantin Simonow (1915-1979) und besonders mit Ilja Ehrenburg (1891-1967) befreundet war, wußte man.

Befreundet war sie aber auch mit ihrem Übersetzer, dem russisch-jüdischen Schriftsteller Lew Kopelew (1912-1997), der 1981 ausgebürgert wurde und im Kölner Exil starb. Der Bericht über seine neun Jahre Lagerhaft 1945/54 erschien 1976, sieben Jahre vor ihrem Tod. Hat sie das Buch gelesen, oder hat sie ihren Freund zumindest nach seinen Lagererlebnissen befragt?

Daß die Romane der im Juni 1983 verstorbenen Schriftstellerin, so Alexander Belobratow (St. Petersburg), im heutigen Rußland kaum noch gelesen werden, war zu erwarten gewesen, zu nachhaltig war ihr Werk fünf Jahrzehnte lang in den Kontext sozialistischer Kulturpolitik eingebunden gewesen. Es gebe, so der Referent, eine Fülle wissenschaftlicher Arbeiten über Anna Seghers zwischen 1950 und 1985, nicht zuletzt das Buch von Tamara Motylowa "Anna Seghers. Kritischbiographische Skizze" (1953), aber daß der Vorabdruck ihres Exilromans "Das siebte Kreuz" (1942) in der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur jäh abgebrochen wurde, als der Hitler-Stalin-Pakt am 23. August 1939 abgeschlossen war, fand keine Erwähnung.

Von ganz anderer Qualität dagegen war das Referat des Berliner Germanisten Frank Wagner über das sieben Jahre nach dem Tod der Autorin erschienene Prosafragment "Der gerechte Richter" (1990). Hier nämlich wurde versucht, was im Untertitel "Gewissensfragen im Sozialismus" anklang, die Reaktion der Schriftstellerin, nicht der Politikerin Anna Seghers auf das DDR-Krisenjahr 1956 zu analysieren, in das sich erste Gedanken zu dieser nicht vollendeten Novelle datieren lassen.

Es war das Jahr der Geheimrede Nikita Chruschtschows über Stalins Verbrechen, das Jahr des Ungarnaufstands, auf den Anna Seghers mit der Erzählung "Brot und Salz" (1958) reagierte, und der Verhaftung des oppositionellen Marxisten Wolfgang Harich am 26. November in Berlin. Mit ihrem Text versuchte Anna Seghers, die Erfahrungen des Stalinismus zu verarbeiten und die sozialistischen Ideale von einst dagegenzustellen, wobei sie freilich die Handlung im Niemandsland ansiedelte und ihr damit den Realitätsbezug nahm.

Bedenkenswert war die vom Referenten aufgezeigte Querverbindung zum Gleichnis vom Großinquisitor aus Fjodor Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow" (1880). Anna Seghers hat sich darüber ausgiebig in einem 35seitigen Brief geäußert, den sie 1963 "auf dem Schiff zwischen Brasilien und Europa" an den Schriftstellerfreund Jorge Amado schrieb.

Die abschließende Podiumsdiskussion "Anna Seghers und die Sowjetunion: Erfahrungen und Widersprüche" stand unter der Leitung Margrid Birckens (Potsdam) und wurde von vier Germanistinnen bestritten. So sprach Erika Haas (Tübingen) von der euphorischen Bewunderung und emotionalen Bindung der Autorin an die Sowjetunion, wie sie auch noch 1967 in der Moskauer Rede "Das Licht des Oktober" aufscheine. Schreiben "im Licht des Oktober" sei ihr zentrales Programm gewesen, das "Kritik an Gewachsenem" ausgeschlossen hätte. Um die "große Sache des Sozialismus" zu retten, habe sie "Fehler, Irrtümer und Schwächen" verschwiegen. Sigrid Bock (Berlin) interpretierte die Lebenswendung der jungen Netty Reiling um 1925, die unter dem starken Einfluß der sowjetrussischen Schriftstellerin Alexandra Kollontai (1872-1952) und ihrer Erzählungen "Wege der Liebe" (1923), die auch in der Familie der Mutter gelesen worden seien, gestanden habe. Von der Sowjetunion habe sich Anna Seghers die Entstehung eines neuen Menschen erhofft.

Die Berliner Literaturprofessorin Eva Kaufmann interpretierte die Korrespondenzen von Anna Seghers mit sowjetrussischen Freunden, die sie mehrmals, wenn auch in verschlüsselter Form, auf bedrohliche Situationen in der DDR-Kulturpolitik aufmerksam machte. Auch sie sprach, bezogen auf ihren letzten Roman "Das Vertauen" (1968), vom "Zwiespalt, der Anna Seghers zunehmend prägte", während Antonia Opitz (Ungarn) von der Georg-Lukacs-Gesellschaft ausführlich auf den Briefwechsel 1938/39 zwischen Anna Seghers und Georg Lukacs einging.

Vieles auf dieser Tagung wurde nicht ausgesprochen, entweder aus Unkenntnis oder aus falscher Rücksichtnahme oder weil der interpretatorische Ansatz nicht stimmte. Das Thema "Anna Seghers und die Sowjetunion" ist noch lange nicht ausgeschöpft.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen