© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/03 28. November 2003

Ein Amerikaner wie aus dem Bilderbuch
Michael Moore, du hast es besser: Seit 180 Jahren schielen die Deutschen so zwiespältig wie sehnsüchtig über den Atlantik
Silke Lührmann

Ob es Neid war oder Hohn, der Goethe 1823 zu reimen bewog: "Amerika, du hast es besser/Als unser Kontinent, der alte/Hast keine verfallenen Schlösser/Und keine Basalte"? Lockte damals die junge Demokratie mit ihrem Versprechen - mit ihren Gefahren, wie nicht nur Alexis de Tocqueville fürchtete - der Gleichheit für alle, so beflügelt heute vor allem der obszöne Reichtum der wenigen die europäische Phantasie. Wer Appartements am Central Park und Häuser in Beverly Hills hat, braucht in der Tat keine Schlösser, verfallene schon gar nicht!

Eine kaum mindere Faszination übt aber die ob ihrer Krudheit selten ohne Gänsefüßchen goutierte Massen-"Kultur" der USA aus. Bei bundesrepublikanisch Sozialisierten eines gewissen Alters begann dies mit der Sesamstraße, nährte sich von Springsteen-Platten, Kino- und McDonald's-Besuchen und trieb sie am Sonntag letzter Woche in Strömen zur Berliner Columbiahalle. Wo sonst Rock- und Popkonzerte mittlerer Größenordnung stattfinden, machte Michael Moore gleich zweimal hintereinander, nachmittags und abends, Stimmung gegen die Bush-Regierung.

Moore ist kein Goethe. Fett, laut, in schlecht sitzenden Jeans und Baseballkappe verkörpert er unser Amerikabild aufs Haar - und spricht doch Alt-Europa aus der Seele. Ob seine Fakten wirklich so sorgfältig recherchiert sind, wie er behauptet, ist dabei unerheblich. Daß George W. Bush ein noch dümmerer weißer Mann ist als Bill Clinton, dem Moores vorherige Attacke galt, glaubt man ihm ja gerne.

Wen wundert's, wenn so einer nicht weiß, wo seine Heimat ist: "Dude, where's my country?" lautet der versöhnlichere Originaltitel seiner neuen Polemik "Volle Deckung, Mr. Bush". Seltsam also, wie schwer es fällt, sich mißgünstige Gedanken zu verkneifen, weil Moore nach seiner Europatournee, denn "Lesereise" wäre lächerlich untertrieben, daheim auf unzähligen Kabelkanälen endlose Wiederholungen all unserer Lieblingssendungen anschauen, in einem Cadillac den Freeway entlangbrausen und hemmungslos Pommes schlemmen kann - ob sie nun "Freedom Fries" oder wieder "French Fries" heißen.


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