© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/03 28. November 2003

Der Verfall sämtlicher Ideale droht
EU-Verfassung: Der französische Historiker Christophe Réveillard über christlichen Bezug und moderne Verfassungswirklichkeit
Christophe Réveillard

Die Christdemokratie wollte den europäischen Einigungsprozeß mit ihren "Werten" prägen und ihm den Stempel eines "christlichen Geschichtsbildes" aufdrücken. Dieses Vorhaben ist nicht nur gescheitert, sondern die Christdemokratie hat sich durch eine böswillige Umkehrung in einen äußerst wirksamen Motor der antichristlichen Werte verwandelt, die die Europäische Union produziert und transportiert.

Der sogenannte Verfassungsentwurf, den der EU-Konvent für die Regierungskonferenz erarbeitete, veranschaulicht das. Die europäische Grundrechtscharta, die der zukünftigen Verfassung als Präambel vorangehen soll, verleugnet die unverbrüchliche objektive und natürliche Ordnung und behauptet unter anderem, die europäischen Werte und Rechte müßten "im Licht des gesellschaftlichen Wandels, des sozialen Fortschritts, der Entwicklungen in Wissenschaft und Technik" interpretiert werden. Artikel 9, der das Recht auf Eheschließung von dem Recht unterscheidet, eine Familie zu gründen, bedeutet die Anerkennung "wilder Ehen" einschließlich homosexueller Partnerschaften und führt zur Ausweitung sämtlicher Rechte, die die Charta Paaren zuerkennt, auf letztere sowie auf alle anderen abartigen Lebensweisen.

Der Vertrag von Amsterdam, der zur Nicht-Diskriminierung aufgrund von "sexueller Orientierung" verpflichtet, leistete hier Vorarbeit. Artikel 22 des Verfassungstextes ebnet dem Multikulturalismus und den Forderungen von Minderheiten den Weg. Artikel 52 läßt die Einschränkung der in der Charta festgeschriebenen Rechte und Freiheiten zu, wenn eine solche Einschränkung "den allgemeinen Zielen und Interessen" der Union entspricht.

Darunter fällt zum Beispiel die Delegitimation einer Volksabstimmung, deren Ergebnis die Europäische Union nach den in der Charta festgelegten Grundsätzen mißbilligt. Der Kampf, einem von seinem Wesen her widernatürlichen Dokument eine hypothetische Besinnung auf geistliche und/oder christliche Werte aufzudrücken, ist somit vergebens.

Die Frage nach dem Sinn des europäischen Verfassungsprojekts ist letztlich nie gestellt worden, weder in den Debatten des Konvents noch im Laufe der Regierungskonferenz, die in technischen und juristischen Details steckenblieb. Wir stehen der Moderne in ihrer Spätphase gegenüber: Die Hegemonie des Ökonomischen und die Unterdrückung des Sozialen; der Materialismus, in dessen Mittelpunkt der Mensch als reiner Verbraucher jenseits aller Transzendenz und geprägt von einem formellen Atheismus steht; die Illusion individueller Freiheit - sie alle haben ihren Ursprung in der Zeitgeschichte.

Das bevorzugte gesellschaftliche Muster ist das der Entwurzelung, der Atomisierung, der Vermassung, der wirtschaftlichen Eindimensionalität, des Verfalls sämtlicher Ideale, mit anderen Worten des moralischen Untergangs des Menschen, eines totalen Diesseitsbewußtseins also. Das meiste, was auf europäischer Ebene nicht funktioniert, liegt am Fehlen eines gesellschaftlichen Paktes - an der Unfähigkeit, sich auf eine Definition des Gemeinwohls zu stützen.

Für die europäischen Christdemokraten spielt Europa die Rolle einer "Ersatzideologie". Die Bürokratie von Brüssel und Straßburg ist aber auf Grundsätzen aufgebaut, die sich mit einem christlichen Menschenbild und einem christlichen Wirtschaftsbegriff nicht vereinbaren lassen und denen Metaphysik und Philosophie, wie die Evangelien sie formulieren, fremd sind. Solange die Christdemokraten den Werten der Europäischen Union anhängen, können sie sich dem zeitgenössischen Neopositivismus nicht entziehen.


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