© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/03 28. November 2003

Die Angst vor der Nation
Warum die CDU nun plötzlich doch keine Patriotismus-Debatte führen will
Thorsten Hinz

Die Patriotismus-Debatte der CDU, ob sie auf dem Leipziger Parteitag am Wochenende nun stattfindet oder nicht, sie kommt für die Partei zur Unzeit. Gerade hat sie sich die "Hohmann-Affäre" aufzwingen und in die Defensive drängen lassen. Die Ad-hoc-Idee von Angela Merkel ist nur eine Alibi-Unternehmung, um aufgeregte Gemüter zu beruhigen. Die CDU-Vorsitzende hat sich schon vor drei Jahren disqualifiziert, als sie sich in aller Öffentlichkeit von Paul Spiegel abkanzeln ließ, ob die deutsche "Leitkultur" sich etwa im Anzünden von Ausländern ausdrücke.

Das Zurückweichen der CDU in der von Friedrich Merz angestoßenen "Leitkultur"-Debatte war sowohl in der charakterlichen Schwäche der Führungsriege als auch in der mangelnden theoretischen Fundierung der Partei begründet. Daß ausgerechnet Merz, der damals von Merkel im Regen stehen gelassen wurde, jetzt meint, die CDU habe auf dem Parteitag "andere Probleme" zu diskutieren, liegt in der Logik parteiinterner Machtkämpfe. Trotzdem wirkt es abstoßend, wie die Union mit Fragen umgeht, die den Lebensnerv des Landes betreffen.

Am gesellschaftlichen Diskussionsbedarf besteht kein Zweifel, denn der Ideenvorrat der Politik hat sich weitgehend erschöpft. Der Traum von der multikulturellen Gesellschaft ist ausgeträumt. In Deutschland vollzieht der Abschied sich in aller Stille, anderswo mit Aplomb. Der niederländische Soziologieprofessor Ruud Koopmans, Mitglied des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Integrationspolitik, nannte den Versuch, Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen unter Beibehaltung der eigenen Identität zu integrieren, den "größten Fehler, den der Staat gemacht hat".

Zweitens ist der sozialdemokratische Verteilungsstaat am Ende. Konflikte können nicht mehr über eine vermehrte Güterzuwendung abgedämpft werden. Verteilungskämpfe entlang kultureller und ethnischer Grenzen innerhalb des Landes zeichnen sich ab. Es braucht einen neuen Politikansatz, an dessen Anfang eine neue Art der Konfliktbenennung und Selbstbehauptung steht.

Drittens hält die Europa-Idee längst noch nicht, was man sich von ihr versprochen hat. Die postnationale Identität ist zur Zeit genauso eine Chimäre wie eine übergreifende politische Organisationsform Europas, in der die Bürger Demokratie praktizieren können. Die "europäischen" Parteien, die sich im EU-Parlament konstituiert haben, sind Diskussionsforen, aber keine relevanten Subjekte. Entscheidungen fallen entlang den nationalen Interessen und Trennlinien, nicht der parteipolitischen Markierung. Im Irak-Krieg marschierte der konservative spanische Ministerpräsident Aznar Schulter an Schulter mit dem britischen Sozialdemokraten Blair, während der konservative französische Staatspräsident Chirac sich mit dem deutschen Bundeskanzler Schröder verbündete. Die Bundestagsparteien räumen neuerdings den Bedeutungsmangel des EU-Parlaments wieder ungeniert ein. Keine Rede ist mehr davon, "die Besten" nach Straßburg bzw. Brüssel zu entsenden. Die Grünen planen, Politiker wie Angelika Beer oder Cem Özdemir, die in Berlin wegen Unfähigkeit oder Affären nicht zu halten sind, zwecks Versorgung ins europäische Parlament abzuschieben.

Patriotismus wird unter Hinweis auf das Modell "multipler Identitäten" als un- oder vormodern abgetan. Statt in einer gegebenen, organischen Einheit zu ruhen, baue der flexible Mensch sich seine Identität selber. Die nationale Herkunft sei darin nur ein Unterscheidungsmerkmal unter vielen. So sehr es stimmt, daß kollektive Bindekräfte zugunsten individueller Selbstbestimmung zurückgegangen sind, bleibt die Patria ein wesentliches, übergeordnetes Merkmal. Sogar die deutsche Toskana-Fraktion der ersten Stunde kehrt im Rentenalter ins heimatliche Deutschland zurück. Der Sozialstaat und die Gesundheitsfürsorge erscheinen ihr hier sicherer, außerdem fällt es im Alter schwerer, auf die Muttersprache zu verzichten.

Es ist erfreulich, daß Begriffe wie "Erbfeindschaft", der einst das deutsch-französische Verhältnis bezeichnete, oder "perfides Albion" aus dem Sprachgebrauch entschwunden sind. Viel spricht dafür, daß das Projekt der europäischen Einigung notwendig ist. Man kann darin die Bestimmung Deutschlands - das Herz des Kontinents - erblicken. Gerade deshalb bleibt die Tatsache unumstößlich, daß "das geschichtliche Wollen auch des Einzelnen (...) nur in der Identifizierung mit einem einzelnen Staat wirksam werden kann" (K. Jaspers). In dem Moment, wo die Partner im Selbsthaß oder im pathologischen Selbstabschaffungstrieb den Stimulus der deutschen Europa-Politik erkennen, stellen sie diesen in Rechnung und nutzen ihn zum Schaden der Sache aus. Patriotismus bleibt das Lebenselixier der Demokratie! Wer das eine verneint, negiert auch das andere.

Das Bekenntnis zum Patriotismus als einer emphatischen Identität zwischen Staat und Staatsvolk in moralischer Verantwortung gerät in Deutschland schnell unter Verdacht. Unter Hinweis auf Artikel 1 des Grundgesetzes, der von der Würde des Menschen, nicht des Deutschen spricht, wird er mit der Unterdrückung des Individuums durch eine reaktionäre, kollektivistische Staatsidee gleichgesetzt. In Wahrheit kann das Individuum seine Würde erst im Bezugssystem des staatlich-kollektiven Rahmens realisieren. Dieser Rahmen bleibt nur in der Dialektik von Rechten und Pflichten stabil, diese wiederum sind an die Staatsbürgerschaft gekoppelt. Im übrigen verlangt das Grundgesetz nicht die Selbstnegation Deutschlands, im Gegenteil.

Nach dem Prinzip des "Verfassungspatriotismus" kann grundsätzlich jeder, der sich zur Verfassung bekennt, dazugehören. In kultureller Hinsicht aber soll der Staat strikte Neutralität wahren. Die Realitäten in Europa haben dieses liberale Konzept widerlegt. Um die Stabilität des demokratischen und sozialen Gemeinwesens zu erhalten, wird man künftig bei der Auswahl neuer Bürger hierarchisch vorgehen müssen. Es ist zu prüfen, ob sie aufgrund von Qualifikation und Sozialstatus in der Lage sind, dem Gemeinwesen zu nutzen, und ob ihr kultureller Hintergrund sie demokratiekompatibel erscheinen läßt. Das setzt voraus, die eigene Kultur zu bestätigen, anstatt zu relativieren.

Der amerikanische Philosophieprofessor und Liberalismuskritiker Raymond Geuss erzählt gern das Beispiel von der Planke im Wasser, an die sich drei Menschen klammern. Eine Interessenkongruenz ist unmöglich, denn die Planke kann nur einen tragen. - Manche Entscheidungen müssen eben als Machtfragen entschieden werden. Andere wissen das längst. Ob auch die CDU zu dieser Einsicht fähig ist?


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