© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/03 21. November 2003

Vom Eigensinn der Bildung
von Eberhard Straub

Man muß heutzutage den menschlichen Geist bei der Theorie festhalten; er eilt von selbst zur Praxis hin, und statt ihn unaufhörlich auf die Einzeluntersuchungen untergeordneter Wirkungen zurückzuführen, ist es gut, ihn bisweilen davon abzulenken, um ihn zur Betrachtung der Grundursachen zu erheben." Daran erinnerte 1840 Alexis de Tocqueville seine Zeitgenossen, die in beständiger Betriebsamkeit dazu neigten, den oberflächlichen Einfällen des Geistes einen übertriebenen Wert beizumessen und dessen vertiefte und bedächtige Arbeit dagegen maßlos zu unterschätzen. Warnend gab er zu bedenken: "Sollte die Bildung, die uns erhellt, jemals erlöschen, so geschähe dies in einem allmählichen Verdämmern und wie von selbst. Befaßte man sich immerzu mit der Anwendung allein, so verlöre man die Prinzipien aus den Auge, und hätte man die Prinzipien völlig vergessen, so käme man zu einer schlechten Anwendung der sich daraus ergebenden Verfahrensweise."

Von einer Bildung, die uns erhellt, also frei und selbständig macht, von einer Bildung durch Wissenschaft in Übereinstimmung mit einer ästhetischen Erziehung ist längst nicht mehr die Rede. Ununterbrochen wird die "Wissensgesellschaft" mit ihren ganz neuen Herausforderungen beschworen. Abgesehen davon, daß auch die primitivste Gesellschaft auf Wissen angewiesen war und sich nur als Wissensgesellschaft zu erhalten vermochte - die Universität, die jetzt zerschlagen wird, wurde um 1800 bewußt als Protest gegen Erwartungen gegründet, die Wissenschaften danach zu beurteilen, was sie zur Verbesserung der Finanzen, der Fabriken, des Handels, der Land- und Hauswirtschaft und des individuellen Erfolgsstrebens beitragen könnten. Die Abrichtung auf mechanische Fertigkeiten, die Dressur für konkrete Zwecke des nächstens Tages mache aus Studenten bestenfalls erschlaffte Maschinen mit prall gefülltem Gedächtnis, unfähig, die Welt zu begreifen, in der sie sich bewegen, wie später der preußische Minister Altenstein klagte. Die Tüchtigsten konnten sich - wie er während seines Studiums um 1790 - nur im Widerstand gegen den schulmäßigen Universitätsbetrieb bilden.

Das modische Ideal waren damals Fachhochschulen, die den Universitäten als Vorbild dienen sollten, "Handlungswissen" in gestrafften Lehrgängen mit Rücksicht auf die administrativen oder ökonomischen Erwartungen anzubieten, um jeden zu befähigen, sich alsbald nützlich zu machen. Professor Friedrich Schiller, ein philosophischer Kopf, verspottete in seiner Jenaer Antrittsvorlesung im Mai 1789 Kollegen, die auf diese Weise "in ewigem Geistesstillstand das unfruchtbare Einerlei" ihrer Schulbegriffe hüteten und im Reich der vollkommensten Freiheit, im akademischen Reich der Wissenschaft und Kunst, Sklavenseelen mit sich herumtrugen und nur Sklavenseelen zu erziehen vermochten.

Schiller war von den die gesamte Bildung umstürzenden Tendenzen durchdrungen, die sich zuerst von Halle aus unter dem Einfluß des Philosophen Christian Wolff bemerkbar machten. Die Universität sollte eben nicht ein Rathaus und Kaufhaus für den Tag und seine rasch wechselnden Bedürfnisse sein. Das Studium dachte sich Wolff als Weg zum freien Denken, zum Denken ohne Autorität, der Voraussetzung jeder Selbständigkeit und damit auch jeden selbständigen Handelns unter den stets einengenden Bedingungen beruflicher Tätigkeit.

Das freie Denken läßt sich nicht darüber gewinnen, daß der Student von vornherein darin geübt wird, sich im Besonderen und Beschränkten zu bewegen. Vielmehr nur, wenn er mit weiten Zusammenhängen vertraut gemacht wird, deren Wahrnehmung ihm später erlaubt, sich von Fall zu Fall in den immer begrenzten Verhältnissen des beruflichen Alltages jeweils weiterzuhelfen und nicht im Kleinen fröstelnd zu beben. Für Wolff war Lernen kein mechanischer Vorgang, sondern ein schöpferisches Werk.

Denn die Wissenschaft auf der Suche nach Wahrheit bleibt in ununterbrochener Bewegung, ohne freilich je die Wahrheit, den Grund ihrer Unruhe und ihrer Bemühungen, entschleiern zu können. Der Professor vermag nur einen vorübergehenden Stand der Wissenschaft zu vermitteln und die Umwege zu schildern, die zu ihm führten. Was er damit leisten kann, ist allerdings nicht wenig: den Studenten in Fragestellungen einzuführen, seine Einbildungskraft zu schulen, um mit bestimmten Methoden Antworten, zumindest vorläufige, zu finden.

Da alles Tun und Treiben unmittelbar der Wahrheit zugeordnet bleibt, die nur eine sein kann, können diese Methoden auch in anderen Zusammenhängen nicht unnütz sein. Das Ziel muß sein: Gelerntes in Können zu verwandeln, nicht als Spezialist für einen augenblicklichen Modeartikel, sondern durch das Studium dazu befähigt, die richtige Lösung für jeden Fall zu finden. Denn das Unpraktischste ist meist das Praktische, das einen Teil der Wahrheit für das Ganze hält.

Es geht um die Belebung des Marktes, um den Standort Deutschland, um wirtschaftliche Innovationen, um meßbare Impulse für die Volkswirtschaft. Von Bildung durch Wissenschaft ist bei alledem nicht mehr die Rede.

Es waren neben den Philosophen vor allem die klassischen Philologen, die mit Aristoteles mahnten, nicht überall auf das Nützliche und Vorteilhafte zu sehen, was freier Geister ganz einfach unwürdig sei. Friedrich August Wolf, der Begründer einer historisch-philosophischen Altertumswissenschaft, empfahl deshalb, beim Studenten die Kräfte der Seele durch anziehende Aufgaben und Behandlungsarten zu wecken und im Gleichgewicht zu bilden.

Das Studium sollte den ganzen Menschen erfassen, die Bildung durch Wissenschaft den Charakter veredeln und dem Menschen als Person zu seiner vollständigen Unabhängigkeit als Sonne seinen Sittentages zu verhelfen. Das forderten Schleiermacher, Fichte oder Wilhelm von Humboldt. Der freie Mensch sollte freilich auch ein schöner Mensch sein, der mit heiterer Anmutes des Geistes den Menschen schlechthin ausdrückt. Die Allgemeinbildung, die Erziehung zu allgemeiner Menschlichkeit, sie befreit, wie Schiller hoffte, den Menschen endlich aus der Entfremdung, die er in einem mechanischen Staat als bloßes Funktionselement im gesellschaftlich-ökonomischen Prozeß erleidet.

"Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft."

Deutsche Monarchen und Minister ließen sich damals von Philosophen, Philologen und denkenden Dichtern überzeugen. Das erlaubte noch einmal den überraschenden Aufschwung der im Verfall begriffenen Universitäten, bewirkt von Professoren, die eines die Temperamente erstickenden Systems überdrüssig waren. Sie überwanden es auch in der Absicht, mit Gymnasium und Universität über weltbürgerliche Nationalerziehung das Prinzip der Freiheit in den Staat einzubauen, hoffend, daß er sich zu einem freiheitlichen, zu einem Vernunftstaat entwickeln werde unter dem Einfluß seiner freien, schönen, und vernünftigen Bürger.

Es war nur ein kurzer, großartiger Augenblick, während dem diese Ideen vorherrschten, eine paradiesische Episode im nachhinein, aber durchaus Episode. Bald drängte sich wieder der sogenannte Realismus vor, ein realistischer Humanismus der praktischen Verwertbarkeit des Wissens. Aber die Realisten hatten lange genug, bis weit ins zwanzigste Jahrhundert, ein schlechtes Gewissen. Denn sie hielten, schon aus Hilflosigkeit, einen anderen Bildungsbegriff entwerfen zu können, am Menschenbild des Neuhumanismus fest, mit dem unsere liberalen, rechtlichen Vorstellungen von der Menschenwürde und der unerschöpflichen Freiheit des Einzelnen unmittelbar zusammenhängen.

Als endgültig das klassische Menschenbild seit 1960 verdunstete, gerieten allerdings die großen Ideen über den Menschen und seine Freiheit und Würde unvermeidlich in die Sphäre des Unverbindlichen, des historisch Beliebigen. Das ist eine der unbedachten Folgen bei der unentwegt reformierenden Demolierung des Bildungssystems seit dem späten 19. Jahrhundert. Von der Elementarschule über das Gymnasium bis zur Universität waren die Bildungseinrichtungen ein großes, sich ergänzendes und miteinander zusammenhängendes Ganzes, das jedem auf seiner Stufe und im Rahmen seiner Möglichkeiten zu einer vollständigen Menschenbildung verhelfen sollte und damit zu Freiheit.

Es ist gar keine Frage, daß dies Ziel stets nur unvollständig erreicht wurde. Aber es wurde als Idee doch nicht einmal von den eklatant Benachteiligten, von den Arbeitern verworfen. Die sozialdemokratischen Bildungsvereine, später auch die kommunistischen, zogen ihre Parteigenossen in diese Traditionen des deutschen Idealismus. Ein anspruchsvoller Dichter wie Peter Hacks suchte in der DDR in diesem Sinne aus dem Geist Goethes an der Idee einer sozialistischen Gesellschaft als Bund freier, schöner Menschen festzuhalten, auf seiner Bühne zur Wirklichkeit geworden oder als Versprechen kommender Zeiten im Bilde aufgerichtet.

Jeder Mut zur Idee hat indessen all jene verlassen, die sich heute noch an Bildungsdebatten unverdrossen beteiligen. Es geht nur noch um Zuwachs an Produktivität, die Wissenschaft und Forschung ermöglichen müssen. Es geht um die Belebung des Marktes, um den Standort Deutschland, um wirtschaftliche Innovation, um meßbare Impulse für die Volkswirtschaft. Von Bildung durch Wissenschaft ist nicht mehr die Rede. Schulen und Universitäten haben als möglichst effiziente Dienstleistungsunternehmen ihre Kunden für den Beruf vorzubereiten. Einübung von Fertigkeiten, Funktionsertüchtigung, marktgerechtes Verhaltenstraining würde durch irgendwelche Erinnerung an Menschenbilder empfindlich gestört.

Anpassung an die verschiedensten Systeme ist für jeden die Voraussetzung, um elastisch zu bleiben für die wünschenswerte Verwertbarkeit entsprechend der Marktchancen. Vorstellungen von Entfremdung können unter solchen Umständen den einpassungswilligen Menschen nur davon ablenken, als berechenbares Element im Prozeß der Arbeitsabläufe den an ihn gestellten Erwartungen unauffällig zu genügen. Wer auffällt, zeigt Egoreste, ein bedenkliches Merkmal. Nur wer ein Bruchstück ist und keinen Flausen anhängt, sich zum Ganzen bilden zu wollen, erreicht die höhere Stellung im späteren Leben, die akademische Ausbildung und der Markt - unter Umständen - verheißen. Die Diskussion kreist wie vor 250 Jahren um politische und wirtschaftliche Vernutzung des "Humankapitals", des "Rohstoffes Mensch" oder "liquider Biomasse", obschon die meisten Freunde nutzbringender Humanität vor solchen verbalen Brutalitäten einst noch zurückscheuten. Unter dem Eindruck der ausufernden Industrialisierung und der robusten Ausweitung staatlichen Organisationswillens mußte sich unweigerlich das Bildungswesen insgesamt verändern.

Die "Freigesetzten", die Arbeitslosen, sind das wahrscheinlich bald unerschöpfbare Reservoir humaner Bildung. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als sich zum individuellen Menschen zu bilden.

Schon Goethe ahnte, daß es schwer genug sein werde, in Zukunft noch das bißchen Eigenart zu bewahren, das der Mensch als gleichwohl kollektives, zusammengesetztes Wesen dennoch besitzt und kultivieren darf. Er sah bekümmert die kommenden wirtschaftlichen Zwänge, er ahnte die ideologischen und mißtraute als Wissenschaftler der ungeheuren Ausdehnung der Wissenschaften, die mittlerweile auch das methodisch systematisierten, was gar nicht wert zu wissen sei. Seine Sorge, wie aufgehalten werden könne, daß der Mensch unter die Räder fremder und gewalttätiger Bestimmung gerate, sollte doch heute nicht ganz übergangen werden. Den freien Markt hielt Goethe jedenfalls nicht für eine bildende Macht.

Er und mit ihm die Humanisten waren der Meinung, daß das Leben, weiter und farbiger als der Markt, als das große, unerschöpfliche Buch den besten Unterricht erteile. Deutsche Bildungsplaner sind sich heute hingegen sicher, daß man im Leben gar nichts, auf der Schule und der Universität alles lernen kann und muß. Es verwirrt sie überhaupt nicht, daß die meisten Studenten nach dem Examen gar nicht in den Beruf finden, für den sie ausgebildet wurden, weil es ihn entweder nicht mehr gibt oder weil ohnehin keine Stellen offen sind.

Am sichersten bewegen sich in der Regel die Studienabbrecher. Sie schnuppern wie im 19. Jahrhundert in der akademischen Luft des philosophischen Totalgeist. Das genügt und macht sie tüchtig zum Leben, eben frei und selbständig. Das Berufsleben ist viel zu mannigfaltig und unübersichtlich, als daß Schulen und Universitäten darauf vorbereiten können. Was beide leisten könnten, den Menschen zum Gebrauch seiner Freiheit, seiner Phantasie und vernünftig geschulter Wissensbegier zu verhelfen, versäumen sie unter dem Druck wechselnder Tagesforderungen.

Es ist ganz einfach nur traurig, wie junge Menschen auf den Schulen und Hochschulen um das betrogen werden, was sie dazu befähigen könnte, frei zu werden, frei zu denken, weil Dressuren unterworfen, die es ihnen erleichtern sollen, sich ins Erwerbsleben einzupassen. Der Aufstieg vom Menschen über die Arbeitskraft zur Kaufkraft, also zum Endverbraucher galt den "Idealisten" als fürchterliche Entwürdigung des zur Freiheit berufenen Menschen. Sie hatten von der Freiheit eine große Auffassung. Heute reduziert sich wissenschaftliche Freiheit als Vorfreiheit der Produktionsfreiheit. Beide finden ihre Steigerung und Vollendung in der Freiheit des bewertenden Konsums.

Allerdings - es gibt die "Freigesetzten", die der Markt als unbrauchbar in die Freiheit entläßt. Die Freigesetzten, die Arbeitslosen, sind - ungeachtet des Zynismus der Marktwirtschaft - das wahrscheinlich bald unerschöpfliche Reservoir humaner Bildung. Ihnen bleibt ja gar nichts anderes übrig, als sich zum Menschen zu bilden, wenn sie nicht vollends untergehen wollen. Die noch Beschäftigen sind vorzugsweise damit beschäftigt, beschäftigt zu bleiben. Jeder klassische Tyrann kann sich keine besseren Bedingungen für seine Herrschaft über Unselbständige vorstellen, die nur ein Ziel haben, in gesicherter Abhängigkeit zu bleiben. Der Markt als Tyrann auch nicht.

Freie, weil unberechenbare Bildung ist nicht marktgerecht. Aber der Markt kann der Bildung und der Freiheit durch Bildung gar nichts anhaben. Es gibt genug Freiräume, die sich Gebildete oder Bildungsbegierige verschaffen. Es gibt sogar Professoren, die sich außerhalb der Universität unverschämt als gebildete Menschen zu erkennen geben. Kenntnisreiche und gebildete Studenten gibt es ohnehin, ohne jede Aussicht auf einen spezifischen Beruf. Sie halten sich an die klassische Devise: "Kommt, reden wir zusammen, wer redet, ist nicht tot" und bilden sich miteinander und aneinander.

Die Bildungsanstalten sind am Ende - wahrscheinlich verdientermaßen nach all den planlosen Reformen seit gut achtzig Jahren und ihrer Kapitulation vor einem geistlosen und unpraktischen Ökonomismus. Um die allgemeine, die menschliche Bildung muß es deswegen keinem bange sein, solange "der Freiheit ungeheuere Gefühle" einzelne wie eh und je begeistern. Die Bildung war nie von Universitäten und Schulen abhängig, deren Pedanterie weltläufige Aristokraten im ancien régime genauso abschreckte wie später klug verbummelte Studenten in der Nachfolge Goethes.

 

Dr. habil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, ist Journalist und Historiker. Zuletzt erschienen von ihm im Siedler Verlag, Berlin, die Bücher "Albert Ballin - der Reeder des Kaisers" und "Eine kleine Geschichte Preußens".


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