© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/03 21. November 2003

Tod in der Grauzone
Thema Sterben: Das Ausspielen der Palliativmedizin gegen den Gedanken der Sterbehilfe funktioniert nur bedingt
Angelika Willig

Nicht nur Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen bestimmten den Monat November, sondern in diesem Jahr auch ein anderer Typ von Veranstaltungen, die sich mit dem Tod beschäftigen. In Berlin ist gerade die "6. Hospizwoche" zu Ende gegangen, und gleich anschließend beginnt überregional die "Woche für das Selbstbestimmungsrecht" von der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS) organisiert. Beinahe zeitgleich läuft in den Kinos die Filmbiographie "Dem Tod ins Gesicht sehen" über die prominente Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross. Mit dem berüchtigten Propagandafilm "Ich klage an" aus den dreißiger Jahren hat "Dem Tod ins Gesicht sehen" wenig zu tun. Behutsam und mit äußerster Sensibilität wird hier gefragt, ob das Sterben nicht auch ohne Gott eine interessante und durchaus lohnende Erfahrung sein kann.

Bei der DGHS wird der Tod ganz pragmatisch gesehen

Auch in der Veranstaltung von der DGHS, die in einem Hotel in der Innenstadt stattfindet, geht es nicht um Euthanasie im engeren Sinn. Irgendeine dämonische Absicht ist Teilnehmern wie Veranstaltern oder Podiumsgästen nach allen Regeln der Menschenkenntnis nicht anzusehen. DGHS-Präsident Karl Wichmann, selbst schon im hohen Alter, zeigt ungebrochene Eloquenz, sein Geschäftsführer Kurt Schobert wirkt im Vergleich mit den anwesenden Vertretern humanistischer und freigeistiger Zusammenschlüsse managerhaft tüchtig. Das zahlreiche Publikum, wie zu erwarten eher in reiferen Jahren, zeigt sich aufmerksam, energisch und kritisch. Bei manchen ist ein Hang zum Radikalismus nicht zu leugnen. Anzuhören, wie immer noch Menschen gewaltsam am Sterben gehindert werden, ist ihnen fast unerträglich. Es erhebt sich dann ein leise empörtes Zischen. Diese Leute haben sich über den Tod lange Gedanken gemacht, aber keine metaphysischen oder religiösen, sondern sie wollen wissen, wer ihnen zuletzt den Hintern abwischt und wie lange sie sich werden wundliegen müssen. Noch sind es relativ wenige, die sich diesen Realitäten nicht verschließen können. Doch die Kundschaft der DGHS nimmt stetig zu. Die Hardliner, und das ist von den Anwesenden offenbar ein großer Teil, treten auch für die aktive Sterbehilfe ein, also das Recht auf die prompte tödliche Spritze. Die ideologische Linie des Vereins hat sich aber in den letzten Jahren eher in eine andere Richtung entwickelt.

Betrachtet man nämlich die Fälle genauer, so stellt sich heraus, daß die Spritze meist völlig überflüssig ist. Wer so leidend ist, daß das Ende herbeigewünscht wird, der hängt in vielen Fällen ohnehin von medizinischen Maßnahmen ab, deren Unterlassung allein den Tod schnell herbeiführte. Das sind nicht nur aufwendige intensivmedizinische Apparaturen etwa zur künstlichen Beatmung, sondern schon die Magensonde oder der Tropf zur Flüssigkeitszufuhr. Gerade alte Menschen in schlechtem Allgemeinzustand kommen selten ohne solche Maßnahmen aus. Sogar die evangelische Zeitschrift Chrismon berichtete vor einiger Zeit durchaus zustimmend von einer Tötung in hoffnungslosen Fällen durch Entzug der künstlichen Ernährung.

Diese "Hintertür" könnte die Pflegeheime in größerem Umfang betreffen, wenn den Insassen erst einmal klar (gemacht) würde, daß diese Form der Selbstbestimmung rechtlich bereits heute jedem zusteht. Die "passive indirekte Sterbehilfe" durch Abstellen der Apparate ist auch in Deutschland nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, sofern der Patient dies verlangt. Gegen seinen Willen darf keinem Menschen eine medizinische Leistung verabreicht werden, sonst ist dies Körperverletzung - es sei denn, es handelt sich um den Fall einer "Selbst- oder Fremdgefährdung" nach dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (PsychKG), aber dann muß der Patient von einem Psychiater für unzurechnungsfähig erklärt werden, und ein Richter muß dies bestätigen.

Bei den Alten macht man sich diese Mühe nicht, sie werden rechtswidrig zwangsbehandelt, nicht weil Ärzte und Pflegepersonal sadistisch veranlagt wären, sondern weil sie Angst haben, daß das "Haus" in den Ruf einer Entsorgungsanlage kommt. Um kostengünstig zu arbeiten, ist die Behandlung teilweise brutal, möchte aber ein Bewohner sie nicht mehr in Anspruch nehmen, was kostengünstiger wäre, so zwingt man ihn dazu, um nach draußen besonders humanitär zu erscheinen.

Diese Praxis, von der man im Vereinsheft der DGHS erschütternde Kostproben lesen kann, gilt zum Teil auch für Krankenhäuser. So erzählt ein Veranstaltungsteilnehmer von einem Bekannten, einem Mann im mittleren Alter mit Krebsmetastasen und einem künstlichen Darmausgang, der sich vergeblich gegen die künstliche Ernährung zu wehren versuchte, um seine Qual abzukürzen. Nachdem die Ärzte, wie sie behaupten, seit jeher "mit einem Bein im Gefängnis stehen", wird in Zukunft wohl jeder Patient seinen Rechtsanwalt am Bett stehen haben müssen.

Wenn schon der wache Patient Schwierigkeiten hat, sein gutes Recht durchzusetzen, wie schlecht ist dann erst der Bewußtlose dran! Schlaganfälle oder schwere Verkehrsunfälle befördern täglich Menschen jeden Alters in einen Zustand, den man im Englischen un-charmant "vegetable" nennt, und dies teils hoffnungslos für Monate und Jahre.

Patientenverfügungen sind ein juristisches Problem

Das Abschalten war bisher eine schwere Entscheidung von Ärzten und Angehörigen, die im Zweifelsfall wiederum im eigenen Sicherheitsinteresse eher zum Abwarten neigten. Seit einigen Jahren gibt es für solche Fälle die sogenannte Patientenverfügung, ein Formular, von dem zur Zeit noch diverse Fassungen kursieren und mit dem jeder in der Art eines Testaments verfügen kann, was mit ihm im Falle eines bestimmten Krankheitszustandes zu geschehen hat. Zur Durchsetzung dieser Verfügung wird ein Freund oder Angehöriger bevollmächtigt. Ohne Notar ist das Papier rechtsgültig oder stellt wenigstens diesen Anspruch, denn juristisch bewegt sich diese Art der ferngesteuerten Selbstbestimmung noch in einem Grenz- bzw. Grauland.

Es gibt ein Urteil des Bundesgerichtshofes, das die Patientenverfügung grundsätzlich als rechtskräftig anerkennt. Es gibt aber auch Urteile, die den Arzt nicht unbedingt daran binden, sondern ihm Ermessensspielraum gewähren. Solange es aber diesen Ermessensspielraum gibt, bleibt dem Arzt auch die Furcht, bei prompter Umsetzung des vorgelegten Papiers hinterher doch wieder irgendeiner Form von Sterbehilfe angeklagt zu werden. Das kann man den Ärzten gar nicht übelnehmen, meint die DGHS, daß sie lieber "auf Nummer Sicher gehen", auch wenn der Patient in einem nicht exakt zu überprüfenden Ausmaß leidet, weil schließlich jeder sich selbst der Nächste ist, auch der ethisch besonders Geforderte, und daher ist die Gesellschaft heute vor allem an der eindeutigen Fixierung des Selbstbestimmungsrechts bei moribunden und komatösen Patienten interessiert.

Die Juristen haben also auf dem Podium das große Wort, das Ethische ist im Grunde schon abgegessen, denn wer sollte in unserer individualistischen Gesellschaft ernsthaft etwas dagegen haben, daß jeder selbst bestimmt, wie und wie lange er medizinisch behandelt werden will? Hans-Ludwig Schreiber, ehemals Präsident der Universität Göttingen, und Gabriele Wolfslast plädieren beide dafür, die Patientenverfügung, die ursprünglich aus der freidenkerischen Bewegung stammt, zu einem umfassenden rechtlichen Instrument auszugestalten, das jeden Zweifelsfall ausschließt. In ihren Andeutungen entsteht ein Gebäude in den Ausmaßen des Scheidungs- oder Familienrechts und eigenen Kanzleien. Allerdings sollte die Selbstbestimmung des Patienten nicht dazu führen, daß keiner mehr Arzt werden will. Schon jetzt werden sie angeblich knapp.

Etwas kuscheliger sieht es in der Hospizbewegung aus. Bei einer Vortragsveranstaltung im katholischen Gertrauden-Krankenhaus grenzt man sich erst einmal deutlich von allen Euthanasie-Projekten ab und verbittet sich deren Solidarität. Dieses Ausspielen der Palliativmedizin gegen aktive Sterbehilfe verhindert jedoch nicht eine gemeinsame Basis, die darin besteht, gewisse Kranke von der allgemeinen Heilabsicht ausdrücklich auszunehmen, sie "aufzugeben", wenn auch aus edlen Motiven, und schon vor ihrem natürlichen Ableben dem Tode zu überantworten. In der Einfahrt des schön gelegenen Wannsee-Hospizes steht ein offener Lieferwagen mit zwei Särgen. Auf diesen Anblick angesprochen, bekennt sich die Leiterin, eine Diakonie-Schwester und Dr. med., zum selbstverständlichen Umgang mit dem Sterben. In Altenpflegeheimen, sagt sie, werden die Toten durch den Hintereingang in den frühen Morgenstunden entfernt. Das Motto des Wannsee-Hospiz: "Hilfe zum Leben, Begleitung im Sterben", hat der Taxifahrer instinktiv abgewandelt. "Hilfe zum Leben, Hilfe zum Sterben", zitiert er, auf das Haus angesprochen.

Euthanasie gehört kulturhistorisch zur Ökologie

Das Thema Gesundheitskosten wird in allen Debatten um das schönere Sterben ängstlich gemieden. Im Raum steht es dennoch. Beinahe rechtfertigend schildern Palliativmediziner und Hospizbetreiber, wie aufwendig eine "Finalpflege" ist. Es werden Dias gezeigt, auf denen Spezialwannen zu sehen sind, jede einzelne "so teuer wie ein Kleinwagen", wie der Vortragende betont. Es werden Fahrräder angeschafft, damit Angehörige sich zwischendurch sportlich betätigen und neue Kraft schöpfen können. Die Zimmer in einer Schmerzklinik sind wie Appartements mit je einer kleinen Küche versehen, damit Lieblingsgerichte extra zubereitet werden können. Doch auch mit größter Mühe gelingt es kaum, palliativ an die Aufwendungen für ein normales Krankenhausbett heranzukommen.

Eine Nacht im Hospiz Wannsee kostet nach Angaben der Leiterin Angelika Voigt um die 150 Euro. In einer Klinik sind aber 500 Euro pro Bett üblich, was auf das Heer von Ärzten und den bereitgehaltenen Maschinenpark zurückzuführen ist - auch wenn die Schwestern schlecht bezahlt und unfreundlich sind. Jede Anwendung kostet extra. So verbraucht ein Kassenpatient in den letzten zwei Lebensjahren sechzig bis achtzig Prozent der gesamten für ihn anfallenden Kosten. Besteht vorher beim Durchschnitt eher ein Plus an Einzahlungen, so ergibt sich nachher ein dickes Minus, das zu erhöhten Beiträgen für alle führt. Mit anderen Worten: Wenn es wie auch immer gelänge, die Lebenserwartung wenigstens leicht zu reduzieren, wäre das Gesundheitswesen auf einen Schlag saniert. Den Vorwurf, dieses Ziel heimlich im Auge zu haben, kann man nicht nur der Sterbehilfe-Lobby machen, sondern allen, die das Leid am Ende verringern wollen. Sie verringern damit - ob sie wollen oder nicht - auch die Kosten.

Eigentliches Ziel aber ist das ambulante Hospiz, der Tod in den eigenen vier Wänden, begleitet von professionellen Helfern, die angefahren kommen wie der Home-Care-Arzt, sowie Freunden und Angehörigen. Dies, so Dr. Voigt, wünschen sich die meisten Patienten. Die Palliativmedizin (pallatium = Schutzschild) dient dann ausdrücklich nicht mehr der Lebensverlängerung, sondern einzig dem Wohlbefinden des Patienten. Eine eventuelle Verkürzung durch hochdosiertes Morphium ist zumindest für Thomas Jehser, Arzt am Palliativzentrum Berlin-Brandenburg, kein Thema: "Schmerzbekämpfung hat Priorität." Das ist einsichtig - aber eben nur, wenn "nichts mehr zu machen ist".

Auch früher war es häufig der Fall, daß Ärzte es Monate vorher wußten, doch zugeben tat man es ungern. Schon gar nicht gegenüber dem Patienten, kaum zu Angehörigen. Zur Ehre der Medizin und zur Auslastung der Apparate wurde bis zum letzten Augenblick der Glaube an ein "Wunder" aufrechterhalten. Wer dabei nicht mitspielte, und das waren vor allem die Sterbenden selber mit ihrer genauen inneren Wahrnehmung, sollte möglichst den Mund halten und die Moral nicht verderben. Inzwischen verbreitet sich mehr und mehr die Auffassung, daß Mediziner Fachleute sind, die vieles vermögen, aber wie jeder andere mit ihrem Latein irgendwann am Ende sind.

Das mag selbstverständlich klingen, für den "homo faber" ist es ein Unding, sein Werkzeug beiseite zu legen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Es sperrt sich in ihm alles "Menschliche" im Sinne von Kampf gegen die Natur und Sieg über die Urgewalten. Unsterblichkeit hatten die Christen angestrebt, Unsterblichkeit versprach zumindest potentiell auch die moderne Wissenschaft. Nun tritt zum erstenmal eine Umkehr ein. Sterbehilfe, in welcher Form auch immer, gehört damit zur Ökologie. Es ist die Einsicht in die Grenzen der Technik und deren technisch unterstützte Achtung. Dabei wirkt die aktive Sterbehilfe mit der Spritze eher wie aus den Zeiten der aggressiven Schädlingsbekämpfung, während die Palliativmedizin sozusagen Vögel zum selben Zwecke einsetzt.

Auch darin liegt eine gewisse Grausamkeit, dem Impuls des Rettens und Heilens nicht (mehr) zu folgen, sondern den Untergang lächelnd - die Schwestern im Wannsee-Hospiz tragen nicht Weiß, sondern Gelb - zu begleiten und milde zu unterstützen. Es ist die Grausamkeit des Klügeren, der nachgibt, und der Patient weiß nicht mehr, wird er gehalten, geschoben oder fallengelassen in Daunenfedern, die zu weich sind, als daß man es sich anders wünschen würde.


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