© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/03 07. November 2003

Pankraz,
W. J. Siedler und der verlorene Bürger

Spricht man mit gediegenen Zeitbeobachtern, die sich um das Ganze Sorgen machen, wie Wolf Jobst Siedler oder Eberhard Straub, so hört man immer wieder: "Der Bürger ist tot, es gibt kein Bürgertum mehr, wir haben auf Dauer die egalitäre Massengesellschaft. Weh uns!"

Gemeint ist immer eine eng eingekreiste historische Figur: der deutsche Bildungs- und Besitzbürger des neunzehnten Jahrhunderts, jenes Konglomerat aus Universitäts- und Gymnasialprofessoren, mittleren Unternehmern, Ärzten, Apothekern und höheren Beamten, die damals das Rückgrat der Nation bildeten, vaterländisch und weltaufgeschlossen zugleich, Tradition und Neuerung solide verbindend, stets offen für tatkräftige Emporkömmlinge aus unteren Schichten, ein verläßliches Resonanzbecken für Geniestreiche und sonstige geistige Leistungen. Diese Formation ist in der Tat im zwanzigsten Jahrhundert zermahlen worden.

Existiert aber nicht ein viel umfassenderer Begriff des Bürgers, der die Jahrhunderte überdauerte und auch heute noch Hoffnung stiften kann? "Bürger" waren einstmals Leute, die hinter den Mauern, auf der Burg und rund um die Burg herum siedelten, die den simplen Kommunikations- und Produktkreislauf zwischen dem Burgherrn und "seinen" Bauern unterbrachen, ihn veredelten und spezifizierten und teilweise in Warenkreislauf umwandelten. Sie reflektierten auch darüber, und zwar nicht in pfäffischer Weise, indem sie die Dinge einfach bekräftigten und mit Gottes Segen versahen, sondern auf neuartig-interessante Weise, das reflektierende Subjekt selbst ins Spiel bringend, sich die Freiheit nehmend, dieser oder jener Meinung zu sein.

Diese Art von Bürger gab es schon im Mittelalter, als kräftigen Gegenpol zu Fürstenherrschaft und Priestertum, er überstand die frühe Neuzeit, wo die Fürsten im Zeichen eines kristallinen Rationalismus zu absoluten Machthabern aufzusteigen trachteten, er kam im neunzehnten Jahrhundert selber zu staatsbildender Macht. Und wenig gehört dazu, um die Feststellung zu wagen: Auch die moderne Massengesellschaft kann ohne diese Art von Bürger nicht leben, weder wirtschaftlich-materiell noch geistig.

Gewiß, andere, ganz unbürgerliche Schichten haben sich in den Vordergrund geschoben bzw. werden von den Medien in den Vordergrund geschoben: Superreiche, global (also "ohne Burg") operierende Finanz- und Finanzierungskräfte; "Stars", die die Medien selber hervorbringen und die das Unterhaltungsbedürfnis der Masse bedienen; Politiker, die jede Bodenhaftung verloren haben und nur noch dem hinterherlaufen, was der Informations-Industrie und den Massen (scheinbar) nützt, ihnen zu größerem Umsatz, faulerem Leben und immer simplerer Unterhaltung verhilft.

Zusammengehalten und vor dem Chaos bewahrt jedoch wird das Ganze von "Bürgern" im klassischen, oben skizzierten Sinne: von Leuten mit mittlerem Einkommen, aber überdurchschnittlicher Einbildungskraft und Unternehmungslust, von Erfindern und Reflektierern, Wissenschaftlern und ernsthaften Künstlern. Solche Leute schmeißen nicht irgend etwas in den Teich, damit es irgendwelche Kreise zieht, sondern sie überlegen sich die Folgen genau. Das heißt, ihr Feld ist übersichtlich und begrenzt, es ist die Polis, die optimiert und in Ordnung gehalten werden muß und für die man sich, ohne ins Schwafeln zu kommen, verantwortlich fühlen darf.

Echte Bürger lieben die Freiheit ("Stadtluft macht frei", hieß es schon im Mittelalter), doch sie wissen auch, daß die Freiheit ihre Grenzen hat, in jeder nur vorstellbaren Hinsicht. Was in der einen Gegend Freiheit bedeutet, kann in der anderen Unfreiheit sein. Was der eine als "seine Freiheit" reklamiert, kann dem Nachbarn von nebenan den Hals zuschnüren. Freiheit läßt sich nirgends "einführen", sie muß aus dem Mutterboden der Burg erwachsen, wenn sie Wurzeln schlagen soll.

Oder, um einen, vielleicht etwas minimalistischen, Gedanken von Hans Magnus Enzensberger aufzugreifen: Ein Gemeinwesen, das nicht von sich aus dafür sorgt, daß seine Angehörigen über die Straße gehen können, ohne unverhofft umgelegt zu werden, verdient nicht, daß man ihm hilft. Jede Hilfe wäre vergebens. Denn es ist ein "Gemeinwesen" ohne Bürger, eine Räuberhöhle.

D ie Haltung der Massengesellschaft zum Bürger ist auf bezeichnende Weise widersprüchlich. Üblicherweise herrscht Herablassung, gar angestrengte Verachtung. Die Massenmedien favorisieren entweder den sogenannten "kleinen Mann", den sie aggressiv gegen den Bürger ausspielen, oder den reichen Krösus mit seinen aufdringlichen Accessoires sowie den "Star". Noch das läppischste "Sternchen" rangiert bei ihnen höher als der solide Bürger, der, wenn überhaupt, allermeist als langweiliger Spießer hingestellt wird.

In politischen Festreden freilich oder in bürokratischen Erlassen kommt der Bürger regelmäßig und positiv vor, und zwar in Form des "Mitbürgers". Es ist dies eine reine Drohvokabel. Mit ihrer Hilfe bringen die Politiker und die Bürokratie den Bürgern bei, daß sie gewisse Zuwanderer zur Polis ungeprüft und ohne vorhergehende Verhandlung als gleichberechtigt und ebenbürtig zu akzeptieren und ihnen sofort alle eventuell noch existierenden bürgerlichen Privilegien einzuräumen haben. Das ölige Reden vom "Mitbürger" (statt vom Bürger selbst) dementiert im Grunde jeden Bürgerstolz und jede bewährte bürgerliche Tradition.

Trotzdem ist es ein sicheres Zeichen dafür, daß es den Bürger, Siedler und Straub zum Trotz, immer noch gibt, wenn nicht als soziologisch eingrenzbare Einkommensgruppe oder Berufsschicht, so doch als historisch-ethische Gestalt und als bitter notwendiges öffentliches Postulat. "Was ist das würdigste Glied des Staates? Ein wackerer Bürger;/ Unter jeglicher Form bleibt er der edelste Stoff" (J. W. Goethe, Gedicht "Vier Jahreszeiten", Nr. 18).


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