© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de 44/03 24. Oktober 2003
 


Meldungen

Engagierte Historiker: von Treitschke zu Wyrwa

BERLIN. Als einer der Hauptunholde unter den ideologischen Wegbereitern der NS-Bewegung figuriert in der modischen "Antisemitismus-Forschung" Heinrich von Treitschke (1834-1896), der Erfinder des Schlagwortes "Die Juden sind unser Unglück". Aber auch außerhalb dieses engen Kontextes ist über den Historiker nach 1945 viel publiziert worden, kompendiös zuletzt Ulrich Langers "politische Biographie" (1998). Darum muß ein Aufsatz wie "Heinrich von Treitschke. Geschichtsschreibung und öffentliche Meinung im Deutschland des 19. Jahrhunderts" (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 9/03) sehr erstaunen, mit dem Ulrich Wyrwa, Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, seinen Habilitationsvortrag bestritten hat. Denn noch immer wird erwartet, daß ein Habilitand zum wissenschaftlichen Fortschritt seines Faches beiträgt. Was Wyrwa hingegen referiert, erschöpft sich in der uralten These, Treitschke repräsentiere den Prototypus des Kathederpolitikers. Daß der Verfasser einer populären, 1848 endenden "Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert", der kleindeutsche Pamphletist und Bismarck-Bewunderer, virtuos auf der Medienklaviatur spielen konnte, wenn es galt, gegen allerlei "Reichsfeinde" zu mobilisieren, wußte man lange bevor ausgerechnet der an seinem TU-Institut volkspädagogisch engagierte Wyrwa Treitschke bescheinigt, Zeitgeschichte zum Schaden der Wissenschaft "instrumentalisiert" zu haben.

 

Rätselraten über die "Ehre der Nation"

KÖLN. Nach 1945 wurde die "Ehre der Nation" im Selbstverständnis der "weltoffenen" Bundesbürger nur zum Ballast auf dem Weg nach Europa. Heute erweckt das einstige "Kernelement" der politischen Kultur aller europäischen Staaten gerade in Deutschland als "archaisches Moment der Moderne" allenfalls das Interesse von Historikern, die sich mit "Stereotypen" nationaler "Ideologiebildung" beschäftigen. Dieser kaum mehr überschaubaren Nationalismusforschung fügt Christian Koller einen Aufsatz über den Prozeß der "Kollektivierung und Nationalisierung von Individuallehre" hinzu (Saeculum, I/03). Er will diesen Vorgang an der "Konstruktion" nationaler Ehre in den Befreiungskriegen, ihrer Wirksamkeit in der Schleswig-Holstein-Frage (1846-1864) und in den Kolonialdebatten ab 1880 veranschaulichen. Die Antwort, warum die Verletzung kollektiver Ehre massenwirksam als persönliche Kränkung empfunden werden konnte, bleibt er dem Leser leider schuldig. So verdeckt seine Zitatenhalde nur die Ratlosigkeit, die er mit den Völkerpsychologen des 19. Jahrhunderts teilt - auch sie rätselten über "unwägbare Kräfte", mit denen der "Gesamtgeist" die individuellen "Gemüter" bewege.


 
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