© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de 44/03 24. Oktober 2003
 


Deutsches Kino
Jedes Land braucht eine Legende
Dieter Stein

Auf dem Filmplakat steht: "Jedes Kind braucht einen Vater. Jeder Mensch braucht einen Traum. Jedes Land braucht eine Legende." Das reicht doch schon, oder? Sönke Wortmanns Film "Das Wunder von Bern" rührt an der deutschen Neurose. In einem Interview bekannte der Regisseur, "mit Werten wie Nationalgefühl sollten wir gelassener umgehen". Einer solchen Gelassenheit und dem Mut zum angemessenen nationalen Pathos, das jede Gemeinschaft braucht, damit sie zusammenhält und nicht asozial auseinanderfliegt, hat sein Film (siehe auch ausführliche Besprechung auf Seite 20) Ausdruck verliehen. Nicht mehr und nicht weniger.

In den Redaktionen der "Qualitätszeitungen" in Hamburg, Frankfurt und München warfen die Feuilletonisten jedoch sogleich sorgenvoll ihre Stirnen in Falten: Bloß jetzt nicht die politisch-korrekte Façon verlieren, bloß nicht die zeitlebens aufopferungsvoll antrainierte Figur des selbstzerknirschten Schamdeutschen aufgeben, bloß jetzt nicht durchgehen lassen, daß in einem Kinofilm die fünfziger Jahre bedenkenlos verharmlost werden und die deutsche Geschichte umgedeutet, ja, womöglich deutsche Täter zu Opfern gemacht werden!

Es ist fast schon wieder amüsant, das schlechtgelaunte Herumgenöle an diesem wunderbar unprätentiösen, liebevollen, sehr wohl pathetischen Film in einigen besonders national-neurotisierten Blättern zu lesen. Am hysterischsten spielt Diedrich Diedrichsen in der Wochenzeitung Die Zeit auf. Sein Satz "Natürlich ist Sönke Wortmann kein Nazi" kann es mit "Natürlich habe ich nichts gegen Juden" locker aufnehmen. Und in dieser Tour geht es dann jammernd weiter. Wortmann erzähle "national-allegorisch" über die "Tiefe des erduldeten Leids" einer Essener Familie, die den erzählerischen Stoff für den Film abgibt, gehässig verbreitet sich Diedrichsen angesichts des dargestellten Kriegsgefangenenschicksals über "langbeinige Schmerzensmänner" und "verbreitete Rührung".

Noch vor knapp zwei Jahren hatte der Filmproduzent Bastian Clevé allergrößte Schwierigkeiten, seine phantastische Neuverfilmung des Epos "So weit die Füße tragen" erfolgreich in die Kinos zu bringen. Widerwillig und lustlos nahmen die Medien diese Erzählung über einen deutschen Kriegsgefangenen auf, der aus einem sibirischen Gefangenenlager zu Fuß nach Hause flieht. Dieser Film wurde fanatisch als "revanchistisch" bekämpft und lief schließlich nur noch als Geheimtip in kleinen Sälen.

Beim "Wunder von Bern" ist dies nun anders. Offenbar hat der Film gute Chancen, nach der DDR-Komödie "Good bye, Lenin!" zum zweiten großen deutschen Erfolgsfilm dieses Jahres zu werden - knapp 400.000 Besucher sahen ihn in der ersten Woche, wird gemeldet. Der legendäre Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 ist natürlich ein dankbarer Stoff, Bild-Zeitung, DFB und sogar der Bundeskanzler sorgen für Rückenwind. Auf alle Fälle wurde eine Tür für mehr Mut zu patriotischem Pathos im deutschen Film aufgestoßen.


 
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