© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de 43/03 17. Oktober 2003
 


Sünden rächen sich in der nächsten Generation
Horst Hensel sieht in den Defiziten unseres Bildungssystems eine Gesellschaftskatastrophe und mahnt eine geistig-moralische Wende an
Rolf Stolz

Nichts ist einfacher, als die Dinge laufen zu lassen, bis sie gegen die Wand laufen. Nichts ist einfacher, als Kindern die Erziehung zu verweigern und ihnen in allem nachzugeben - zumindest bis zu dem Moment, wo sie Rache nehmen an Eltern, die doch angeblich immer so gut zu ihnen waren, in Wirklichkeit aber auf ganzer Linie versagt haben.

Was hier im Einzelleben gilt, gilt ebenso im gesellschaftlichen Ganzen: Bequemlichkeit und Feigheit rächen sich unweigerlich. Wenn es also Mut verlangt, zu erziehen, so erfordert es ebenso Mut, publizistisch für die Notwendigkeit einer Erziehungswende und einer systematischen politischen Umorientierung einzutreten, die die "Anything-goes"-Schwindler und Passivitätsprediger von den akademischen Kathedern und den Fernsehkanzeln zu vertreiben hilft. Horst Hensel, der in seinem literarischen Werk vielfältige Einflüsse und Anregungen gerade aus seinen sinologischen Studien verarbeitet hat und der auch als engagierter Streiter für unsere Muttersprache bekannt geworden ist, hat in einem kurzen, gut lesbaren und gedankenreichen Taschenbuch eine Konzeption entwickelt, wie eine Erziehungspolitik aussehen könnte, die häuslich-familiäre ebenso wie gesellschaftliche Defizite gezielt überwindet.

Der Autor steht dezidiert in der Tradition der Aufklärung. Nicht zufällig beginnt er mit einem Kant-Zitat, das die Schwierigkeit wie die sittliche Unerläßlichkeit der Erziehung betont. Gegenstand des Buches ist die Kritik des gegebenen Erziehungsnotstandes und dessen Überwindung durch eine wertorientierte Erziehungspolitik, die sich natürlich auch um eine grundlegende Schulreform bemühen muß. Anhand konkreter Beispiele beschreibt Horst Hensel, wie das Fehlen von "Lernbereitschaft und Benehmen" bei einer relativ großen Minderheit von Schülern sich in den letzten zwanzig Jahren verstärkt hat und wie es verewigt wird durch Lehrer, die nichts dagegen unternehmen, sowie durch Mitschüler, die sich als Mehrheit gegen eine antisoziale Minderheit nicht durchsetzen können. In der Tat handelt es sich hier um eine "epochale gesellschaftliche Veränderung", um einen Zivilisationsbruch, bei dem eine müde gewordene und an sich selbst (ver)zweifelnde Kultur ihr Heil im Aufgeben der Regeln zivilisierten Zusammenlebens und einer Rebarbarisierung sucht.

Um dem Hauptproblem, dem Mangel an elterlicher Erziehung, wirksam zu begegnen, setzt Hensel nicht allein auf ein Überreden und Überzeugen der unmittelbar Betroffenen, sondern fordert dazu auf, den Staat zu seinen Pflichten zu rufen. Dies bedeutet nun aber gerade nicht eine Totalverstaatlichung von Bildung und Erziehung, sondern es soll die strukturellen Voraussetzungen schaffen, daß die einzelne Schule "als Einrichtung selbständiger Pflichterfüllung" autonom ihrem Bildungsauftrag nachkommen kann.

Hensel beschreibt die positiven wie die negativen Folgen der ökonomisch-technischen Revolution, wobei für die Schulen gerade die zunehmende Herrschaft von Vermarktungszwängen und Mediatisierungstendenzen zum Problem wird. Wenn "Wir-Werte" wie Solidarität durch "Ich-Werte" wie Spaß ersetzt werden, breiten sich quer durch die Generationen Anspruchsdenken, Selbstbedienungsmentalität, Beliebigkeit, Asozialität und Aggressionen aus. Das hat zur Folge, daß Eltern aus Erziehungsunsicherheit, Erziehungsunlust und Erziehungsunfähigkeit heraus nicht mehr ihre natürliche Rollenfunktion erfüllen. In Deutschland verschärft im übrigen das Fehlen einer positiv besetzten nationalen Identität die Problemlage.

Zutreffend und vielschichtig erörtert Horst Hensel verschiedene Ursachen für den Bildungsnotstand:

1. Die deutschen Lehrer haben ein Ansehen und einen Status, der dem von Dienstboten entspricht. Von Politikern werden sie als Trottel und Faulpelze der Nation hingestellt.

2. Das idealistische Menschenbild ("alle alles zu lehren") berücksichtigt zu wenig die realen Grenzen der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft.

3. Ein pädagogischer Machbarkeitswahn versucht über Kampagnen den "wahren Menschen" heranzubilden, ohne die engen Grenzen jeder Bewußtseinsveränderung und die Unvermeidlichkeit wiederholten Scheiterns zu berücksichtigen.

4. Der "akademistisch-bürokratische Komplex" aus Hochschulpädagogik und Ministerialbürokratie erzeugt eine politisch korrekte und genehme Fiktion der Wirklichkeit in den Schulen und erschwert den pädagogischen Praktikern ihr Frontkämpfer-Dasein zusätzlich.

5. Eltern versuchen ohne Rücksicht auf das Kindeswohl auch Kindern, die nicht für eine höhere Schule geeignet sind, diese aufzuzwingen.

Als Alternativen, als Auswege aus der Misere sieht der Autor die Rückwendung zu den großen Werten, aber auch zu den kleinen Sekundärtugenden wie Fleiß und Höflichkeit, und eine Erziehung von Kindern aus selbstloser und zweckfreier Liebe, unter Verzicht auf kurzfristige egoistische Selbstverwirklichungswünsche. Dazu unterbreitet er ein ganze Reihe von konkreten Vorschlägen: ein Erziehungskongreß auf Bundesebene, Erziehungsinitiativen und Erziehungsbündnisse, Wettbewerbe, eine Länderstiftung "Bildung und Erziehung", die Würdigung positiver Beispiele, Angebote von Erziehungshilfen, in den Schulen Einigung auf einen Wertekanon und Erziehungsmaßnahmen, Bestrafung von eklatantem Fehlverhalten, Heranziehung der Schüler zu Helferdiensten, Heranbildung eines identitätsstiftenden "Schulgeistes" durch Traditionen und Rituale.

Wichtig ist auch der Hinweis auf ein "Schulmanagement", das begrenzte Mittel optimal einsetzt. Zu Recht betont Hensel die Notwendigkeit, daß die einzelnen Schulen sich unter der Oberaufsicht selbstverwalteter Schulkammern eigenständig Erziehungspläne, Haushalte und Schulprogramme erarbeiten und unbehelligt vom Parteienklüngel ihre eigene Leitung wählen. All dies macht deutlich, daß es ihm darum geht, den unfruchtbaren und jedes Handeln blockierenden Widerspruch zwischen der Notwendigkeit einer neuen und besseren staatlichen Erziehungspolitik einerseits und der Notwendigkeit einer Entstaatlichung der Schulen andererseits aufzuheben in der Synthese einer demokratischen, gesellschaftlich getragenen Erziehung von Menschen zu Menschen.

Als Fazit sollte man allen "praktischen Pädagogen", allen Erziehern, allen Eltern und überhaupt allen am Schicksal und Fortschritt unserer Gesellschaft Interessierten dieses Buch uneingeschränkt empfehlen. Nebenbei: Laut einer Emnid-Umfrage halten 64 Prozent der Deutschen eine strengere Erziehung für wünschenswert. Mehr Erziehung zu Respekt gegenüber Erwachsenen wünschen sich sogar 86 Prozent. Auch in dieser Frage muß endlich der Wunsch der Mehrheit, der Wille des Volkes mehr Geltung haben als die Obsessionen einer dumm-dumpfen Minderheit von Ideologen und Amtsverwesern.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen