© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de 43/03 17. Oktober 2003
 


Pankraz,
die Frauenkirche und das Schiff des Theseus

Vor einigen Tagen war Pankraz in Dresden, um die wiedererstandene Frauenkirche zu betrachten, an der jetzt fast alle Baugerüste gefallen sind. Es war ein prächtiger, ergreifender Anblick. Besonders anrührend zu sehen, wie harmonisch sich die erhaltenen und nun für den Bau verwendeten Trümmerteile der alten Weltkriegsruine in die neue Substanz einfügen, sie drollig sprenkelnd und dennoch veredelnd, Symbol für Kontinuität und für Widerstand gegen Zerstörung und Untergang.

Neben dem staunenden Pankraz stand ein skeptischer Tourist aus Berlin, und der sagte: "Zebra! Wat solln det? Billijer wärt jewesn, die hättn die ollen Klamotten wechjeschmissn und allet mit neue Sandsteine uffjebaut." Pankraz erwiderte: "Sandstein ergraut schnell, bald wird man keinen Unterschied mehr sehen". Bei sich aber dachte er: "Mein lieber Mann, du hast da ja soeben an eines der schwierigsten Rätsel der Erkenntnislehre gerührt. Mach ruhig so weiter, vielleicht wird noch was."

Bei den alten Sophisten vor zweieinhalbtausend Jahren hieß das Rätsel "Das Schiff des Theseus". Wenn König Theseus sein schönes Schiff im Laufe der Zeit Planke für Planke erneuern läßt, ist es dann am Ende noch das Schiff des Theseus? Und wenn nicht, ab welcher Planke muß man sagen: "Es ist nicht mehr das Schiff des Theseus"? Und gesetzt, ein Reeder sammelt die ausgemusterten Planken ein und baut daraus, nachdem er sie vom Moder befreit und eine Zeitlang eingelagert hat, genau dasselbe Schiff - welches ist dann das Schiff des Theseus: das peu à peu restaurierte oder das aus den alten Planken von dem Reeder rekonstruierte?

Ist wirklich nur alles eine Frage bloßer Verabredung und Benennung? Beide Schiffe, sowohl das restaurierte als auch das rekonstruierte, haben doch "objektive", echt historische Gründe hinter sich: das restaurierte z. B. die in einer bestimmten Situation gefällte Entscheidung des Schiffsherrn, jetzt und nicht später um der Seetüchtigkeit willen die Planken auszuwechseln, das rekonstruierte z.B. die Tatsache, daß seine Planken unbezweifelbar älter, also "originaler" sind als die von Schiff Nummer eins.

Bei Kirchen tritt das Dilemma noch viel schärfer hervor. Kirchen sind in der Regel Jahrhundertbauplätze, werden immer wieder umgebaut, um sie dem jeweiligen Stil der Zeit anzupassen: einer romanischen Basilika werden gotische Spitzbögen eingezogen, einem gotischen Dom barocke Rundtürme aufgesetzt usw. Was ist dann original? Das verbreitete Argument der Denkmalsschützer, einzig der allererste "Vollendungs"-Zustand sei das Original, ist höchst angreifbar, nicht zuletzt weil es die konkrete Wirklichkeit historischer Zeitabläufe ignoriert und den Bauwillen unzähliger nachfolgender Geschlechter allzu gering achtet.

Im Falle der Frauenkirche war der Wille der Dresdner Bürger maßgebend, den teuflischen Kräften der Zerstörung und der Auslöschung ein Schnippchen zu schlagen und direkt und in voller Konkretheit ein Beispiel der Treue und der Verbundenheit mit der urbanen Tradition aufzurichten. Das ist glorios gelungen. Man hat in Gestalt der Frauenkirche nicht etwas Neues in altem Gewande hingebaut, sondern man hat, wie es die alten, freien und selbstbewußten Bürgerschaften und ihre Bauhütten in Deutschland noch stets getan haben, einfach am Dom weitergebaut, souverän über alle Kriegsläufte und moderne Planierungsgelüste hinweg. Das war gut so, und es gehört sich so.

Die in die "neue" Frauenkirche so schön eingebauten "alten" Trümmerstücke sind geeignet, ganz kräftig zur Lösung des Rätsels um das Schiff des Theseus beizutragen. Es geht weder hier noch da um alte Steine bzw. modrig gewordene Planken. Die Frage der Identität, der Treue zur Überlieferung und der Kontinuität des Ansehnlichen und Gelungenen, entscheidet sich nicht an toten Materialien, sie kann aber auch nicht durch Volksentscheide oder sonstige Abstimmungen simpel postuliert werden. Beides, der Wille zur Identität und das Symbol der Identität, gehört zusammen.

Wenig Philosophie ist ja nötig, sich klarzumachen, daß keine Gestalt vor dem Fortriß der Zeit bestehen kann, auch ein Schiff nicht, das auf den Wellen treibt und dadurch so etwas wie ein natürliches Symbol des Beständigen, mit sich selbst Identischen im Strom ewiger Veränderung ist. Theseus muß die Planken erneuern lassen, mal hier, mal da, und so verändert sich sein Schiff unaufhörlich, behält allein dadurch seine Identität, daß es eben das Schiff des gewaltigen, willensstarken Königs Theseus ist; des Königs Wille allein hält es zusammen.

Insofern siegt also die Restauration über die gänzlich vom aktiven Treiben auf dem Meer abgehobene Rekonstruktion in der Werft, welche eine Art Museum ist, eine bloße Erinnerung an Theseus. Das betrifft jedoch nur die eine Seite. Die andere wird sichtbar, wenn man bedenkt, daß der Wille ohne Erinnerung nichts ist. Er muß sich ständig an der Erinnerung orientieren, sich von ihr seine Pläne schmieden lassen. Und Erinnerung ist an Symbole gebunden, nur diese können den Rang des Willens letztlich beweisen und bekräftigen. Spätestens der glücklich heimgekehrte Theseus braucht Symbole, schon um seine Herrschaft zu sichern, und da mag ihm das in der Werft mühsam aus "originalen", "ruhmbeladenen" Planken rekonstruierte Erinnerungsschiff sehr zupaß kommen.

Das "Zebra" von Dresden, die aus neu herangebrachten Sandsteinen und feuergeschwärzten Trümmern zusammengesetzte Frauenkirche, ist Restauration und Rekonstruktion zugleich, ein "Schiff" ganz eigener Art. An ihm erfährt der Betrachter, daß das Rätsel der Identität seine Lösung findet in der Zusammenschau von Gestalt und Wille, Treue und Tat. Später, wenn die Steine wieder gleichmäßig grau sind und aus dem "Schiff" ein ganz normales Kirchenschiff geworden ist, sollte man sich daran erinnern.


 
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