© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/03 10. Oktober 2003

 
Auch Kinder haben eine Stimme
von Wilfried Böhm

E ine radikale demokrati sche Reform, die kein Geld kostet und den noch das gesamte Ge sellschaftssystem erfaßt, müßte das Ziel haben, Familie und Kinder zu einem viel bedeutenderen Bezugspunkt des politischen Lebens zu machen, als sie es heute sind. Nach dem Grundsatz "Ein Mensch - eine Stimme" sollte das Wahlalter auf null Jahre gesenkt werden. Denn Menschen sind sie spätestens, wenn sie das Licht der Welt erblickt haben. Bringt man die Herabsetzung des Wahlalters auf den Tag der Geburt ins Gespräch, wird man im besten Fall mitleidig zweifelnd angeschaut. Die Skepsis gegenüber einem "Familienwahlrecht", wie es meistens genannt wird, ist allgemein.

Für das "Wahlrecht für alle", zutreffender genannt, wurde jetzt im Deutschen Bundestag ein neuer Anlauf gestartet, der in allen Fraktionen Befürworter gefunden hat. Bisher sieht Artikel 20 des Grundgesetzes zwar vor, daß Wahlen "vom Volk" ausgeübt werden - ohne jede Einschränkung. Artikel 38 (2) schließt aber ohne nähere Begründung alle Bürger unter 18 Jahren aus - das sind derzeit fast 14 Millionen Menschen. Der jüngste interfraktionelle Antrag fordert, auch Kindern ein Stimmrecht zu geben. Mangels Reife soll dieses Recht nicht wie bisher entfallen, sondern von den gesetzlichen Vertretern der Kinder, in der Regel den Eltern, ausgeübt werden. Die 14 Millionen neuen Wähler würden ein erhebliches politisches Gewicht erhalten, und es sind als kommende Generation genau diejenigen, die am längsten von den Folgen der aktuellen politischen Entscheidungen betroffen sind.

Bisher lautete die typischen Reaktion schlicht: "hanebüchener Unsinn". Dafür liefert der Chefredakteur einer hessischen Regionalzeitung ein Beispiel. Erwartet er doch von einem Stimmrecht für Kinder "bald den ersten Minister im Pampersalter".

Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte den einzukalkulierenden demographischen Faktor mit den Worten vom Tisch gewischt: "Kinder haben die Leute immer." Nach dem Erkenntnisstand von 1957 hatte er recht.

Fest steht: Die Kinder sind bis zu ihrem Eintritt in das Erwerbsleben nur ihren Eltern "lieb und teuer", dann aber haben sie die Leistungen für alle zu erbringen - auch für diejenigen, die sich statt für Kindererziehung und deren Finanzierung mehr für Börse, Single-Trends und Urlaubsspaß auf den Bahamas interessieren.

Rezession und schwindendes Vertrauen in die Zukunft haben in den letzten Monaten eine Art "Konventitis" hervorgebracht, die Gründung von sogenannten "Bürger-Konventen", die sich mit teueren Zeitungsanzeigen präsentieren. Ein Engagement für das "Wahlalter null" hingegen wäre ein konkreter Schritt in die richtige Richtung. Familien und Kinder gelangten endlich ins Zentrum des politischen Alltags, ihre Probleme könnten parlamentarisch, pluralistisch und ohne extreme Verwerfungen im Rahmen der demokratischen Ordnung gelöst werden. Der "Generationenkonflikt" verlöre viel von seinem Schrecken. Wie das Bundesverfassungsgericht bestätigt, steht die Familienpolitik gegenwärtig nicht im Einklang mit dem Grundgesetz. Familien stellen zwar die Hälfte der Bevölkerung, aber nur ein Drittel der Haushalte und der Wähler. Was Wunder, wenn ihre Interessen, die für die Zukunft aller von entscheidender Bedeutung sind, zu kurz kommen.

Worte des Trostes und der Ermunterung an die Familien gibt es genug - in den Sonntagsreden der Politik. An der Spitze der Bundeskanzler, der erklärte, Kinder großzuziehen sei die vielleicht wichtigste und großartigste Aufgabe: "Wenn Menschen gezwungen sind, zwischen einem glücklichen Familienleben und einer erfolgreichen Karriere zu wählen, haben wir alle von vornherein verloren." Genau darum sollten die fast 14 Millionen Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren mit dem Wahlrecht ausgestattet werden.

Ausgeübt würde das Wahlrecht für Minderjährige, entsprechend dem auch sonst bei Geschäftsunfähigen üblichen Verfahren, durch deren gesetzliche Vertreter. Das Vertretungsrecht verteilt sich je zur Hälfte auf die beiden Elternteile, bei Alleinerziehenden liegt es bei einem. Mit einem andersfarbigen Stimmzettel für "halbe Stimmen" lassen sich die Stimmen der Kinder unkompliziert in das Wahlergebnis einordnen. Unter dem Gesichtspunkt des Aufwands gibt es keinen ernsthaften Einwand gegen dieses Verfahren.

Niemand ist besser geeignet, eine familienfreundliche Politik herbeizuführen als die Eltern, die um ihrer Kinder willen über den eigenen Tellerrand hinausblicken und Politik nicht nur aus der Perspektive einer Generation gestalten. Doch nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Familienpolitik als Grundlage der Zukunftssicherung spricht alles dafür, dem Grundsatz "Ein Mensch - eine Stimme" gerecht zu werden. Mit der Geburt sind Kinder ein Teil des Volkes, von dem in einer Demokratie die Staatsgewalt auszugehen hat. Auch dieser egalistische Ansatz gebietet das "Wahlalter null". Väter und Mütter müssen alle möglichen Haftungen und Pflichten für ihre Kinder übernehmen, doch von der politischen Verantwortung für diese bleiben sie ausgeschlossen.

Es hat sich gezeigt, daß die Geschichte des Wahlrechts auch die Geschichte seiner Ausdehnung auf immer mehr Bevölkerungsgruppen als Folge eines wachsenden demokratischen Bewußtseins gewesen ist. Von kleinen Gruppen wie Adel, Stadtrat, Kurfürstenkolleg ging es 1848 von den selbständigen Hausvätern auf alle volljährigen Männer, 1919 auch auf die volljährigen Frauen und alle Zwanzigjährigen, 1974 auf die Achtzehnjährigen und später bei Kommunalwahlen auf die Sechzehnjährigen über.

Die Forderung nach einem von den Eltern stellvertretend wahrgenommen Wahlrecht ab Geburt findet sich schon in den programmatischen Aussagen des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Sie gehört zu dem politischen Vermächtnis des nach dem 20. Juli 1944 zum Tode verurteilten Leipziger Oberbürgermeisters Carl Goerdeler. In der Gefängniszelle schrieb er seine Gedanken über die Zukunft Deutschlands nieder: "Der Familie gebührt besonderer Schutz als der Zelle staatlichen und völkischen Aufbaus. Das geschieht durch Zuweisung der Erziehungsaufsicht auf sie und durch die Errichtung einer Kinder-Rentenkasse, die kinderreichen Familien Renten zu Lasten kinderloser und kinderarmer zuweist, außerdem ist das Wahlrecht für Verheiratete mit mindestens drei Kindern bei dem Vater ein doppeltes." Diese aus dem Zeitgeist zu erklärende patriarchalische Sichtweise ist ein erster Denkansatz zu einer Privilegierung der Eltern, die in dieser Eigenschaft über das eigene Leben hinausdenken und bei Wahlentscheidungen die Zukunft ihrer Kinder mit bedenken.

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde das Thema im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Herabsetzung des Wahlalters von 21 auf 18 und von 18 auf 16 Jahre angesprochen. In der Mitte der siebziger und wieder Mitte der neunziger Jahre wurde nicht über das Prinzip "Ein Mensch - eine Stimme" diskutiert, sondern unter der Bezeichnung "Familienwahlrecht" eher an eine Privilegierung der Eltern mit dem Ziel gedacht, bei Wahlen über zusätzliche Stimmen für ihre Kinder zu verfügen. Ein solches Familienwahlrecht ist von verschiedenen Seiten vorgeschlagen worden, fand aber außer bei den Familienverbänden keinen Widerhall. Aufgrund der immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen und sozialen Situation wurden diese Gedanken von Politikern, Wissenschaftlern und Kirchenvertretern immer wieder aufgegriffen.

In den neunziger Jahren kam es zur Gründung des Vereins Allgemeines Wahlrecht e.V. als Bürgerinitiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, daß "alle Staatsbürger wahlberechtigt werden" und das Wahlrecht kleiner Kinder von deren gesetzlichen Stellvertretern ausgeübt werden soll. Dem Verein unter dem Vorsitz Johannes Schoe-ders gehören hochkarätigen Juristen wie Hans Hattenhauer, Konrad Loew, Lore-Maria Peschel-Gutzeit und Peter Merk an.

Schon 1990 hatte der Augsburger Staatsrechtler Dieter Suhr das Anliegen trefflich formuliert: "Unsere Demokratie beruht auf der Fiktion, daß das Volk nur aus Erwachsenen besteht. Familien und Eltern tragen zwar mehr Lasten und Verantwortung. Im Parlament aber haben sie angesichts der wachsenden Zahl von Alten und Kinderlosen immer weniger zu sagen. Ob dieses Wahlsystem mit Artikel 6 des Grundgesetzes zu vereinbaren ist, steht dahin. Jedenfalls werden dabei die Kinder wahltechnisch hinwegfingiert und mit ihnen ein Teil unseres Volkes. Soll das Volk seinen Willen in Wahlen und Abstimmungen äußern und das ganze Volk durch die Staatsorgane handeln, soll mithin die Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verwirklicht werden, dann genügt kein Zwei-Generationen-Wahlsystem, dann brauchen wir das Drei-Generationen-Wahlsystem: Eltern bekommen die Stimmen ihrer Kinder, damit sie ihrer Pflicht, dem Kindeswohl zu dienen, auch mit ihrem Beitrag zur demokratischen Willensbildung nachkommen können."

Gegen das Familienwahlrecht wird eingewandt, es verletze die Gleichheit der Wahl und wirke sich wie ein Klassenwahlrecht zugunsten der Eltern aus. Die Trennung von Wahlausübung und Wahlrecht verstoße gegen die Höchstpersönlichkeit der Wahlrechtsausübung, wie sie das Grundgesetz verlange. Eine naturgegebene Interessenübereinstimmung von Eltern und Kindern sei zu bezweifeln und es somit nicht sicher, daß die Eltern wirklich im Familien- und Kinderinteresse wählen. Nicht ohne Grund hätten die Demokratien Europas das Wahlrecht für unübertragbar erklärt. Konrad Loew hat richtig darauf hingewiesen, daß dieses Argument einer Prüfung nicht standhält, denn das französische Wahlrecht kennt ebenso wie das des Vereinigten Königreichs die Möglichkeit der Übertragung - zwar nicht ohne weiteres, aber in zahlreichen Ausnahmefällen. Übrigens ist von der "Höchstpersönlichkeit" der Wahl im Grundgesetz gar nicht die Rede, das Gebot ist nur in der Wahlgesetzgebung zu finden.

Der Verlauf der Diskussion zeigt, daß der Gedanke einer Privilegierung der Eltern zu Recht immer mehr zurücktrat. Zunehmend wurde nicht mehr in ersten Linie ein originäres Elternwahlrecht gefordert, das Eltern die Vermehrung ihres Stimmrechts bringe, sondern es trat der Gedanke in den Vordergrund, daß die Eltern in Stellvertretung ihrer Kinder deren Wahlrecht ausüben sollen.

Seitdem steht der egalitäre Ansatz, der zwar bei den Begründungen des Familienwahlrechts schon angeklungen war, eindeutig im Vordergrund und trifft sich mit den Forderungen nach der Herabsetzung des Wahlalters. Hieraus entwickelte sich die Forderung nach dem "Wahlalter null", weil dies im Sinne des Wahlgrundsatzes der Allgemeinheit und des Artikels 20 des Grundgesetzes liegt, in dem es heißt, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Daher dürfe es theoretisch keine Wahlalterbeschränkung geben, da jeder Mensch von seiner Geburt an zum Volk gehört.

Nach Paragraph 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) beginnt die Rechtsfähigkeit "mit der Geburt". Da aber Kinder und Kleinkinder nicht wählen können und zumindest Zweifel bestehen, von welchem Alter der Mensch die Fähigkeit zum Wählen hat, muß über die Frage einer Vertretung im Wahlrecht nachgedacht werden. Dafür sind diejenigen - im Regelfall die Eltern - verpflichtet, die die allgemeine gesetzliche Vertretungspflicht auszuüben haben und die sie in allen anderen Rechtsgeschäften auch erfüllen können, weil die gesetzlichen Voraussetzungen dafür selbstverständlich gegeben sind. Solange sie aber nicht in der Lage sind, ihre Kinder auch bei Wahlen zu vertreten, können sie diese Fürsorgepflicht zum Schaden ihrer Kinder nicht im vollen Umfang wahrnehmen.

Gegen die Einführung dieses Kinderwahlrechts, das bis zur Volljährigkeit von den Eltern wahrgenommen wird, werden die schon gegen das Familienwahlrecht erhobenen Einwände vorgebracht. Außerdem wird gegen das Vertretungsstimmrecht eingewandt, daß es zur Politisierung der Familie führen und politischer Streit in die Familie getragen werde. Die Befürworter sehen allerdings gerade darin eine Möglichkeit zu politischen Diskussionen und bewußter Zuwendung zur Politik, die sich auch auf die Eltern und die ganze Gesellschaft positiv auswirken könne. Ein praktischer Einwand ist, daß zur erforderlichen Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag nötig sei, diese sich aber aus verschiedenen Gründen nicht erreichen lasse.

Dies wird man sehen, denn die Beratungen zum Thema "Wahlalter null" im Deutschen Bundestag haben begonnen. Sie sind eine große Chance zu einer wirklichen Reform in Deutschland und dazu, in unserem Land endlich die Familie und die Kinder in den Mittelpunkt der Politik zu stellen, denn sie bedeuten die Zukunft, um die es geht. Wer sich zu ihr bekennt, wird auch in der Gegenwart gewinnen.

Immerhin hält es Altbundespräsident Roman Herzog, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, für überlegenswert, "wenn ein Elternpaar, das drei unmündige Kinder hat, insgesamt fünf Stimmen bei der Wahl abgeben könnte. Über solche Vorschläge sollte man vorurteilsfrei diskutieren".

 

Wilfried Böhm ist Vorsitzender des Förderkreises Deutschland. Von 1972 bis 1994 saß er für die CDU im Deutschen Bundestag.