© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/03 10. Oktober 2003

 
Kolumne
Affengeduld
Heinrich Lummer

Dem Gewaltmonopol des Staates entspricht der Verzicht seiner Bürger auf Selbstjustiz. Ein funktionsfähiger Staat übernimmt die Sicherheit seiner Bürger und ahndet sie im Falle der Verletzung nach vergleichbaren Regeln. Im Gegenzug verzichtet der Bürger auf Selbstjustiz. Aber immer wieder erwachsen dem Michael Kohlhaas Nachkommen, wenn die Bürger von den Unzulänglichkeiten unserer Justiz erfahren. Da gibt es etwa einen Metin Kaplan, dem der Asylstatus aberkannt wurde, dem aber ein hochgradiges sicherheitspolitisches Risiko bescheinigt wird. Er wird nicht in die Türkei abgeschoben, weil ihm dort angeblich kein rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet werden kann. Er bezieht statt dessen Sozialhilfe zu Lasten des deutschen Steuerzahlers. Da gibt es einen deutschen Islamisten Christian Ganczavski, der kurz vor dem Anschlag auf der Insel Djerba mit dem Selbstmordattentäter telefoniert hatte. Bei dem Attentat kamen 14 deutsche Touristen ums Leben. In Afghanistan habe er sich mit al-Qaida-Führern getroffen. Auch das reichte für einen Haftbefehl nicht aus. Inzwischen setzte er sich nach Saudi-Arabien ab. Da gibt es einen kriminellen Asylbewerber, der als Kriegsflüchtling aus Jugoslawien in unser Land kam. Er stellte den Asylantrag, um seine Abschiebung zu verzögern. Dann zertrümmerte er am Abflugsteig sein Holzbein, um eine weitere Verzögerung zu erreichen. Schließlich wurde er in einem Privatjet in Begleitung eines Arztes und der Polizei in seine Heimat geflogen. Kosten: 6.500 Euro.

Derartige Vorfälle füllen die Zeitungsspalten. Und all das wird im Namen des Rechtsstaates verteidigt. Das macht Verdruß, da der Staat mit Sicherheit den Anforderungen der Bürger nicht gerecht wird. Man kann auch sagen, der Staat mache sich dadurch lächerlich und verspiele seine Autorität. Das Gewaltmonopol wird ad absurdum geführt. Die raffiniertesten Ausnutzer des Rechts tanzen ihm auf der Nase herum. Der Staat kann keine Würde und Autorität mehr erwarten, weil die Schamlosigkeit derjenigen ins Groteske gesteigert wird, die unseren Staat vorführen wollen, und das kommt immer mehr den Parasiten und potentiellen Verbrechern zugute. Indem der Staat sich lächerlich macht, geht seine Würde verloren. Nach Romano Guardini erkennt man den Staat vornehmlich an der Würde und Autorität, die er ausstrahlt. Die Versuchung ist da, zur Selbstjustiz zu greifen. Ein Journalist drückte das so aus: "Längst macht sich der Rechtsstaat Deutschland zum Affen, wie der Volksmund sagt. Das Dauer-Gespräch anderer aber ist häufig ein Zeichen für Dekadenz."

 

Heinrich Lummer, Berliner Innensenator a. D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.