© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/03 03. Oktober 2003

 
Pankraz,
G. Leopardi und die Barbarei als Drohkulisse

Ein Wort wartet sehnsüchtig darauf, endlich außer Kurs gesetzt zu werden: das Wort "Barbar", respektive "Barbarei". Es ist nämlich das Wort, dem es immer schlechter und schlechter geht. Anfangs eine simple Namensgebung, degenerierte es im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende zum führenden, beliebig anwendbaren Schimpf- und Verachtungswort, und heute ist es zusätzlich noch zum Droh- und Erpressungswort geworden.

"Wenn wir nicht den Sozialismus/Kommunismus kriegen", so die geläufige Rede der Sozialisten und Kommunisten im zwanzigsten Jahrhundert, "dann kriegen wir die Barbarei. Ihr müßt also wählen: Sozialismus oder Barbarei. Etwas Drittes gibt es nicht." Mit dieser rhetorischen Figur wurden damals alle Bedenken gegen die ökonomische Pfuscherei und die Gewaltexzesse linksradikaler Regimes niedergemacht. Ein Barbar wollte niemand sein. Das Pseudo-Argument zog.

Nun wird das Nullsummen-Spiel wiederholt, mit geändertem Vorzeichen. "Kapitalismus oder Barbarei?" lautet der Titel eines Merkur-Doppelhefts, und das Fragezeichen hätten sie sich sparen können, es geht wieder schlicht um Erpressung. "Entweder wir bejahen voll und vorbehaltlos den Kapitalismus", droht in dem Heft eine Schar frisch bekehrter Neo- und Jungkapitalisten, "oder wir versinken in der Barbarei. Etwas Drittes gibt es nicht."

Nach den Bedingungen, Fährnissen und eventuellen Vorzügen der Barbarei wird nicht gefragt. "Barbarei" ist das absolute Unwort, das keiner näheren Kennzeichnung bedarf. Wenn das die alten Griechen geahnt hätten, die das Wort einst erfanden! Bei ihnen bedeutete es nichts weiter als den Fremdsprachler, der ein unverständliches Rhabarber-Rhabarber von sich gab. Alle Nichtgriechen waren Barbaren, Ägypter wie Thraker, Perser wie Karthager. Sie entbehrten zwar der Bürgerrechte, und man konnte sie gegebenenfalls ohne Gewissensbisse versklaven, aber Achtung und Respekt genossen sie durchaus, waren einem sogar in mancherlei Hinsicht überlegen, was neidlos anerkannt wurde.

Der Abstieg setzte bei den Römern ein, die ja einst selber "Barbaren" gewesen waren, sich aber den Bildungskanon der unterworfenen Griechen angeeignet hatten und nun voller Stolz jeden als Barbar bezeichneten, der außerhalb des Kanons stand. Immerhin ging es bei ihnen noch ums semantische Verstehen, ohne moralische Bewertung, so daß sich der an die Schwarzmeerküste verbannte Ovid seinerseits ironisch einen Barbaren nennen konnte, weil er die dortigen Leute nicht verstand: "Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli".

Später unterschied das christliche Mittelalter nicht zwischen Gebildeten und Barbaren, sondern zwischen Christen und Nichtchristen. Erst die sogenannte Aufklärung nahm den Faden wieder auf und verzwirbelte ihn ins Anmaßende und Überhebliche. Barbar war nun jeder, der außerhalb der abendländischen "Errungenschaften" stand und deshalb "unfrei" (Montesquieu), "unzivilisiert" (Adam Smith) oder "undichterisch-banausisch" war (Goethe im "Tasso": "Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt,/ Ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei"). "Barbar" wurde zur abendländischen Entlastungsvokabel schlechthin, wurde in kleinster Münze gehandelt. Noch die respektabelsten Geistesgrößen machten von ihr Gebrauch. Was ihnen nicht paßte oder sonstwie Unbequemlichkeit bereitete, das war eben barbarisch, basta und Punktum!

Die Monströsität solchen Verhaltens fiel zuerst den Romantikern und Gegenwarts-Skeptikern des neunzehnten Jahrhunderts auf. Giacomo Leopardi, Italiens größter Poet seit Petrarca, fand in seinem "Zibaldone" ätzende Formulierungen für jene pausbackige Barbarenschelte vom Standpunkt einer eingebildeten Avanciertheit herab, die bei Lichte betrachtet die eigentliche Barbarei sei. Man kann das den oben erwähnten Merkur-Kapitalisten nur heftig zur Lektüre empfehlen.

Sobald sich ein Jahrhundert, so Leopardi, auf dem "Gipfelpunkt" angekommen wähnt und "sich für das vollkommenste Zeitalter des menschlichen Geistes und der Gesellschaft hält", verwandelt es sich in ein Imperium der "reinen Barbarei". Es versteht keine fremden Standpunkte mehr und bemüht sich bald auch gar nicht mehr, irgend etwas zu verstehen. Es versinkt in Selbstverliebtheit, spiegelt sich immer nur in sich selber, so daß ihm schließlich nur noch eine altgewordene Fratze entgegengrinst, die Betroffenheit auslöst und Sehnsucht nach der Ankunft "unverbrauchter", "blutauffrischender", "junger" Barbaren weckt.

Friedrich Nietzsche hat den Gedanken später in sein Buch "Jenseits von Gut und Böse" (1886) aufgenommen und zu einer Generalkritik bedingungsloser, alles andere ausschließender Liebe ausgeweitet. "Die Liebe zu einem ist Barbarei, denn sie wird auf Unkosten aller übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott." Was für Gott gilt, das gilt natürlich noch mehr für Pseudo-Götter, so für das "Kapital", das nur immer weiter "hecken", sich nur immer weiter vermehren will und dabei die Welt verheert und zerstört. Seine Zerstörung ist nichts weniger als schöpferisch. Die sich ihm ausliefern, verarmen mitten im eingebildeten Reichtum, gehen der Sprache und der Liebe verlustig und geben sich am Ende selber auf.

Faßt man Leopardi und Nietzsche zusammen, so muß man in Hinblick auf die Barbarei konstatieren: Das Wort kann nur einen modernen, von Drohung und Erpressung freien Sinn gewinnen, wenn man sich klarmacht, daß die schlimmsten Barbaren nicht von außen, sondern von innen kommen. Jeder ist sich selbst der schlimmste Barbar, das betrifft den Einzelnen wie ganze Gesellschaftssysteme.

Aber vielleicht sollte man, statt ihm krampfhaft einen neuen, vernünftigen Sinn zu suchen, das Wort in aller Stille beerdigen. Weder Ovid noch Leopardi hätten wohl etwas dagegen gehabt.


 
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