© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/03 26. September 2003

 
Europa soll ein Machtwort sprechen
Enteignungen: Zum Prozeß vor dem Europäischen Gerichtshof wegen der Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit und Eigentumsschutz in Deutschland
Manfred Graf v. Schwerin

Straßburg, 18. September 2003: Bis auf den letzten Platz ist der große Sitzungssaal des Europäischen Gerichtshofs besetzt mit aufmerksamen Zuhörern und Beobachtern aus fast allen Mitgliedsländern des Europarates. Unter ihnen sind zahlreiche "Schlachtenbummler" aus Deutschland, Anwälte, betroffene Bürger, Jungjuristen auf der Suche nach Dissertationsthemen. Aus dem in den letzten zehn Jahren von der Nachwende-Politik zur "einwohnerarmen Zone" umgestalteten Mecklenburg-Vorpommern war eigens ein ganzer Bus mit Landsleuten angereist. In einem ersten Musterprozeß gegen Ungleichbehandlung, mangelnden Eigentumsschutz und damit wegen Verletzung der Menschenrechte durch die Bundesrepublik Deutschland wird vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg voraussichtlich noch in diesem Jahr über mehrere Klagen sogenannter "Neusiedler-Erben" entschieden. Um diese Kleinflächen-Erben geht es im ersten der 2003/2004 anlaufenden internationalen Verfahren gegen dieselbe Bundesrepublik Deutschland, die die "Rechtsstaatlichkeit" als ihren Standortvorteil verkauft.

Das Urteil wird noch für das laufende Jahr 2003 erwartet

Die deutsche Legislative hatte 1992 aufgrund eines neuen Gesetzes Zehntausende Erben von Grundstücken gezwungen, ihre überwiegend Ackerland-Kleinflächen, die diese aufgrund der "Bodenreform" 1945 käuflich erworben oder zugeteilt erhielten, dem Fiskus "zur Auflassung" als sogenannten "Besserberechtigten" zu überlassen. Dies geschah und wird noch weiter praktiziert, obwohl das Bundesverfassungsgericht das "Bodenreformeigentum" im Jahre 2000 in den Eigentumsschutzbereich des Grundgesetzes (Artikel 14) aufgenommen hatte und bereits mit Gesetz vom 6. März 1990 alle früheren Beschränkungen für diese Grundstücke aufgehoben worden waren. Mit der Erklärung, der Gesetzgeber habe 1990 "eine verdeckte Regelungslücke" hinterlassen, fordert nun der jeweilige Landesfiskus die entschädigungslose Übertragung, um die Flächen selbst nach Gutdünken - und auch an den früheren Eigentümern vorbei - zu veräußern.

Hiergegen wenden sich die Neusiedler-Erben in enger Zusammenarbeit auch mit den sogenannten "Alteigentümern", mit denen sie über die ARE in einem Abkommen gegen die Ansprüche und Vorgehensweise des Fiskus verbunden sind. Die im wesentlichen von dem Potsdamer Rechtsanwalt Thorsten Purps als Prozeßbevollmächtigten vertretenen Mitglieder des Bundes der Neusiedler-Erben (BNE) haben nach dem dezidierten Zulassungsurteil und dem Ablauf der mündlichen Verhandlung am 18. September 2003 berechtigte Hoffnungen auf einen Erfolg.

Beobachter erwarten aus Straßburg auch orientierende Hinweise auf die folgenden großen Beschwerden gegen die Bundesrepublik wegen der Diskriminierung der nach 1945 Enteigneten. Über die Zulässigkeit dieser sogenannten "EALG- Klagen" soll Ende des Jahres entschieden werden. Zwei der Klagen werden dann vorab in einem "Pilotverfahren" behandelt.

"Die deutschen Regierungen und die nachgeordneten Ämter und Stellen diskriminieren - eindeutig!" stellt der Prozeßbevollmächtigte Purps fest und resümiert, wie in großer Zahl frühere DDR-Bürger, denen ihr Eigentum oder Erbe 1990 zunächst ausdrücklich gesetzlich bestätigt wurde, die aber nach 1992 ohne Ausgleich oder Entschädigung ihr Land wieder verloren haben. Und dann erscheint auch noch der Umriß eines erschreckend umgeformten Staatswesens : eines Fiskus, der ohne Hemmungen seinen Finanzbedarf durch Diebstahl und Hehlerei deckt. Das wird deutlich, wenn der vor den Fragen aus dem Kreis der elf Richter der großen Kammer in die Defensive gedrängte Vertreter der Bundesregierung die Frage, wer denn nun im Besitz des Landes sei, das den Kleinflächen-Eigentümern abgenommen wurde, positiv beantworten muß. Immerhin gesteht der Regierungsvertreter für das Protokoll mehrfach zu, daß die Wegnahme des Agrarlandes, der Häuser und Immobilien mit allem Besitz im Zuge der Konfiskationen 1945 bis 1949 schweres Unrecht gegenüber den ursprünglichen Eigentümern, den sogenannten "Alteigentümern" war.

Diese Diskriminierung müsse bleiben, denn ohne sie sei es nicht zur deutschen Wiedervereinigung gekommen. Die längst widerlegte und sowieso für einen souveränen "Rechtsstaat" absurde Vorbedingungslegende geistert kurz noch einmal durch den Saal. Was in den drei Stunden dieser Anhörung überdeutlich wird: Das deutsche Diskriminierungsproblem hat eine andere Dimension erhalten. Eine deutsche Bundesregierung muß sich fragen lassen, wie sie legitimes und illegitimes Eigentum unterscheide. Die Behandlung eines Diskriminierungsbereichs wie der Neusiedler-Erben in den neuen Bundesländern führt auch dazu, daß die deutsche Politik und die Justiz in ihrer Verantwortung für die ungelösten zentralen Fragen des Eigentumsschutzes von ihrer Vergangenheit unmittelbar eingeholt werden.

In Straßburg wird also für die internationale Szene überdeutlich: Es geht um Diskriminierung als ein - traditionelles - Schicksalsproblem in Deutschland. Die Diskriminierung "nach der Rasse" von 1933 bis 1945 in ihrer einmaligen Erscheinungsform und verheerenden Auswirkung kann und soll - so die zum Teil erregten offiziellen Äußerungen - aus Gründen der "political correctness" nicht mit der Diskriminierung "nach der Klasse" verglichen oder auch nur in einen Bezug gestellt werden. Warum eigentlich nicht? Vielleicht, um eine besondere fortwirkende "Tradition der Diskriminierung in Deutschland" nicht zu erkennen zu geben? Denn: der Vergleichsmaßstab der großen Zahl der Verbrechen und Opfer und der Systematik beim Vorgehen der nationalsozialistischen Diskriminierung "nach der Rasse" kann die ähnlichen Erscheinungsformen beim kommunistischen Vorgehen "nach der Klasse" nicht verschleiern. Diese Verfolgung und ihr Charakter ist eindeutig und immer wieder belegt worden, von Anfang an von den Verfolgern selbst. Sie ist schlechterdings gar nicht zu bestreiten, auch wenn Politik und im nachfolgenden Gehorsam die Justiz und die Verwaltungen in ihrem deutlichen fiskalischen Interesse versuchen, Verfolgungstatbestände zu simplen "Verwaltungsakten" herunterzustufen, zum Beispiel, um eine moralische Rehabilitierung von Diskriminierten durch Verweigerung der Rückgabe ihres Eigentums oder entsprechender Wiedergutmachungsleistungen zu rechtfertigen.

Die aktuelle rechtliche Lage hat sich sogar zugespitzt

Diskriminierung nach der Klasse: Adlige wie Bauern, Mittelständler wie Industrielle, politisch Mißliebige und potentielle Oppositionelle, sie alle waren von 1945 bis 1989 betroffen. Statt die Beseitigung oder den Ausgleich der Benachteiligungen in Angriff zu nehmen, verweigert der DDR-Rechtsnachfolger diesen dagegen - so eine Formulierung eines Verwaltungsgerichts - zwecks Ablehnung einen Rehabilitierungsanspruch mit der Begründung, der betroffene Kläger sei gar nicht als individuelle Person diskriminiert worden, sondern die Verfolgung habe schließlich der "Klasse" und damit ihm als Mitglied derselben gegolten. Man stelle sich einen Augenblick vor, ein Gericht oder Amt würde einem jüdisch Verfolgten bescheinigen, er sei gar nicht betroffen, es sei den Nazis ja nur um ein Vorgehen gegen seine rassische Zugehörigkeit gegangen, also sei nur ein Verwaltungsakt gegeben!

Der aktuelle Zustand in Deutschland hat sich - von vielen bisher unbemerkt - sogar noch zugespitzt: Im Gegensatz zu den Wiedergutmachungsleistungen und Rehabilitierungen nach den NS-Untaten hat das wiedervereinigte neue Deutschland die SBZ- und DDR-Unrechtstatbestände trotz seiner Rolle als "Erbe" und Nachfolger bisher keineswegs beseitigt, sondern bekanntlich tausendfach gezielt fortgeführt und sogar den Eigentums- und Erbrechtsschutz - wie beim Neusiedler-Erbe - noch über das DDR-Recht hinaus beschädigt, sie hat ihn nachträglich aus fiskalischer Gier außer Kraft gesetzt.

"Ist dies hier nicht ein geradezu schizophrenes Verfahren, in das die Bundesrepublik sich verstrickt?" fragt ein französischer Beobachter in Straßburg in der Verhandlungspause und nimmt die Antwort sogleich vorweg: "Wenn wie hier beide Seiten, die Kläger und die Bundesrepublik das 'Modrow-Gesetz' vom März 1990 nicht in Frage stellen, dann müssen doch zwangsläufig die Kläger gewinnen, dann muß die nachträgliche Änderung zur Diskriminierung hinfällig sein. Etwas anderes könnte es doch nur ergeben, wenn diese Regelung der erstmals frei gewählten Volkskammer im Endstadium der DDR nicht als Grundlage gelten würde. Wozu also dieser verbissene Kampf zur Aneignung fremden Eigentums der deutschen Regierung?" Wie zur Bestätigung könnte ein Zitat aus dem grundlegenden Aufsatz zur Eigentumsfrage des Heidelberger Steuerrechtlers Paul Kirchhof ("Geprägte Freiheit", FAZ vom 9. September 2003) dienen: "Vor allem untersagt die Verfassungsgarantie von Eigentum und Berufsfreiheit dem Staat strukturell, seinen Finanzbedarf durch unternehmerische Tätigkeit zu decken." Wenn sogar das gilt, ist gemessen an der deutschen Wirklichkeit die Frage um so berechtigter, wieso der deutsche Fiskus sich dann selbst ein Aneignungsrecht als sogenannter "Besserberechtigter" verschaffen kann?

Der deutsche Rechtsstaat wird international vorgeführt

Die Liste fortwirkender Diskriminierung "nach der Klasse" ist seit 1991 sogar um etliches länger geworden:

l Die Aufrechterhaltung wider besseres Wissen der "These" vom angeblich - mal von der UdSSR, mal von der DDR - eingeforderten oder unausweichlichen realen Wiedergutmachungsverbot (hierzu Einführung des sprachlich ungenauen Tarnungsbegriffs "nicht rückgängig zu machen", worum es ja gar nicht geht und was in der Tat schon praktisch nicht möglich ist!).

l Der mehrfache "Segen" des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe für die praktische Beibehaltung schwerster Diskriminierungen, die in diesem Umfang und vor allem in der konstruierten Begründung einmalig sind in der deutschen Rechtsgeschichte.

l Die Beibehaltung der Einstufung Tausender Bürger unter Einschluß von politischen Opfern und selbst von NS-Verfolgten und Widerstandskämpfern in die Gruppe der sogenannten "Kriegsverbrecher" bzw. Gleichstellung mit letzteren im Unrecht.

l In den auf dem Potsdamer Rechtsstaatskongreß vom 15. November 2002 festgehaltenen neun Punkten der seit 1991 in Deutschland begangenen Rechtsverstöße liegen auch zahlreiche Diskriminierungstatbestände vor. Hierin sind auch nachweisliche Verstöße gegen Inhalt und Geist des Grundgesetzes, verfassungswidrige Maßnahmen und selbst Verstöße gegen den Einigungsvertrag enthalten, wie die dort ausdrücklich festgelegte Ersatzgrundstücksregelung.

l Schwerwiegende andere Diskriminierungen zur Ablenkung der seit 1991 entstandenen rechtsstaatlichen Schieflage und zwecks Zementierung und Machtsicherung des gegenwärtigen, von den etablierten politischen Parteien weitgehend beherrschten öffentlichen Lebens in der "neuen Rechtswirklichkeit" kommen hinzu. Die mehrfach inszenierten, mit dem Schutz der Demokratie kaschierten Aktionen "gegen Rechts" - also um eine Stigmatisierung und Gleichststellung von "rechts" mit "rechtsextrem" zu erreichen - sind ein erkennbares und zunehmend praktiziertes Modell.

Nach der Verhandlung vom 18. September in Straßburg zeichnet sich nun ab, daß auch international der "Rechtsstaat Deutschland" für die ganze europäische Gemeinschaft vorgeführt wird. Die europäischen Gerichte in Straßburg und auch - im Rahmen der Europäischen Union - in Luxemburg werden immer mehr mit der deutschen Entwicklung befaßt werden, sobald sich der deutsche "Rechtsweg" als erschöpft oder unzumutbar erweist angesichts der Entscheidungen bzw. Nicht-Entscheidungen aus Berlin und Karlsruhe, wie sie schon in mehreren Rechtsbereichen und Fällen von allgemeiner Rechtsbedeutung vorliegen.

Die besondere Dimension, aber wohl auch die tiefgreifende Tragik für Deutschland liegt darin: Seit 1933 bis zum heutigen Tage sind in der Kontinuität der Diskriminierung diejenigen Organe als Verantwortliche, oft als Täter aktiv, die nach den Grundsätzen unserer Rechts- und Freiheitsordnung dafür geschaffen und gestaltet worden sind, in ihrer Verpflichtung und Verantwortlichkeit Diskriminierungen unbedingt zu verhindern. Und somit gibt jetzt insbesondere auch die Justiz in Deutschland der Diskriminierung den trügerischen Schein der rechtlichen Gültigkeit. Wie soll man dann - um im eigenen Hause anzufangen - beispielsweise den Menschen in den neuen Bundesländern den Rechtsstaat verständlich machen, wenn Entscheidungen des Verfassungsgerichts verfassungswidrig sind? Besonders für die sich am deutschen Rechtsstaat orientierenden osteuropäischen Neu-Mitglieder der EU dürfte das Verfahren ein schlechtes Bild präsentieren.

Ein Gespräch im Nachhall der Straßburger Verhandlung gilt es noch zur Darstellung des Hintergrunds und der gedanklichen Anstöße und Erkenntnisse zu skizzieren. Ein osteuropäischer Beobachter der Verhandlung fragt leicht sarkastisch, ob es sich bei dem Hinweis auf die Diskriminierung und die deutschen Tatbestände vielleicht um "so ein spezielles Meisterwerk aus Deutschland" handele. Dies vielleicht in Anspielung auf das berühmte und gefürchtete Dichterwort Paul Celans über den Tod als "Meister aus Deutschland". Ein alter Herr aus Hamburg resümiert: "Mein Großvater kam durch die Nazis um, mein Vater durch die Kommunisten. Ich aber und meine Kinder haben für meinen Vater zwar eine russische, aber keine deutsche Rehabilitierung zugesprochen bekommen, von Wiedergutmachung ganz zu schweigen. Es ist schon keine Freude, unter solchen Umständen in Deutschland zu leben".

Ein namhafter Rechtswissenschaftler versucht sich in die Rolle von zum Urteilen bestellten Richtern hineinzuversetzen, insbesondere von Richtern - wie im jetzigen Fall - aus Albanien, Litauen, Slowenien und Mazedonien, wenn diese feststellen müssen, daß bisher in Deutschland keine der namhaften politischen Parteien sich programmatisch und geschlossen für den Schutz der Verfolgten und gegen deren Diskriminierung eingesetzt hat.

Foto: Steinerne Justitia, römische Göttin der Gerechtigkeit, am Berliner Dom: Diskriminierung als deutsches Schicksalsproblem?

 

Manfred Graf v. Schwerin ist Bundesvorsitzender der Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum / Allianz für Rechtsstaat und Erneuerung (ARE). Weitere Informationen unter www.are.org 


 
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