© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/03 19. September 2003

 
Europa wäre nicht mehr Europa
Ein EU-Beitritt der Türkei bedeutet das Ende der kulturellen und politischen Gemeinschaft
Robert Mühlbauer

Europa kippt, schlittert, rutscht. Obwohl kein nüchtern denken der Mensch es befürworten kann, der EU den "riesigen Ballast eines muslimischen Großstaates" (Hans-Ulrich Wehler) aufzubürden, rückt die Türkei ihrem Ziel einer EU-Mitgliedschaft ständig näher. Offenbar haben sich die EU-Regierungschefs letzten Dezember über die Wendigkeit und Energie der neuen türkischen Regierung Erdogan gründlich getäuscht, als sie in Kopenhagen - auch auf massiven Druck der Amerikaner - den Beschluß faßten, der Türkei einen konkreten Termin für die Prüfung ihrer Fortschritte zu nennen. Bislang hofften die Europäer, der "kranke Mann am Bosperus" sei auf Jahrzehnte nicht reformfähig, das Kandidaten-Versprechen müsse also nie eingelöst werden. Doch spätestens Ende 2004 kommt der Moment der Wahrheit, wenn die Türkei auf den Beginn von Beitrittsverhandlungen pochen wird.

Bei seinem Drang in die EU stößt AKP-Chef Erdogan auf erstaunlich geringen Widerstand. Zwar verziehen altgediente Europa-Politiker ihre Stirn in Sorgenfalten, wenn sie an die geographische Lage der Türkei denken: Zu 95 Prozent liegt diese auf asiatischem Territorium, und in den rückständigen Gebieten Anatoliens leben fünf Sechstel der türkischen Bevölkerung. Zudem ist die Aussicht auf gemeinsame Grenzen der EU zu Iran, Irak und Syrien bedrohlich. Dennoch versteht es Erdogan, die Kritiker mit der PC-Keule in Schach zu halten. Meisterhaft spielt er auf der Klaviatur westlicher (und speziell deutscher) Schuldgefühle und erklärt vorwurfsvoll, die EU dürfe bloß kein "christlicher Club" werden. Geradezu atemberaubend ist die Dreistigkeit, mit der Erdogan die Reumütigkeit der Christen etwa wegen der Kreuzzüge ausnützt, aber die ebenso blutige muslimische Eroberung Europas bis ins 19. Jahrhundert ungeniert zu einer kulturellen Begegnung umdichtet.

In weniger als einem Jahr hat die AKP-Regierung sieben Reformpakete durch das türkische Parlament gejagt. Diese betrachtet Ankara primär funktional, als Eintrittskarte für Brüssel. Dennoch bleibt die Lage desolat: Das türkische Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf liegt bei nur 22 Prozent des europäischen Durchschnitts. Die Inflationsrate bewegte sich in den letzten Jahren zwischen 20 und 70 Prozent; der Staatsbankrott konnte nur dank kräftiger Finanzspritzen des IWF abgewendet werden. Im internationalen Vergleich mit anderen Entwicklungs- und Schwellenländern schneidet die Türkei keineswegs gut ab: Nach Angaben des World Economic Forum belegt sie nur Platz 69 in der Wettbewerbsfähigkeit, schlechter als Rußland und Rumänien. Zudem ist die Verwaltung korrupt. Nach dem Korruptionsbarometer von Transparency International liegt die Türkei auf dem 64. Platz, hinter Ägypten und Äthiopien.

Da die wirtschaftliche Situation des Landes auf längere Zeit düster aussieht, glaubt Erdogan, mit Korrekturen im politischen Gefüge punkten zu können. Er verspricht bessere rechtsstaatliche Standards, mehr politische Transparenz und religiöse Toleranz. Noch wehrt sich das Militär gegen die Demontage des Nationalen Sicherheitsrats, der bislang im Hintergrund die Fäden zog. Doch die Generäle und mit ihnen die ganze kemalistische Elite sind gleichzeitig be- und entgeistert, wieso ausgerechnet die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) derart machtvoll in die EU drängt.

Was will Erdogan? Das Land modernisieren und damit Atatürks autoritärem Reformwerk die Krone aufsetzen? Oder dient die Entmachtung des Militärs nur der langfristigen und raffinierten Strategie der Islamisierung? Der syrischstämmige Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi warnt vor einer Verharmlosung von Erdogan und dessen AKP: "Lassen wir uns nicht täuschen: Die AKP ist keine türkische CDU, wie die Islamisten behaupten, sie ist eine islamische Partei." Alle Reden von AKP-Politikern über europäische Werte seien eine bewußte Irreführung und Verschleierung der wahren Absichten, meint Tibi. Die vom Koran erlaubte Taktik der "Taqiya" (Verstellung) läßt grüßen.

Erdogan ist ein Ziehsohn des 1997 vom Militär abgesetzten islamistischen Premierministers Erbakan. Seine Wählerschaft setzt sich zusammen aus den Bauern Anatoliens und verarmten Bewohnern der Außenbezirke der Großstädte, die sich immer stärker dem Islam zuwenden. Das Personal von Erdogans AKP-Partei stammt mehrheitlich aus der ehemaligen Tugendpartei, deren Wurzeln wiederum in der verbotenen Wohlfahrtspartei liegen. Durchaus als ein politisches Signal zu werten war es daher, daß Erdogan seine Ehefrau mit Kopftuch zum Staatsbesuch nach Berlin brachte. Denn die Auseinandersetzung um das Kopftuch steht symbolhaft für den Kampf der Kemalisten und ihr Zurückdrängen islamistischer Traditionen.

Nun setzt die AKP-Regierung vordergründig auf religiöse Liberalisierung. Der kemalistische Pseudo-Laizismus und Nationalchauvinismus richteten sich in besonderer Weise gegen die Christen. In Abkehr von Atatürks ursprünglicher Staatsideologie gab es zudem mehrere Schübe des Islamismus, etwa die Einrichtung des Diyanet-Religionsministeriums 1970. Seitdem ist der Islam eine Art Staatsreligion und wird mit Steuergeldern gefördert. Eines von Erdogans Reformgesetzen sieht jetzt vor, daß Christen in privaten Wohnräumen Gottesdienste abhalten dürfen. Bislang ist ihren Gemeinschaften sogar die Eröffnung eines Bankkontos verwehrt, vom Kirchenbau ganz zu schweigen.

Noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stellten Christen in der Türkei rund ein Fünftel der Bevölkerung. Nach dem Völkermord an den Armeniern, dem 1915/16 schätzungsweise anderthalb Millionen Menschen zum Opfer fielen, nach der brutalen Vertreibung der Griechen auf das europäische Festland und als Folge der bis heute andauernden Abwanderung ist die Zahl der Christen auf rund 100.000 gesunken. Ihr Anteil an der türkischen Bevölkerung beträgt nur noch rund ein Zehntel Prozent. Immer noch sträubt sich der türkische Staat, den Genozid an den Armeniern einzugestehen. Auf Mahnungen aus dem Ausland reagierte Ankara mit wüsten Beschimpfungen, etwa als die französische Nationalversammlung vor zwei Jahren die offizielle Leugnung des Völkermords anprangerte.

Europas Staatschefs klammern sich an die trügerische Hoffnung, die Türkei könne eine Brücke zum Nahen Osten werden und als Mittler einen Zusammenstoß der Religionen und Kulturen abfedern. Dabei ist das Bild der Brücke durchaus doppeldeutig. Es besteht die Gefahr, daß nicht die Türkei und der Orient europäisiert, sondern Deutschland und die EU islamisiert werden. Bislang sind etwa zweieinhalb Millionen Türken nach Deutschland eingewandert. Ihre Integration muß weitgehend als gescheitert bezeichnet werden. In Berlin, der Stadt mit der zweitgrößten türkischen Wohnbevölkerung weltweit, sind rund 40 Prozent aller Türken arbeitslos. Selbst die dritte Generation der Zuwanderer kämpft noch mit mangelhaften Sprachkenntnissen, zwei Dritten der jungen Türken erreichen nur Hauptschul- oder gar keine Schulabschlüsse. Mittlerweile ist die Verfestigung von ausländischen Parallelkulturen unübersehbar.

Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei würde völlige Freizügigkeit bedeuten. Politisch profitieren könnte von einer beschleunigten Masseneinwanderung letztlich die rot-grüne Bundesregierung. Träte die Türkei der EU bei, dann erhielten alle in Deutschland lebenden Türken, die sich bewußt nicht einbürgern lassen wollen, automatisch das Stimmrecht in Kommunalwahlen. Bei der letzten Bundestagswahl gaben nach Untersuchungen des Essener Zentrums für Türkeistudien rund 60 Prozent der türkischen Wähler ihre Stimmen der SPD, weitere 22 Prozent unterstützten den multikulturellen Kurs der Grünen.

Angesichts des knappen Wahlausgangs kann man die türkischen Stimmen durchaus als Zünglein an der Waage bezeichnen. Schröder sei der "Kanzler von Kreuzberg", feierten türkischsprachige Zeitungen damals den Triumph. Aufgrund der höheren Geburtenrate ist absehbar, daß türkische Wähler in Zukunft ohnehin eine immer stärkere politische Kraft darstellen werden. Schon in der Vergangenheit hat die Regierung in Ankara versucht, ihre Auslandstürken in Deutschland politisch zu steuern und als Erpressungspotential zu nutzen.

Diese Überlegung bereitet auch den Brüsseler Strategen Kopfschmerzen. Mit einem Beitritt der Türkei würden sich die Bevölkerungsgewichte innerhalb der Union dramatisch verschieben. Heute sind es erst 70 Millionen Türken, doch - wie für ein Entwicklungsland typisch - ihr Bevölkerungswachstum ist rasant. Schon 2015 wird die Zahl der Türken auf 80 Millionen zunehmen, für das Jahr 2050 sagen Schätzungen 100 Millionen voraus. Die alteuropäischen Völker schrumpfen dagegen. Während die Geburtenrate im ländlichen Anatolien über 4 Kinder pro Frau beträgt, liegt sie in Deutschland bei 1,3.

Im Falle einer Aufnahme in die EU nähme die Türkei schnell den Platz des bevölkerungsreichsten Landes ein, hätte Anspruch auf die meisten Sitze im Europa-Parlament. Unschwer sind die kommenden Verteilungs- und Machtkämpfe zu erahnen. Wohlhabenden, aber vergreisenden alteuropäischen Staaten stünde eine subventionshungrige und demographisch expandierende Türkei gegenüber. Sah so der Wunschtraum der Gründungsväter eines geeinten Europas aus? Der Kontinent und die EU, das steht außer Zweifel, würden durch den Beitritt der Türkei grundlegend ihren Charakter als politische und kulturelle Gemeinschaft verlieren. Europa wäre nicht mehr Europa.


 
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