© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/03 19. September 2003

 
Zuviel Theater um das Theater
Im falschen Leben wohlfühlen: Theatersubventionen sind nicht im Interesse des Publikums
Eberhard Straub

Deutschland hat mehr Theater als der Rest der Welt. Die mit öffentlichen Mitteln großzügig ausgehaltenen Häuser sind - von Österreich abgesehen - einmalig in der Welt. Zuweilen wird schüchtern über die Zweckmäßigkeit, Bedeutung und Kosten dieser öffentlichen Einrichtungen nachgedacht. Braucht Berlin drei Opernhäuser, wenn nicht einmal die Touristen dazu beitragen können, sie zu füllen? Thüringen besitzt die meisten Theater, nahe beieinander gelegen, und leistet sich zum vorhandenen Überfluß eine neue Oper in Erfurt. Muß das sein?

Wer daran zweifelt, ob so viele Theater und vor allem soviel Theater um das Theater überhaupt notwendig seien, dem wird sofort energisch bedeutet: Theater muß sein. Wer die Theater vernachlässigt, vergeht sich an der Kultur und raubt dem "kulturellen Leben" freie Ausdrucksräume zu seiner Entfaltung. Kultur ist immer noch ein Donnerwort, das einschüchternd wirkt. Kein Politiker möchte in den Ruf geraten, kulturfeindlich zu sein und den Verdacht auf sich lenken, finanzielle Nöte als Vorwand zu gebrauchen, um die künstlerische Freiheit, weil unbequem, einzuschränken.

Freiheit ist stets unbequem, gerade für den Freien. Paradoxerweise behagt den Dienern der freien Musen die bequeme Sicherheit durch Subventionierung. Die bewahrt sie vor dem Einspruch des Publikum, das früher mit seinem Urteil, ob freundlich oder ungeduldig, der Kunst das Wagnis der Freiheit zumutete. Die Zustimmung des Publikum entschied über den Erfolg eines Stückes und damit auch über die Existenz eines Theaters. Es waren private Bühnen, die Ibsen, Strindberg, Hauptmann oder Shaw mit ihrem Publikum in Berlin "durchsetzten". Gänzlich abgesicherte Regisseure und Intendanten beschwören ununterbrochen ihre künstlerische Freiheit. Dabei sind sie vor den Unwägbarkeiten des freien Marktes geschützt. Bei einem Mißerfolg wurde früher unter Umständen nach der dritten Wiederholung ein Stück abgesetzt. Es war eben "durchgefallen". Mittlerweile können die Theater es sich leisten, Besucherzahlen gegebenenfalls als irrelevant zu betrachten. Bleibt das Publikum aus, bestätigt dieser Umstand nur, daß noch viel getan werden muß, um Philister aus selbstverschuldeter Unmündigkeit herauszuführen.

Der Theaterdirektor und Minister Goethe hielt nichts mißlicher für das Wohl eines Theaters, als ihm die sorglose Gewißheit zu gewähren, daß fehlende Einnahmen schon aus irgendeiner anderen Quelle ersetzt würden. An den Hoftheatern wurde gerechnet, obschon nie pedantisch. Fürsten leisteten sich aus ihrer Privatschatulle Theater zu ihrem und dem allgemeinen Vergnügen. Daß die Öffentlichkeit Theater zu finanzieren habe, galt später als Grundsatz, insoweit als es eine bürgerliche Öffentlichkeit privater Geldgeber war, die Theater für wichtig hielten. Der Steuerzahler, die anonyme Masse Gleichgültiger, blieb unbehelligt.

Bayreuth ist das eindrucksvollste Beispiel privater Energie. Es waren Privatiers, auch Ludwig II. nicht als König, sondern als Privatmann, die Wagner seine Festspiele ermöglichten und dem "Kunstwerk der Zukunft" damit eine Zukunft eröffneten. Den Ruhm Berlins als Theaterstadt begründeten die Hoftheater. Aber es waren bald die privaten Bühnen, die Neues und Unerprobtes versuchten und durchsetzten. Nach 1918 und unter dem Eindruck der Inflation wurden aus den Hoftheatern Staatstheater, aus den bürgerlich-freien Bühnen Städtische Bühnen. Die Vorstellung, daß Theater nur einen Bruchteil ihrer Kosten zu erwirtschaften brauchten, war damals noch nicht zu einem Kulturideal erhoben worden.

Die Subventionen sollten eine Hilfe sein, aber kein Anlaß, auf Wirtschaftlichkeit zu verzichten. Ein Staat als Kulturstaat muß sich Kultur etwas kosten lassen. Das war nobel gedacht. Anderenteils: Die Kultur in Frankreich, Spanien, Italien oder England war nie sonderlich gefährdet, obgleich dort Theater den Regeln von Angebot und Nachfrage unterworfen waren, sofern nicht Spenden Erleichterungen schafften. Allerdings war man dort bereit, den Geschmackswandel öffentlicher Unterhaltungsbedürfnisse einzukalkulieren und nicht den "Kulturstaat" als Helfer anzurufen.

Theater sind Einrichtungen für den Tag. Da es schon vor 1900 nicht genug neue Stücke gab, überlebten dort so viele Bühnen wie nötig, um dem nachlassenden Verlangen des Publikums bei ohnehin schwindender Bedeutung des Theaters als Ausdrucksform zu genügen. Erst der Roman, dann der Film, das Fernsehen und das "Schaugeschäft" im weitesten Sinne drängten die Bühnen in den Hintergrund des Kulturbetriebes.

Nur in Deutschland war das Theater seit Schillers Überlegungen zur moralischen Anstalt überhöht worden, bald mit angeschlossenem Kulturmuseum zur Pflege der Klassiker, die jetzt als solche benannt wurden. Die Klassiker gingen bis heute nicht aus, wohl aber die neuen Stücke. Da immer mehr Schriftsteller auch in Deutschland darauf verzichteten, von der Bühne aus auf ihr Publikum einzuwirken, ergab sich die absurde Situation, daß kein Land der Erde so viele Bühnen für gar nicht vorhandene neue Stücke unterhält.

Da das Repertoire dramatisch schrumpft, sollen Regie und Inszenierung für Überraschungen sorgen. Sämtliche Annäherung an die Gegenwart der immer älter werdenden Dramen aus einer immer ferneren Vergangenheit helfen freilich nicht darüber hinweg, daß sie für andere Gesellschaften geschrieben wurden. Wenn der Zugang zur Ehe leicht und ihre Auflösung problemlos ist, werden die Bedingungen nahezu unverständlich, die einst zu komischen oder tragischen Konflikten führten.

Die Theater als Kulturmuseum ist ein Relikt der bürgerlich-historisierenden Kultur, die sich in heller Auflösung befindet. Das führt unweigerlich zum Bedeutungsverlust der Bühnen. Die Oper hat im Rahmen demokratischer Repräsentationsbedürfnisse fast einen neo-höfischen Rang zurückgewinnen können. Aber die rund fünfzig, dauernd wiederholten Titel des Opern-Repertoires lassen vermuten, daß die Attraktivität des Musiktheaters selbst im Dienst der Überhöhung sozialer événements begrenzt ist im Vergleich zu den events der kulturbetrieblichen Unterhaltungsindustrie, die in anderen Zusammenhängen mit neuen Effekten aufwarten können.

Insofern wirkt die unablässige Mahnung, es sei die verdammte Pflicht der Öffentlichkeit, Theater zu subventionieren, recht weltfremd und ärgerlich. Weil durch öffentliche Subventionierung die Eintrittspreise erheblich gesenkt werden, gibt es noch Willige, die sich auf einen Theaterabend einlassen. Unter den Bedingungen des freien Wettbewerbes müßten die meisten Theater als auslaufendes, überteuertes Modell schließen. Gerade deswegen setzen die Theaterleute auf den Staat, den sie sonst nicht lieben, und setzen ihn mit der Beschwörung der Kultur als Kulturstaat unter Druck: Er bewahrt sie davor, ihre Überlebenschancen erproben zu müssen. Sie suchen die Lohnabhängigkeit unter dem Schein der Freiheit und fühlen sich mitten im falschen Leben ungemein wohl.


 
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