© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/03 12. September 2003

 
Das Feindbild überdenken
von Matthias Seegrün

Entgegen einer auf der Rechten verbreiteten Anschauung ist mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht der Untergang des deutschen Volkes nämlich keineswegs vorgezeichnet. Auf dem Spiel steht in diesem Zusammenhang der Nationalstaat der Deutschen und mit ihm das demokratische Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Spätestens nach dessen Verlust wäre darüber hinaus im Zuge der auf engstem Raum erfolgenden Ausbildung einer multiethnisch fragmentierten Gesellschaft, zu deren Grundproblem die Suche nach einem tragfähigen Grundkonsens werden dürfte, der innergesellschaftliche Frieden stark gefährdet. Widrige Bedingungen für den Fortbestand eines Volkes sind dies zweifellos. Die unmittelbaren und im eigentlichen Sinne existentiellen Bedrohungen des deutschen Volkes, die viel grundlegender sind, dürfen darüber jedoch nicht aus dem Blick geraten.

Zunächst wäre hier der immer mehr um sich greifende Individualismus liberaler Provenienz zu nennen, der untrennbar verbunden mit einer alle Lebensbereiche erfassenden Tendenz zu instrumentellem Denken die weitere Atomisierung der Gesellschaft befördert. Die Verheerungen des herrschenden Ökonomismus kommen außer in den ökologischen Problemen des Planeten in den kulturzerstörenden Wirkungen der global auf dem Vormarsch befindlichen kommerzialisierten Massenkultur zum Ausdruck. Entfremdung, Sinnverlust und Entwurzelung sind allenthalben die Folge. Gegenwärtig tragen insbesondere die auf die informationstechnologische Revolution zurückzuführenden Veränderungen der globalisierten Ökonomie zur Erschütterung der überkommenen Strukturen unserer Industriegesellschaft bei. Bei Fortsetzung des gegenwärtigen Kurses droht nicht mehr und nicht weniger als der Zerfall der Gesellschaft.

Das deutsche Volk unterliegt hier weitgehend denselben Entwicklungen, die auch andere westliche Gesellschaften in der Endphase der Moderne kennzeichnen. Hinzu tritt bei ihm die zusätzliche Belastung eines infolge der während des zwanzigsten Jahrhunderts erlittenen Traumatisierungen beschädigten historischen Selbstbildes.

Es ist zwar keineswegs so, als wären innerhalb des "nationalen Lagers" diese Aspekte unserer prekären Situation nicht bekannt. Dennoch besteht eine fatale Neigung, das Überleben des eigenen Volkes primär durch die in Deutschland lebenden Ausländer bedroht zu sehen, ohne in die Überlegungen einzubeziehen, daß wir grundsätzlich ähnlichen Gefährdungen ausgesetzt sind wie andere Völker. Eine solche Schuldzuweisung mündet allzu leicht in ein Phänomen, das Psychologen als Projektion bezeichnen würden: die Identifikation über Feindbilder. Der Auflösung des Eigenen wird durch eine in der Tendenz pathologische Reaktion begegnet, die sich als Selbst- und Sinnfindung durch Haß beschreiben läßt. Diese von bestimmten rechtsextremen Gruppen auf die Spitze getriebene und teilweise exzessiv gelebte Haltung ist letztlich nichts anderes als die spiegelbildliche Entsprechung des krankhaften Hasses der extremen Linken in Deutschland auf alles Eigene und hat mit einem positiven Verständnis von nationaler Identität rein gar nichts zu tun.

Statt weiterhin in immer neuen vergeblichen Anläufen parteipolitisch ins Spiel kommen zu wollen, sollte die Rechte sich als grundlegende Alternative zum Bisherigen aufbauen, nicht zuletzt als soziale Alternative.

Konzentriert sich die "Verteidigung der nationalen Identität" auf die Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsfrage, folgen daraus notwendigerweise ausschließlich negative - aus der bloßen Ablehnung gegenwärtiger Zustände resultierende - Zielsetzungen. Sieht man hingegen in diesen Fragen lediglich einen speziellen - weniger der Identitätsproblematik als dem Feld der demokratischen Selbstbestimmung zugehörigen - Aspekt der nationalen Frage der Deutschen in einem weit komplexeren Zusammenhang, kann dabei nicht stehengeblieben werden. Die Forderungen, die der innere Zustand des deutschen Volkes und die ökonomisch-sozialen Rahmenbedingungen seiner Existenz an eine zeitgemäße Rechte stellen, reichen sehr viel weiter. Um Deutschland aus der Krise zu führen, bräuchte die Rechte eine wirkliche Vision - eine Zukunftsperspektive, die in ihrem Kern eine gesellschaftliche Reformperspektive umfaßt.

Statt weiterhin in immer neuen vergeblichen Anläufen rein parteipolitische Initiativen zu starten, in dem Glauben zu leben, durch wenige Maßnahmen ließen sich entscheidende Veränderungen bewirken, sollte die Rechte endlich erkennen, daß sie nur als "sozialrevolutionäre" Nationalbewegung ihren eigentlichen Zielen gerecht werden kann.

Die Verteidigung von Volk und Heimat ist mehr als alles andere Bewußtseinsarbeit für eine neue gesellschaftliche Praxis - für eine Alternative zur entfremdenden, den Einzelnen wie die Völker zerstörenden industriegesellschaftlichen Moderne. Sie ist somit etwas völlig anderes als ein zu Projektionen neigender, primär auf Besitzstandswahrung abzielender "Wohlstandschauvinismus", der leider dem Denken vieler sich als "national" empfindender, ehrlich um ihr Volk besorgter Menschen in gewissem Grade zugrunde liegt. Ziel einer aus der Rechten erwachsenden Nationalbewegung müßte es sein, die deutsche Seele zu heilen und zur Wiedergewinnung der Gemeinschaft beizutragen. Statt auf Konfrontationskurs zu gehen, wird sie den Dialog suchen müssen, die Linke nicht länger als einen wie auch immer zu bekämpfenden "Feind" betrachten dürfen. Stets das Ganze im Blick, zu Selbstkritik fähig, sollte sie dazu beitragen können, die unsere Seele verstümmelnden Verzerrungen der historischen Selbstwahrnehmung zu überwinden und im Namen des Eigenen zu einer differenzierten Sicht zu gelangen.

Trotz aller seit den frühen sechziger Jahren vor allem in neurechten Zusammenhängen geleisteten Vorarbeit liegt ein weiter Weg vor uns, soll das Projekt einer Nationalbewegung in Deutschland Gestalt annehmen. Jeder einzelne, der sich den umrissenen Anliegen verpflichtet fühlt, ist aufgefordert, sich ein entsprechendes geistiges Rüstzeug zu erarbeiten. Dabei sollte vermieden werden, sich aus einer Protesthaltung heraus auf die einschlägige politische Literatur zu beschränken. Geistige Offenheit und Synthesefähigkeit sind Trumpf, wenn es darum geht, dem deutschen Volk einen Weg in die Zukunft zu weisen. Neben der Beschäftigung mit Klassikern des rechten/konservativen Denkens sollten beispielsweise auch zentrale sozialwissenschaftliche Diskussionen der Gegenwart aufgegriffen werden.

Anknüpfungspunkte bietet hier insbesondere der durch seine Kritik am liberal-individualistischen Menschenbild und dem daraus folgenden instrumentellen Gesellschaftsverständnis bekanntgewordene Kommunitarismus, der eine der interessantesten Entwicklungen innerhalb der zeitgenössischen politischen Philosophie darstellt. Mit seiner Betonung der Bedeutung der Zugehörigkeiten und Werte, in die jeder Mensch eingebettet ist, hebt er die Bedeutung der als konstitutiv gekennzeichneten Gemeinschaft für das Individuum hervor. Er aktualisiert und präzisiert damit eine dezidiert konservative Liberalismuskritik. Dem atomistischen wird ein holistischer Individualismus entgegengestellt, der Freiheit und Bindung in Einklang bringt.

Das Ziel der ethnisch-kulturellen Wiederverwurzelung des Menschen erfordert naturgemäß eine intensive Beschäftigung mit Geschichte, die sich nicht auf intellektuelle Kreise beschränken kann. Als zentrales Feld der nationalen Bewußtseinsbildung ist sie zugleich der wohl wichtigste Ausgangspunkt von Widerstand, da an ihrem Bild der Grad der Entfremdung vom Eigenen ersichtlich wird. Die Erkundung unserer Wurzeln von den frühesten Anfängen bis in die Moderne ist eine Grundvoraussetzung jeder Erneuerung. Einsetzend bei der nach neuesten Erkenntnissen bereits zu Beginn der Steinkupferzeit in Mitteleuropa erfolgten Herausbildung der indogermanischen Grundkultur, die als erste Basis der europäischen Zivilisation angesehen werden muß (vgl. Carl-Heinz Boettchers 1999 erschienenes, auch als Einführung bestens geeignetes Buch "Der Ursprung Europas. Die Wiege des Westens vor 6000 Jahren"), über das vorchristliche Germanentum (unübertroffen der Klassiker von Wilhelm Grönbech über "Kultur und Religion der Germanen") und die griechisch-römische Antike, deren Synthese mit dem Christentum unter anderem die kulturelle Blüte des Hochmittelalters hervorbrachte, gilt es, sich eines reichhaltigen Erbes zu vergewissern.

Zum Verständnis der spezifisch modernen Entwicklung westlicher Gesellschaften kann eine herkömmliche historische Betrachtung (selbst mit starker Fokussierung auf sozialhistorische Zusammenhänge) jedoch nur begrenzt beitragen. Hier muß sich dem - letzterer natürlich nicht unvermittelt gegenüberstehenden - Feld der Ideengeschichte zugewandt werden.

Wie eine sinnvolle Erkundung der auf dem Weg in die Moderne erfolgten Veränderungen aussehen kann, hat auf eindrucksvolle Weise der zu den bedeutendsten Vertretern des Kommunitarismus zählende kanadische Philosoph und Politikwissenschaftler Charles Taylor demonstriert. In seinem längst zu einem Standardwerk der Geistes- und Sozialwissenschaften gewordenen Buch "Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität" (dt. 1994) zeichnet er, ausgehend von einer Analyse der Verbindungen zwischen Moral- und Identitätsvorstellungen, in deren Zentrum der Begriff der "Idee des Guten" bzw. des "guten Lebens" steht, deren sich über Jahrhunderte vollziehende Transformation nach. Das von Taylor herausgearbeitete Bild der neuzeitlichen Identität verdeutlicht zunächst, daß die im Okzident geprägten Vorstellungen von Innerlichkeit, Freiheit, Individualität und der Natur des Menschen (bzw. seinem Naturverhältnis) nicht einfach auf andere Kulturen oder Zeiten übertragen und als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Darüber hinaus macht es deutlich, daß die genannten Vorstellungen auch innerhalb dieser Kultur in höchst unterschiedlichen (nationalen wie individuellen) Akzentuierungen zur Geltung gebracht werden.

Die von vielen Konservativen ersehnte Wiederherstellung vormoderner Strukturen und Sinngehalte wird es nicht geben. Eine positive Auseinandersetzung mit der "neuzeitlichen Identität" ist also gar nicht zu umgehen.

Die Konflikte der Moderne, die auf einen zersplitterten moralischen Horizont zurückzuführen sind, der sich aus teilweise miteinander konfligierenden, inkommensurablen Ideen des Guten zusammensetzt, werden letztlich im Inneren jedes Einzelnen ausgetragen. Gefährdungen des modernen Menschen erwachsen Taylor zufolge aus einer Extreme und Katastrophen herausfordernden einseitigen Betonung bestimmter Aspekte der neuzeitlichen Identität. Den einzigen Weg, dem zu begegnen, sieht er darin, sich der Gesamtheit der die Moderne in irgendeiner Form prägenden Moralquellen (Ideen des Guten) bewußt zu werden und auch die überlagerten, zurückgedrängten unter ihnen wieder angemessen zu artikulieren. Sinn für Maß und die Fähigkeit, eine gewisse Spannung auszuhalten, sind dabei unverzichtbar. Somit bleibt der moderne Mensch jedoch stets gefährdet - trotz oder gerade wegen des von ihm erreichten Grades der Reflexivität.

Es wäre vermessen, Taylors komplette Analyse in einigen mageren Zeilen wiedergeben zu wollen. Gezeigt werden sollte in erster Linie, daß es angesichts der angesprochenen moralischen Konflikte und der durch sie bewirkten Verwerfungen nicht damit getan ist, sich zum Gegner der Moderne zu erklären. Jeder von uns ist auf die ein oder andere Weise in sie verstrickt, untrennbar mit ihr verwoben.

Eine positiv auf moderne Entwicklungen aufbauende Auseinandersetzung mit ihr ist also nicht zu umgehen. Gerade einer tief im konservativ-revolutionären Denken wurzelnden Nationalbewegung sollte es nicht schwerfallen, hier von Taylor zu lernen. Die Moderne mit seiner Hilfe als Ganzes zu erfassen, beinhaltet auch, den Nationalismus in all seinen positiven wie negativen Facetten ihr zugehörig zu wissen. So gründet beispielsweise der für uns zentrale, vor allem auf Herder zurückgehende, ethnopluralistische Strang des Nationalismus in der neuzeitlichen Vorstellung von Individualität (hier werden auch Völker als Individuen wahrgenommen), den Idealen der Authentizität und des natürlichen Ausdrucks (vor allem auf Sprache bezogen), die von Demokratie und Emanzipation nicht zu trennen sind. Um sich derartiger Zusammenhänge bewußt zu werden und sich auf dem Weg der volklichen Wiederverwurzelung nicht in die Irre leiten zu lassen, ist die vorgestellte Analyse der Moderne unerläßlich.

Die von manchem Nationalbewegten ersehnte Wiederherstellung eines Holismus, der dem der traditionalen Welt der Vormoderne mit ihrem geschlossenen, allgemein anerkannten und unhinterfragbaren moralischen Horizont sehr nahe käme, erscheint so in einem etwas anderen Licht. In aller Konsequenz umgesetzt, wäre sie weder möglich noch wirklich wünschenswert. Sämtliche Versuche in dieser Richtung drohen letztlich, sofern sie nicht von vornherein scheitern, totalitäre Formen anzunehmen (vor allem in Gestalt von Kollektivismen nationalistischer oder religiös-fundamentalistischer Prägung) und ihr Ziel nicht allein zu verfehlen, sondern regelrecht zu pervertieren. Sich des ebenso vielschichtigen wie unentrinnbaren moralischen Horizonts der Moderne bewußt zu werden, ermöglicht uns, dieser Gefahr zu begegnen und die der neuzeitlichen Identitätsvorstellung innewohnenden Chancen zu erkennen. Dies schließt ein, dem religiösen Analphabetismus der Moderne durch bewußte Rückbindung an das Göttliche zu begegnen, sich die Mitzugehörigkeit des Menschen im natürlichen und kosmischen Zusammenhang zu vergegenwärtigen, die Welt von neuem zu verzaubern.


 
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