© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/03 12. September 2003

 
Bilder für die Ewigkeit
Nachruf: Leni Riefenstahl, Deutschlands große Film-Pionierin, ist am Montag dieser Woche im Alter von 101 Jahren verstorben
Thorsten Hinz

Leni Riefenstahl war das Außerordentliche in Person. Eine vergleichbare Persönlichkeit gab es seit Ernst Jüngers Tod nicht mehr in Deutschland. Ein erratisches Geschöpf, aus fernen Zeiten überkommen und trotzdem - oder deswegen - von ungeheurer Präsenz in der Gegenwart: in der Filmästhetik sowieso, als Gegenstand wissenschaftlichen und historischen Interesses, als Stein des Anstoßes in politischen und semi-politischen Diskussionen. Im vergangenen Sommer trat sie sogar noch einmal als Künstlerin an die Öffentlichkeit, mit einem Unterwasserfilm, der anläßlich ihres hundertsten Geburtstags im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt wurde.

Von ihrer ersten Karriere als Tänzerin am Deutschen Theater von Max Reinhardt haben sich nur einige Fotos erhalten. Im Film das "Blaue Licht" (1932) führte sie erstmals Regie und etablierte sich als bedeutende Schauspielerin mit einer ganz eigenen, natürlichen Aura. Ihr Genie als Regisseurin und ihre filmtechnischen Innovationen sind allgemein anerkannt, auch wenn angesichts der stillen Riefenstahl-Renaissance der letzten Jahre wieder Kritiker auf den Plan traten. Die Berühmtheit ihrer Filme sei "nur zum kleineren Teil Resultat formaler Qualitäten, zum größeren Teil aber den Anlässen, Produktionsumständen und Funktionen der Filme geschuldet", schreibt der Buchautor Rainer Rother, Riefenstahl würde nur "so lange als eine große Regisseurin gelten, wie sie auch den Nimbus des Berüchtigten behält".

Ihr Genie als Regisseurin ist allgemein anerkannt

Ein apodiktischer Befund, aber stimmt er auch? 1999 fand im Potsdamer Filmmuseum die erste große Werkschau statt, in der eine konsequente Historisierung ihres Werks vorgenommen wurde. Es ergab sich klar, daß sie wesentliche Zeittendenzen aus Gesellschaft, Kunst und Technik aufgenommen und daraus spektakuläre Bilder geformt hatte. Leni Riefenstahl war eine der expressivsten Künstlerinnen ihrer Zeit!

Kurz darauf wurden ihre Sportfotos, die parallel zu den Dreharbeiten von "Olympia" aufgenommen worden waren, in einer Ausstellung in der Berliner Galerie Camera Work ohne jedes narrative Beiwerk gezeigt. Sie sollten ganz für sich selber stehen, ohne Verweis auf ihren politischen Kontext und die Vorwürfe, die sie nachträglich provozierten, allein als Ausdruck reiner Harmonie. Auch das erwies sich als faszinierend, obwohl in Riefenstahls Filmen Bewegung und Dynamik wichtige Strukturelemente sind. Zwar ist jeder Augenblick für sich genommen schön, er wird zelebriert, gedehnt, und ist doch wiederum nur die Vorstufe zum nächsten, womöglich noch schöneren Moment: Diese Wechselwirkung aus Erwartung, Erfüllung und neuer Erwartung fiel weg, weil der Bewegungsfluß zu einem einzigen Bild gerann. Trotzdem gefror das antike Pathos zu keiner starren Theatralik. Über diese und andere Fragen haben sich kritische Zeitgenossen in ihren Rezensionen verbreitet, um dann doch, überwältigt von der Macht ihrer Bilder, endgültig den Degen vor Leni Riefenstahl zu senken.

Zuletzt drehte die historische Forschung sich wieder um die Fragen, wie nahe Leni Reifenstahl dem Parteiprogramm der NSDAP gestanden hatte und ob ihre Filme Parteiaufträge waren oder nicht. Doch diese Fragen zielen nur auf Sekundäres. Was zählt, das ist die Tatsache, daß ihre Filme auch jenseits des "Dritten Reiches" gefielen und gefallen, daß sie autonome Kunstwerke geworden sind. Ein bestimmter propagandistischer Gehalt ist nicht zu bestreiten, doch darin erschöpfen sie sich nicht. Goebbels konnte mit seiner Inszenierung des "Tages von Potsdam" dem deutschen Spießer suggerieren, daß Hitler die marode Herrlichkeit des Kaiserreichs wiederherstellen wolle, und sonst nichts. Leni Riefenstahl aber hat mit ihrer Inszenierungskunst eine Welt fortwirkend beeindruckt: "Und dabei Form nie als Ermüdung, Verdünnung, Leere im deutsch-bürgerlichen Sinne, sondern als die enorme menschliche Macht, die Macht schlechthin, den Sieg über den nackten Tatbestand und zivilisatorische Sachverhalte, (...), der Ausgleich und die Sammlung der Fragmente." Diese Zeilen, die Gottfried Benn 1934 schrieb, scheinen auf Leni Riefenstahl gemünzt zu sein.

Manche gutmeinende Verteidiger haben gesagt, ihre Filme seien nur deswegen verrucht, weil sie in der falschen Zeit und im falschen Land entstanden seien. Doch das ist eine Herabsetzung ihres Talents, denn hat die heutige Allgegenwart des "Dritten Reiches" nicht auch damit etwas zu tun, daß man die Bilder, die Leni Riefenstahl von ihm kreiert hat, einfach nicht vergessen kann? George Steiner spricht in seinem Heidegger-Buch von der "elektrisierenden Trance" des "nationalsozialistischen Versprechens", der der Philosoph erlegen sei. "Er sah darin die einzige Hoffnung für sein Land, das von wirtschaftlicher und sozialer Katastrophe beherrscht war. Der Nazismus, dem Heidegger anhing, verschleierte einstweilen noch seinen wesentlich barbarischen Charakter. Es war Heideggers Irrtum und seine Eitelkeit, für den Akademiker so charakteristisch zu glauben, daß er seine eigene Lehre von der existentiellen Zukünftigkeit auf das Hitlersche Programm einwirken lassen könnte und dabei das Prestige und die gelehrte Autonomie des gelehrten Establishment bewahren könnte." Ersetzt man "Akademiker" durch "Künstler", dann hat man in etwa auch die ästhetische Programmatik und die politischen Illusionen und Irrtümer Leni Riefenstahls versammelt.

Daß ihre Filme inhuman seien, kann niemand behaupten. Der Parteitagsfilm "Triumph des Willens" ist eher ein Märchen, in dem die Vergangenheit - das romantische Nürnberg - mit dem modernen, technischen Ordnungsprinzipien verschmilzt, eine politisch-ästhetische Utopie, über der ein "So möge es sein!" schwebt. Von Hitler geht eine magische Kraft, keine diktatorische Gewalt aus. Zwischen ihm und der Masse findet ein enormer Energieaustausch statt, der Führer erscheint als personifizierte Hoffnung, verdichtete Existenz, als Bezwinger der Furcht und des Todes. Noch einmal: Ist das tatsächlich nur Propaganda? Nein, es ist auch ein Film über Dionysos, über die Ekstase und das Atavistische, über Gläubigkeit, über das Brodeln der Massen. Hitlers triumphale Einfahrt nach Nürnberg zeigt mit beängstigender Intensität, wie stark die Parteitagsinszenierung 1934 einer verzweifelten, irrationalen Disposition der Masse entsprach und in welchem Maße Hitler untergründige, kollektive Sehnsüchte verkörperte. Ohne "Triumph des Willens" wüßte man weit weniger über die mentalen Strukturen einer totalitären Diktatur.

Auch der vielzitierte "schöne Schein" trägt zur Erklärung der Filme nicht viel bei. Sie transportieren das Gefühl, Zeuge von etwas Außerordentlichem zu sein, aus dem sich das Selbstvertrauen speist, um unbefangen antike Motive zu adaptieren, ohne eklektisch zu wirken. In den "Olympia"-Filmen, "Fest der Völker" und "Fest der Schönheit", wird der antike Eros sogar unverhüllt sexuell. "Faschistischer als der Faschismus" hat man Riefenstahl-Filme genannt, doch das trifft auch auf die geheimsten menschlichen Träume zu. Eben darin liegt eine wichtige Quelle des Unbehagens, das sie hier und da erzeugen.

Um Riefenstahls oder (Heideggers) Entscheidungen angemessen zu bewerten, kann man es nicht oft genug sagen: Zu der Zeit, als in Deutschland Hitler an die Macht kam, waren in Rußland, der zweiten Weltmacht neben den USA, durch die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft Millionen Menschen umgekommen und wurden Prozesse gegen Intellektuelle als angebliche Saboteure des sozialistischen Aufbaus durchgeführt, die den stalinistischen Massenterror ab 1936, der auch viele kreative Künstler dahinraffte, vorwegnahmen. Die liberalen Demokratien befanden sich in Agonie und waren ohne Selbstvertrauen. Der Nationalsozialismus erschien als junge, neue Kraft, die sich dem entgegenzustemmen schien.

Sie hätte es nach dem Krieg leicht haben können, wenn sie öffentlich bereut, sich als öffentliche Trauerheroine kapriziert oder ein Buch "Der große Irrtum meines Lebens" publiziert hätte. Sie hätte nur ihr Privates nach außen kehren, öffentliche Tränen vergießen und sich dem Totalitarismus der Mediendemokratie unterwerfen müssen. Deren Rituale waren Riefenstahls Kamera und ihr selber zutiefst fremd. Sie zog es daher vor, zu schweigen oder auf den großen Jubel hinzuweisen, der ihr damals auch im Ausland entgegenschlug. Damit reizte sie das schlechte Gewissen der Opportunisten, die ihr postwendend "Verstocktheit" und "Uneinsichtigkeit" vorwarfen. Vielleicht sollte man es lieber Stolz oder Einsicht in die Unzulänglichkeit - in die eigene und in die der lizenzierten Schuldbekenntnisse - nennen. Auch Heidegger hatte nach 1945 geschwiegen, später Heiner Müller unter Berufung auf ihn, weil alles Reden sowieso nur neue Mißverständnisse produziere.

Niemand kann behaupten, ihre Filme seien inhuman

Leni Riefenstahl hat ihre Entscheidung getroffen und die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, auf sich genommen. Wie viele Menschen können das von sich noch sagen?

"Selten war so viel Schönheit, Kraft und Schönheit vereinigt wie in den sechzehn Tagen bei den Olympischen Spielen in Berlin." Solche Sätze hielt man ihr als Ausdruck von politischer Naivität, wenn nicht von Schlimmerem, vor. Doch worum ging es ihr wirklich? Aus "Olympia" sind "Der Speerwerfer", "Der Diskuswerfer", "Der Sieger" oder "Der Fackelläufer" zu Archetypen geworden, zu Archetypen im Kampf, in der Konzentrationsphase, in der Bewährung, allein unter dem Himmel als einer heroischen Landschaft, entindividualisiert und doch ganz bei sich selbst. Schwerelos segelt "Der Turmspringer" vom Zehn-Meter-Brett, Engel oder Supermann, aber vor allem: Der erlöste Mensch, der sein "Verweile doch, du bist so schön" lebt!

Seit "Olympia" kann man den Diskuswerfer von Myron nicht mehr anschauen, ohne sogleich auch an Leni Riefenstahls Überblendung denken zu müssen, in der diese Jahrtausende alte griechische Statue die Gestalt des Zehnkämpfers Erwin Huber annimmt, zu vibrieren beginnt, sich schließlich in Bewegung setzt und ganz gegenwärtig wird. Die Filmsequenz wiederum verweist auf Rilkes Gedicht "Achaïscher Torso Apollo", in dem die nur fragmentarisch erhaltene Skulptur sich in der Rezeption vollendet, als sie in einem "leisen Drehen" den Betrachter anschaut und ihn auffordert: "Du mußt dein Leben ändern". Leni Riefenstahl ging es eben nicht um den Menschen als Massenpartikel, sondern um den Einzelnen, der in der Rezeption der Antike zur Würde, Schönheit, zur Freiheit findet.

Fotos: Leni Riefenstahl ist am 8. September in ihrem Haus in Pöcking am Starnberger See gestorben. Ihre Bilder sind für die Ewigkeit.

Leni Riefenstahl in dem Film "SOS Eisberg" (1932): Geboren am 22. August 1902 in Berlin, avancierte Helene Amalia Bertha Riefenstahl, genannt "Leni", zunächst zu einer gefeierten Solotänzerin, bevor sie ins Schauspielfach wechselte. Ab 1932 führte sie selbst Regie, unter anderem bei dem Film "Triumph des Willens", der ihr später zum Verhängnis werden sollte. Nach dem Krieg feierte sie Erfolge als anerkannte Fotografin.


 
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