© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/03 29. August 2003

 
Pankraz,
William James und die Liebe zum Straßenköter

Schlechte Zeiten für Hundezüchter. Immer mehr Leute holen sich ihren Hund aus dem Tierheim, oder sie bringen ihn von ihrem Urlaub aus Spanien, Tunesien oder Sizilien mit, wo sie ihn buchstäblich von der Straße aufgelesen haben. Das vornehme oder auch nur eindeutige Pedigree fehlt dann, wird aber mehr als wettgemacht durch die Anhänglichkeit und intensiv bezeugte Dankbarkeit der "aus dem Schmutz geretteten" Kreatur.

Pankraz hat zwei Besitzer von Findlingshunden in seiner Bekanntschaft, und beide bezeugen mit Leidenschaft, daß es überhaupt keine Schwierigkeiten mit ihren Findlingen gebe. Der Umstand, daß diese nicht "abgerichtet", nicht von Kindheit an auf ihren "Herrn" geprägt seien, beeinträchtige das gute Zusammenleben mit ihnen nicht, im Gegenteil, Findlinge seien dem "Welpenhund" an Feinfühligkeit und Lebensernst überlegen.

Die bittere Kindheit habe sie einerseits abgehärtet und gegen Wehleidigkeit immunisiert, andererseits sehnsüchtig gemacht nach geordneten Verhältnissen, festen Hierarchien, regelmäßigen Mahlzeiten. Der Welpenhund nehme viel zu viele Dinge als selbstverständlich hin und könne sich viel schwerer an neue Verhältnisse anpassen als der Findling. Er sei und bleibe der ewige Jüngling. Nur mit dem Findling sei echte Freundschaft von Mann zu Mann (respektive Frau zu Frau) möglich.

Für den bedeutenden amerikanischen Philosophen William James (1842 bis 1910), Bruder des großen Romanciers Henry James und Schöpfer des sogenannten "Pragmatismus", lieferte das Verhältnis zu seinem treuen, einst von der Straße aufgelesenen Mischlingshund sogar den Schlüssel zum Weltverständnis. "So wie mein Mischling", schrieb er, "sich in meiner Wohnung zurechtgefunden hat, so finden wir Menschen uns in der Welt zurecht: als in einer vielleicht doch nur vorläufigen und letztlich undurchschaubaren, in der sich aber einigermaßen ordentlich leben läßt."

Das Zitat findet sich in James' Werk "Ein pluralistisches Universum". Dort heißt es weiter: "Ich lehne den Glauben entschieden ab, daß unsere menschliche Erfahrung die höchste Form der Erfahrung, die es im Weltall gibt, sein soll. Eher glaube ich, daß wir zum Ganzen der Welt in faktisch derselben Beziehung stehen wie mein Mischling zum Ganzen meines Lebens. Er bewegt sich in meinem Wohnzimmer und in meiner Bibliothek und nimmt teil an Szenen, von deren Bedeutung er keine Ahnung hat. Seine Berührung mit meiner Welt ist tangentenhaft. Ähnlich kommen wir Menschen mit dem umfassenden Leben der Dinge nur tangential in Berührung".

Nun, man muß die Spekulation nicht so weit treiben, um ein echt kollegiales Verhältnis zu seinem (Findlings-)Hund zu bekommen. Es ist etwas in diesen Wesen, das nicht nur Oberförster und einsame Damen ins Philosophieren treibt, sondern auch hochprofessionelle Nachdenker, Michel de Montaigne beispielsweise, König Friedrich den Großen von Preußen, Victor Hugo, Schopenhauer. Mit Schrecken denkt Pankraz an die wütenden Attacken, die letzterer, aber auch Friedrich Hebbel und andere Geistesgrößen ausgerechnet gegen Goethe starteten, weil der sich einige Male in seinem Leben recht uncharmant und herablassend über den Hund im Allgemeinen und den "Straßenköter" im Besonderen vernehmen ließ.

Der einzige "Hundefreund", der bei Goethe vorkommt, ist der pedantische Unsympath Wagner im "Faust" ("Dem Hunde, wenn er gut gezogen,/ Wird selbst ein weiser Mann gewogen"). Goethe selbst, speziell nachdem er auf seiner Italienreise mit dem aggressiven Treiben der dortigen Straßenköter unangenehme Bekanntschaft hatte machen müssen, sprühte nur Hohn, der in den Venezianischen Epigrammen (Nr. 73) seinen Höhepunkt erreichte: "Wundern kann es mich nicht, daß Menschen die Hunde so lieben; / Denn ein erbärmlicher Schuft ist, wie der Mensch, so der Hund".

Als Friedrich Hebbel das las, war er so empört, daß er gleich ein Gegen-Epigramm in sein Tagebuch eintrug: "Wundern muß ich mich sehr, daß Hunde die Menschen so lieben; / Denn ein erbärmlicher Schuft gegen den Hund ist der Mensch". Und der junge Schopenhauer, immerhin von Goethe sehr gefördert und fast ein Ziehsohn von ihm, hieb in die gleiche Kerbe: "Wundern darf es mich nicht, daß manche die Hunde verleumden; / Denn es beschämet zu oft leider den Menschen der Hund".

Das hatte nichts oder nur wenig mit jener "Menschenfeindschaft" zu tun, wie sie Schopenhauer und auch anderen Hundefreunden oft nachgesagt wird, etwa in dem Sinne: Weil sie von den Menschen enttäuscht sind, trösten sie sich mit dem Hund. Die Treue des Hundes, darüber machen sich gerade Hundefreunde keine Illusionen, ist zwar bedingungslos, aber sie beruht nur zum kleinsten Teil auf freier Zuneigung, im Wesentlichen ist sie Äußerung eines genetischen Befehls an das Cliquen- und Hordentier. Der Hund muß sein Alphatier einfach lieben, anders kann er nicht leben.

Doch diese Einsicht mindert den Respekt des Hundefreunds vor "seinem" Hund nicht im mindesten. In der Hunde-Existenz zeigt sich ihm, was William James so ingeniös auf den Begriff zu bringen versuchte: das gekonnte, fast perfekte Leben über Abgründen, die man nicht ausmessen kann und die man nicht versteht und in die man trotzdem nicht hineinfällt.

Zusätzliche Dimension gewinnt dieses Zeigen, wenn der Hund ein Findling und ein Ex-Straßenköter ist. Denn den Ex-Straßenköter hat - im Gegensatz zu dem von Kind auf behüteten Welpen des Züchters - ein Hauch von totaler Fremde, von prinzipieller Unzugehörigkeit angeweht, er ist durch dieses Abenteuer über die bloße Natur hinausgewachsen, ist partiell irgendwie menschenähnlich geworden.

Das vergißt er nicht, und auch "sein" Mensch vergißt es nicht.


 
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