© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/03 29. August 2003

 
Das Pulverfaß
Irak: Ein Land versinkt in Chaos und Anarchie / Die USA erfüllen ihre selbstgestellten Aufgaben nicht und scheitern als Besatzungsmacht
Michael Waldherr

W elch "segensreiche" Auswirkungen hatte US-Präsident George W. Bush der Welt nicht alles versprochen, wenn er den Schurkenstaat Irak erst einmal vom üblen Diktator Saddam Hussein befreit hat? Mehr Sicherheit, weniger Terrorismus, Wohlstand, Frieden und Demokratie für einen neuen Irak, der positiv auf die ganze Region des Nahen und Mittleren Osten ausstrahlt. "Mission accomplished!" prangte in großen Lettern auf dem US-Flugzeugträger "USS Abraham Lincoln", als der US-Präsident am 2. Mai in martialischer Siegerpose hollywoodreif das "Ende der Hauptkampfhandlungen" im Irak erklärte. Auftrag also ausgeführt? Aus guten Gründen vermied Bush den Begriff vom "offiziellen Kriegsende", denn der Krieg gegen den Terror gehe schließlich noch weiter.

Knapp vier Monate nach dem großen Auftritt fällt die Bilanz für die US-Amerikaner mager aus: Zwar konnte ein Großteil von Saddams Führungsclique gefaßt werden, doch der gestürzte Diktator ruft trotz höchster Belohnung für Hinweise zu seiner Ergreifung noch immer aus dem Untergrund auf Tonbändern zum Widerstand gegen die "ungläubigen Invasoren" auf. Die Suche nach Massenvernichtungswaffen gestaltete sich bislang zu einem völligen Fehlschlag, der den offiziellen Hauptkriegsgrund der US-Amerikaner und Briten entfallen läßt und so die Legitimation des Krieges - vorsichtig formuliert - sehr in Frage stellt.

Heiliger Krieg gegen die USA und alle ihre Helfer

Der Aufbau einer Demokratie sieht sich mit dem Problem konfrontiert, daß die schiitische Bevölkerungsmehrheit von sechzig Prozent stark fundamentalistisch geprägt ist und den Amerikanern überaus kritisch, wenn nicht gar feindselig gegenübersteht. Die Bildung eines Regierungsrates ist in weiten Teilen der arabischen Welt überhaupt nicht anerkannt; viele Irakis sehen in den Mitgliedern des Rates, der ohne Genehmigung der USA nichts beschließen kann, nur Kollaborateure eines Besatzungsregimes.

Die Wiederherstellung der Ordnung im Irak ist bis heute nicht gelungen. Doch das Kriegsvölkerrecht nimmt die USA als Besatzungsmacht in die Pflicht. Bei den Plünderungen irakischen Kulturerbes durch marodierende Einheimische beschränkten sich die amerikanischen Soldaten aber lieber aufs Zuschauen. Nach dem gewaltsamen Tod der beiden Saddam-Söhne Udai und Kusai Hussein hatte die Bush-Administration gehofft, die Nachkriegsphase im Zweistromland gestalte sich friedlicher.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Hinterhalte auf Soldaten der Koalitionsstreitkräfte, Liquidierung von Irakis, die mit den Besatzungsmächten zusammen arbeiten, Anschläge auf die Infrastruktur wie Strom-, Wasserleitungen und Ölpipelines stehen im schlimmsten Sinnes des Wortes auf der Tagesordnung. Über 180 Koalitionssoldaten sind seit dem von Bush offiziell erklärten "Ende der Hauptkampfhandlungen" ums Leben gekommen, mit Masse US-Amerikaner.

Mit dem Anschlag auf das UN-Hauptquartier in Bagdad am 21. August erreichte der Terror im Irak eine neue Dimension. Das Land droht in Chaos und Anarchie zu versinken. Ein Selbstmordattentäter hatte seinen mit Sprengstoff beladenen LKW unmittelbar vor dem Gebäude in die Luft gesprengt und dabei mindestens 23 Menschen in den Tod gerissen, darunter 13 irakische Uno-Mitarbeiter. Auch der UN-Sonderbeauftragte für den Irak, Sergio Viera de Mello, starb unter den Trümmern des einstürzenden Gebäudetrakts. "Der Anschlag hat sich direkt gegen ihn gerichtet. Wer immer das getan hat, wußte genau, wo und wann de Mello in seinem Büro sitzt", erklärte ein UN-Mitarbeiter in Bagdad. Nach Ansicht der Vereinten Nationen hatten die Drahtzieher des Anschlags Komplizen beim irakischen UN-Sicherheitspersonal.

Der Anschlag markiert eine neue Phase im Irak-Konflikt: Er galt nicht US-Einrichtungen oder Militärkonvois der Besatzungstruppen, sondern einer Organisation, die dem Krieg ablehnend gegenüberstand. Das Attentat trägt die Handschrift der radikal-islamischen Terrorgruppe Hisbollah, die den Nahen und Mittleren Osten seit Anfang der achtziger Jahre mit Selbstmordattentaten überzieht: 1983 hatte die Organisation in Beirut mit einer Autobombe 300 US-Amerikaner getötet. Unterdessen bekannte sich eine bislang unbekannte moslemische Gruppe zu dem Autobombenanschlag auf dem UN-Sitz in Bagdad. Der arabische Sender El Arabija berichtete, bei ihm sei ein entsprechendes Schreiben der Gruppe mit dem Namen "Bewaffnete Vorhut der Zweiten Armee Mohammeds" eingegangen. In dem Schreiben würden weitere Anschläge dieser Art angekündigt. Gleichzeitig werde allen Ausländern der Krieg erklärt. Arabische Länder würden davor gewarnt, Soldaten in den Irak zu entsenden. Zudem rufe die Gruppe zum Heiligen Krieg gegen alle Helfer der USA auf, selbst wenn sie Araber oder Moslems seien. Der Sender zeigte Aufnahmen des in arabischer Sprache verfaßten Schreibens.

Skeptiker an der Redlichkeit der Amerikaner im Irak erhalten jedoch neue Nahrung durch die Behauptung des Mitgliedes des Provisorischen Regierungsrates, Ahmed Chalabi, der behauptet, bereits fünf Tage vor dem Anschlag fast ausführliche Kenntnisse gehabt zu haben und diese auch "mit den Amerikanern geteilt" habe. Daß das Datum des Anschlags dann auch noch terminlich mit der schon seit längerem von den USA und Großbritannien anberaumten Irak-Sitzung des UN-Sicherheitsrates zusammenpaßte, um dort "geeint in Trauer" eine gemeinsame zukünftige Irak-Politik abzustimmen, wirft zumindest Fragen auf. Daß die USA den Terroranschlag als Verhandlungsargument ausnutzten, beklagten nicht nur französische UN-Diplomaten, die in der Washington Post "den zynischen Versuch, die Leiden von UN-Angestellten auszunutzen", kritisierten. Auch andere Diplomaten, so wird in dem Blatt angeführt, äußerten den Verdacht, die USA wollten den Schock ausnutzen, ihre "Wunschliste" erfüllt zu sehen.

"Die US-Militärpräsenz ist ein Trauma", sagte de Mello

Schließlich kam der Angriff nicht überraschend. Das UN-Hauptquartier bot sich als "weiches" Ziel für einen Terroranschlag geradezu an. Die Sicherheitsmaßnahmen waren lasch - die Vereinten Nationen hatten auf den Schutz des US-Militärs verzichtet, weil sie nicht als Teil der Besatzungsmacht verstanden werden wollten. Der brasilianische UN-Sonderbeauftragte de Mello galt als Kritiker der Amerikaner im Irak. Von ihm ist der Satz überliefert: "Die US-Militärpräsenz ist ein Trauma. Ich würde auch nicht gerne fremde Panzer an der Copacabana sehen." Eindringlich hatte er immer wieder gewarnt: "Die Kluft zwischen der islamischen Welt und dem Westen muß zugeschüttet werden, sonst steuern wir in die Katastrophe."

Doch die Abgrenzungsversuche bleiben nutzlos. Denn der Irak wird zunehmend zum Kampfplatz zwischen dem Islam und einem Westen, zu dem die Islamisten eben auch die Vereinten Nationen zählen. Die Uno hatte Sanktionen verhängt, unter denen das irakische Volk jahrelang zu leiden hatte. Sympathien, die sich die Weltorganisation durch ihren Widerstand gegen die US-Kriegspläne bei den Irakern erworben hatte, sind bei vielen wieder geschwunden, seit die Uno den von den USA ernannten Regierungsrat faktisch anerkannt hatte. "Die tanzen doch nach der US-Pfeife", heißt die überwiegende Meinung im Zweistromland. "Die Uno darf nicht länger als Feigenblatt für die US-Politik im Irak dienen", warnt Udo Steinbach vom Deutschen Orient-Institut in Hamburg und fordert: "Spätestens jetzt müssen die Vereinten Nationen mit realem Einfluß und konkreten Vollmachten ausgestattet werden." Das ist auch die Linie von UN-Generalsekretär Kofi Annan: "Das Chaos im Irak kann nicht im Interesse der internationalen Gemeinschaft sein. Die Lage dort betrifft alle Länder, unabhängig von den Gegensätzen, die es vor dem Krieg gab."

Bei den Amerikanern macht sich inzwischen die Erkenntnis breit, daß sie es alleine nicht schaffen, militärisch nicht - und finanziell auch nicht. Die Kosten für den Irak-Krieg und den Wiederaufbau des Landes werden sich nach Informationen der amerikanischen Tageszeitung Washington Post bis zum Ende kommenden Jahres auf fast hundert Milliarden US-Dollar (88,4 Milliarden Euro) belaufen. Es seien bereits jetzt Kosten in Höhe von 50 Milliarden Dollar entstanden, was die für dieses Jahr geplanten Verteidigungsausgaben um 14 Prozent erhöhe. Vertreter des Pentagon hätten inzwischen eingestanden, daß die Ausgaben höher sind als zunächst erwartet. Hatte Pentagon-Finanzchef Dov Zakheim vor dem Krieg die monatlichen Kosten für den Wiederaufbau mit 2,2 Milliarden Dollar beziffert, so korrigierte er Anfang Juni die Kosten auf drei Milliarden Dollar nach oben. Selbst US-Senatoren rechnen indes mit mindestens vier Milliarden. In den USA regt sich mittlerweile Unmut über die ausufernden Kosten. 2004 sind im US-Verteidigungshaushalt Ausgaben in Höhe von 400,5 Milliarden Dollar vorgesehen.

Das alte Regime zieht im Irak immer noch viele Fäden

"Kaum etwas spricht dafür, daß die Region am Persischen Golf nach dem dritten Irak-Krieg stabiler ist als vorher. Vor allem die Hoffnung, daß der Irak sich von Afghanistan dadurch positiv unterscheidet, daß er dank des Öls seine Entwicklung selbst finanzieren kann, trügt", glaubt Friedemann Müller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Er ist sicher: "Die irakischen Einnahmen aus dem Ölgeschäft werden noch lange weit unter dem Entwicklungsbedarf dieses Landes mit seinen 24 Millionen Bewohnern und der Fläche Frankreichs liegen."

Amerika braucht nicht nur Geld für den Irak, es braucht auch Soldaten. "Wir suchen nach einer geeigneten Formulierung für eine UN-Resolution, die eine breitere militärische Unterstützung ermöglicht", orakelte US-Außenminister Colin Powell diplomatisch, ließ aber gleichzeitig keinen Zweifel daran aufkommen, daß auch alle zusätzlichen fremden Truppen unter US-Kommando stehen müßten. Laut Powell sind derzeit 139.000 US-Soldaten und etwa 2.200 Soldaten aus 30 Nationen - darunter die Hälfte aus Großbritannien - im Irak stationiert. Wenn man Powell Glauben schenken darf, so haben sich fünf weitere Länder dazu bereiterklärt, "mit 14 anderen Staaten laufen Gespräche".

Deren Unterstützung kann Amerika gut gebrauchen. Hatte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor dem Krieg noch großspurig posaunt, die USA wären in der Lage, den Feldzug notfalls alleine zu führen, so räumt er jetzt kleinlaut ein: "Die USA können die Sicherheit im Irak nicht in jeder Straße und an jeder Ecke bewerkstelligen. Das ist bei einem Land von der Größe Kaliforniens nicht möglich." Er halte zwar die Anzahl "derzeit ihren Aufgaben entsprechend", falls jedoch mehr Soldaten angefordert würden, ständen sofort Kräfte bereit, sagte Rumsfeld am Dienstag.

Die US-Streitkräfte haben eine wachsende Bedrohung durch Terroristen im Irak eingeräumt. "Sie sind ganz klar ein Problem für uns, weil ihre Attacken so ausgeklügelt sind", erklärte der Chef des US-Zentralkommandos, General John Abizaid. Für ihn steht fest: "Es gibt im Irak in einigen Fällen eine Zusammenarbeit zwischen Anhängern des alten Regimes von Saddam Hussein und islamistischen Terror-Gruppen." Im jüngsten Irak-Krieg hatten zahlreiche namhafte Militärexperten verlustreiche Häuserkämpfe erwartet, bei denen die technologische Überlegenheit der Invasionsstreitkräfte ziemlich nutzlos gewesen wäre. Überraschenderweise kam es - entgegen aller vollmundigen Ankündigungen des irakischen Regimes - kaum dazu. Vielmehr mußte man den Eindruck gewinnen, daß sich die irakische Armee und die Eliteverbände der Republikanischen Garden einfach in Luft auflösten. In westlichen Militärkreisen machte schon die von den Israelis übernommene und sehr abschätzige Bemerkung die Runde, der Araber könne "eben nicht kämpfen".

Inzwischen aber verdichten sich Vermutungen, Saddam Hussein habe den Zusammenbruch seines Regimes und den Guerillakrieg schon vor dem Einmarsch der anglo-amerikanischen Koalitionstruppen generalstabsmäßig geplant, um einen "verhaßten Feind in die Falle zu locken". 40.000 bis 50.000 Funktionäre der einst herrschenden Baath-Partei sind mit Abermillionen von US-Dollar untergetaucht, um aus den Untergrund den Widerstand gegen die Besatzer zu finanzieren. Während des Krieges hatte die Geheimdienstführung Befehl erteilt, alle belastenden Dokumente zu verbrennen sowie Büros notfalls in Brand zu setzen. Die Mitglieder der Sicherheitsorgane wurden aufgefordert, sich aus der Hauptstadt Bagdad abzusetzen und sich dem islamischen Widerstand anzuschließen.

Weltweit machen islamische Extremisten keinen Hehl daraus, daß sie den von "Ungläubigen" besetzten Irak von außen destabilisieren wollen. Der islamistischen Terrorgruppe "Ansar-al-Islam" werden Verbindungen zu al-Qaida und zum Iran nachgesagt. Was ihr Sprecher im Libanon erklärte, ist mehr als deutlich: "Wir werden die Amerikaner im Irak genauso bekämpfen wie einst die Sowjets in Afghanistan." Die unverhohlene Drohung mit dem Dschihad, dem heiligen Krieg, ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. So bestätigt Udo Steinbach vom Deutschen Orient-Institut: "Die islamischen Terrorgruppen wollen den Irak für die Supermacht USA zu dem machen, was Afghanistan damals für die Supermacht Sowjetunion war." Die Sowjets mußten sich nach neun verlustreichen Jahren Krieg gegen die "Gotteskrieger" der Mudschaheddin aus dem Land am Hindukusch zurückziehen. Für die UdSSR war es nicht nur eine schmachvolle militärische Niederlage, für sie war es der Anfang vom Ende.

Derweil gibt sich US-Präsident Bush kämpferisch: "Der Irak entwickelt sich zu einem bleibenden Schlachtfeld im Kampf gegen den Terrorismus. Ich rechne damit, daß weitere Länder den USA zu Hilfe kommen, denn die Welt läßt sich nicht einschüchtern." Wie hatte es Anfang Mai noch geheißen? "Mission accomplished!" Wohl doch nicht.

Die Terrorismusgefahr eines militanten Islam ist nicht zu leugnen. Sie wird mehr - und nicht weniger. Wenn es denn je eines Beweises bedurft hätte, daß die in der "National Security Strategy" der Vereinigten Staaten formulierte Doktrin des Präventivkriegs moralisch verwerflich, militärisch verhängnisvoll und politisch katastrophal ist - mit den Zuständen im Irak ist der Beweis erbracht. Die schlimme Lage dort wird auch nicht dadurch besser, wenn Nationen, die den Krieg ablehnten, nachträglich Soldaten in den Irak schicken. Der Anschlag auf das Uno-Hauptquartier zeigt: Sie würden als amerikanische Hilfstruppen aufgefaßt. Die Bibel lehrt: "Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um."


 
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