© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/03 22. August 2003

 
Die Schwierigkeiten, eine Zahl zu nennen
Zum 42. Jahrestag des Mauerbaus kursierten verschiedene Angaben über die Maueropfer / Die Definition entscheidet oft über die Erfassung
Werner H. Krause

Die am 13. August 1961 auf Veranlassung des SED-Politbüros vorgenommene Errichtung einer Mauer verwehrte fortan den im östlichen Teil des Stadtgebietes lebenden DDR-Bürgern den Zugang nach West-Berlin. Manche von ihnen, die in der Folgezeit die Drangsalierungen des kommunistischen Regimes nicht mehr zu ertragen glaubten, nahmen es trotz Lebensgefahr auf sich, die Flucht über Mauer und Stacheldraht, Todesstreifen und Minenfelder zu wagen.

421 Tote an der Grenze der DDR seit ihrer Gründung

Etlichen gelang sie, andere gingen dabei zugrunde. Während der jährlich wiederkehrenden Gedenkveranstaltungen - so war es auch zum 42. Jahrestag des Mauerbaues - wurden immer wieder neue Opferzahlen genannt. Sie scheinen sich, je mehr Zeit vergeht, permanent zu erhöhen, was verschiedene Fragen aufwirft. Beispielsweise eine solche, wer sich eigentlich mit den entsprechenden Nachforschungen hierüber befaßt. Denn die Ermittlungen lagen nicht nur in der Hand der Justizorgane, sondern auch Opferorganisationen wie etwa die "Arbeitsgemeinschaft 13. August" bemühen sich um Aufklärung. Es ist anzumerken, daß unterschiedliche Verlautbarungen über die Anzahl der Mauertoten zunehmend für gewisse Irritationen sorgt, welche im Kreise unbelehrbarer Altkader - wie etwa der Organisation ISOR, ein Zusammenschluß von Stasileuten und Grenzoffizieren - dazu benutzt wird, voller Häme von Manipulation und Aufbauschung zu sprechen.

Dies ist freilich reinste Verleumdung. Was die unterschiedlichen Zahlen betrifft, so haben sie etwas mit dem unterschiedlichen Herangehen zu tun, das bei Nachforschungen von verschiedenster Seite praktiziert wird. Die Berliner Staatsanwaltschaft gibt beispielsweise eine Zahl von 270 Opfern an der Mauer und der sogenannten innerdeutschen Grenze an. Hierüber existieren stichhaltige Ermittlungen, die ergaben, daß in 237 Fällen der Tod von Flüchtlingen auf Anwendung von Schußwaffen seitens der DDR-Grenztruppen zurückzuführen war. 33 weitere Opfer kamen durch detonierende Minen oder Selbstschußanlagen (SM-70) ums Leben.

Abweichend von dieser Zahl hat die inzwischen aufgelöste Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV-Leiter Manfred Kittlaus) auf 421 Tote verwiesen. Die Zentrale Ermittlungsgruppe legte gänzlich andere Maßstäbe an. Sie untersuchte alle Tötungsvorgänge, die sich seit Gründung der DDR (7.Oktober 1949) dort ereigneten und einen Hinweis auf den begründeten Verdacht einer politisch motivierten Gewaltanwendung enthielten.

Daraus ergab sich, daß bereits bis zum Jahre 1960, also ein Jahr vor dem Mauerbau, 159 Todesopfer zu beklagen waren; 116 Menschen kamen an der frühzeitig geschaffenen sogenannten grünen Grenze, die sich vom Thüringer Wald bis zur Ostsee erstreckte, allerdings noch längst nicht so schwer befestigt war wie später, ums Leben. ZERV fand beispielsweise heraus, daß es in diesem Zeitraum schon eine Anzahl von Toten bei Überschreiten der Grenze zur CSSR sowie zur Volksrepublik Polen gegeben hatte.

Dies stellt natürlich einen Quell für Verwirrung dar. Die einen gehen lediglich mit ihren Untersuchungen von dem Zeitpunkt des Baues der Mauer aus, die anderen halten es für richtiger, das DDR-Regime von seinem Anfang bis zu seinem Ende auf begangene Untaten an der Bevölkerung genauestens unter die Lupe zu nehmen. Mit einem gänzlich anderen Zahlenmaterial wartet nur freilich die Arbeitsgemeinschaft 13. August auf. Sie nannte in ihrer letzten Verlautbarung, die sie dieser Tage im Berliner Mauermuseum am Checkpoint Charlie kundtat, eine Zahl von 1.008 Menschenleben, die entweder kommunistischer Gewalt zum Opfer fielen oder den Weg des Suizids beschritten, nachdem sie in völlig ausweglose Situationen geraten waren.

Hier verschiebt sich das bisherige Bild nun vollständig. Die Arbeitsgemeinschaft listet beispielsweise Fälle auf, wo Menschen bei der Schleusung in hierfür präparierten Fahrzeugen erstickt sind, so etwa zwei Säuglinge im Jahre 1973. Auch eine Anzahl von DDR-Grenzsoldaten, die dem auf ihnen lastenden Druck nicht mehr standzuhalten vermochten und deshalb den Freitod wählten, werden von der Arbeitsgemeinschaft als Opfer des "DDR-Grenzregimes" angesehen und finden deshalb Eingang in die Liste der erfaßten Opfer. Aber auch solche Fälle - und es waren nicht wenige -, wo DDR-Grenzer unachtsam mit ihren Waffen hantierten oder bei Postengängen versehentlich in die eigenen Minenfelder gerieten, verbergen sich hinter der hohen Zahl der Arbeitsgemeinschaft. Deren Standpunkt ist es, daß letztlich all diese Menschen nur deshalb zu Tode kamen, weil die Verhältnisse in der DDR einer ständigen Willkür unterlagen, die schließlich in vielen verzweifelten Handlungen ihren Ausdruck fand. Schließt man sich dieser Betrachtungsweise an, dann wird klar, daß auch in den nächsten Jahren immer wieder weitere Fälle zutage gefördert werden dürften, die zu einer neuen Todesstatistik führen.

Eines der dunkelsten Kapitel in diesem Zusammenhang ist die den Grenzkommandeuren Nord (Ostseeraum und Mecklenburg), Süd ( Thüringen) sowie Mitte (Berlin) auf Veranlassung des sogenannten Nationalen Verteidigungsrates unter Vorsitz Erich Honeckers erteilte Anweisung, möglichst sämtliche Vorkommnisse an der Staatsgrenze der DDR zu verschleiern. In der Praxis führte dies dazu, daß einzelne Grenzkommandeure Soldaten, die einen Flüchtling erschossen hatten, sofort aus dem Grenzbereich in einen anderen versetzten, mit der strengen Maßgabe, darüber zu schweigen.

Viele Spuren der Morde wurden gründlich verwischt

Was die Opfer des Schützen betraf, so versuchte man sie, wo immer dies ging, sofort in einem Krematorium zu verbrennen, um hierdurch Spuren der Untat zu verwischen. Mancher dieser Toten wurde auch einfach in Gewässer geworfen und später dann nach der Bergung als unbekannte Wasserleiche in einem Volkspolizei-Kreisamt registriert.

Fest steht, daß viele dieser Fälle bis zum heutigen Tag noch nicht aufgeklärt werden konnten. Ehemalige Offiziere der Staatssicherheit, die sich mit der Abschirmung solcher "Vorgänge" zu befassen hatten, hüllen sich hierüber in eisernes Schweigen. Denn hier liegt eine offensichtliche Vertuschung einer Straftat vor, die nach den geltenden Gesetzen noch immer geahndet werden kann.

Dort, wo die Toten nicht verbrannt oder aus irgendwelchen Gründen nicht sogleich beerdigt werden konnten, überließ man ihre Körper wie beispielsweise in Dresden als anatomisches Material entsprechenden Universitätsinstituten. Die Arbeitsgemeinschaft hat herausgefunden, daß auch etwa 40 Kinder und Säuglinge sowie 60 Frauen sich unter den Opfern befanden. Als besonders tragisch ist der Fall des DDR-Flüchtlings Dietmar Polter anzusehen, der noch am 30. Oktober 1989 versuchte, die Oder zu durchschwimmen, um sich über Polen nach Prag durchzuschlagen, und bei diesem Wagnis den Tod fand.

Fotos: Erinnerungskreuze an die Mauertoten zwischen Brandenburger Tor und Reichstag: Schwer fassbar


 
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