© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/03 15. August 2003

 
Der Kuchen wird kleiner
Die Verteilungskämpfe zwischen den Generationen nehmen an Schärfe zu
Alexander Griesbach

Von seiner Grundeinstellung her, so Gebhard Glück, der Chef der CSU-Senioren, gehöre der JU-Vorsitzende Philipp Mißfelder nicht mehr zur Union. Mißfelder hatte mit seiner Forderung, die Gesundheitsleistungen für alte Menschen zu begrenzen, für einhellige Empörung gesorgt und stieg in den letzten Tagen zum unumstrittenen Watschenmann der Republik auf. Entlarvend an dem Vorstoß von Mißfelder ist freilich nicht dessen allgemein beklagte "Menschenverachtung", noch dazu gegenüber einer Generation, die maßgeblich dazu beigetragen hat, das völlig zerstörte Deutschland wieder aufzubauen, sondern vielmehr dessen mangelndes Gespür für Kausalitäten.

Bereits seit Jahrzehnten zeichnet sich ab, daß die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland aufgrund der katastrophalen demographischen Entwicklung neu justiert werden müssen. Die Leistung der Politik bestand bisher schlicht darin, dringend notwendige Korrekturmaßnahmen immer weiter und weiter zu verschieben. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang nur an die CDU-Parole "Weiter so, Deutschland". Der Politik und deren Protagonisten muß deshalb angelastet werden, den sich jetzt in Deutschland abzeichnenden Generationenkonflikt maßgeblich verschuldet zu haben. Deshalb hätte die Forderung von Mißfelder lauten müssen, daß Hütchenspielern wie dem langjährigen Sozialminister Norbert Blüm (CDU) wegen erwiesener Irreführung der Deutschen die Rente entzogen werden müßte. Ein solchermaßen provozierender Vorschlag hätte wenigstens Format gehabt. Statt dessen knöpft sich Mißfelder jene Gruppe vor, die am allerwenigsten für den sich abzeichnenden Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland kann: die Alten und Kranken.

Nicht allzu weit sollten sich im übrigen diejenigen aus dem Fenster lehnen, die jetzt so wortreich über den Nachwuchspolitiker zu Gericht sitzen. Wenn sie eine Spur von Integrität besäßen, müßten sie einräumen, daß der JU-Politiker nur die derzeitigen Diskussionslinien ausgezogen hat. Er hat radikalisiert, was andere in Richtung "Wer gesund bleiben will, soll zahlen" bereits vorgedacht haben. Immerhin war der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) so ehrlich, Mißfelders Vorstoß als "richtig und mutig" zu bezeichnen.

Die entartete Debatte um die Reform des Gesundheitswesens in Deutschland steht pars pro toto. Schiebt man das ganze rhetorische Gewölle beiseite, mit dem die sozialpolitische Abrißbirne in Deutschland begleitet wird, dann ist eine Grundbotschaft unübersehbar. Diese lautet: Für viele Bedürfnisse der Deutschen, sei es nun auf kommunaler Ebene, sei es bei den sozialen Sicherungssystemen oder sonstwo, ist schlicht kein Geld mehr da. Die jahrzehntelange Beglückung der Erniedrigten und Beleidigten, die Scheckbuch-Diplomatie, eine falsch finanzierte Wiedervereinigung, die Dauerfinanzierung der EU durch Deutschland und vieles andere mehr haben halt einen Preis. Die Rechnung für diese Weltbeglückung wird jetzt den Deutschen präsentiert.

Dieser Befund ist natürlich alles andere als "sexy", wie es in der Werbebranche so schön heißt. Deshalb wird seitens unserer "Verantwortungsträger" seit neuestem auch so gerne von der "Übernahme von mehr Eigenverantwortung" gefaselt. Dahinter steht bei Lichte betrachtet nichts anderes als die Privatisierung der Lebensrisiken und die schleichende Verabschiedung der Solidargemeinschaft. Genau dies dürfte der FDP-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Gerhardt im Blick gehabt haben, als er am Wochenende davon sprach, daß die Rente und die Gesundheitsvorsorge nicht mehr finanzierbar seien und in eine private kapitalgedeckte Versicherung überführt werden müßten.

Es ist schon der Mühe wert, darüber zu reflektieren, warum die Dinge jetzt so sind, wie sie sind. Wenn man nicht von vornherein unterstellen will, daß das sich abzeichnende Debakel der sozialen Sicherungssysteme vorsätzlich betrieben wurde, dann bleibt eigentlich nur noch eines: Dummheit. Mit Recht hat der Sozialwissenschaftler Manfred Wöhlke einmal darauf hingewiesen, daß Dummheit ganz generell "zu vielen größeren und kleineren Fehlern in bezug auf den notwendigen Funktions- und Erhaltungsaufwand der bestehenden gesellschaftlichen Systeme" führe. Die notwendigen Dinge würden dann überhaupt nicht oder falsch, unvollständig oder zum ungeeigneten Zeitpunkt erledigt. Wer sich die Politik der letzten Jahrzehnte vor Augen führt, wird zugestehen müssen, daß Wöhlkes Diagnose den Kern der Sache trifft. An die Stelle schlüssiger Konzepte traten oft genug "sinnlose Ersatzhandlungen". Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Einführung des Dosenpfandes in Deutschland.

In Deutschland ist die "Macht der Dummheit", über die der französische Philosoph André Glucksmann so trefflich philosophierte, in ihrer destruktivsten Variante heimisch. Hier hat sich die Dummheit mit einem abgestandenen Moralismus gepaart, der dieser erst ihr besonderes Hautgout verleiht. Der Bamberger Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmid hat die Konsequenzen dieses Moralismus scharf auf den Punkt gebracht. Einmal erleichtere der politische Moralismus der politischen Klasse die Arbeit. Aufgrund der "Demagogie der weichen Themen" werden "staatsverändernde Vorgänge mit frommen Worten wie Multikultur, Anerkennung, Toleranz verkleistert". Jeder, der über diese Themen in einen kritischen Diskurs eintreten will, befinde sich a priori "in einer moralisch diskreditierten Ausgangsbasis".

Zum anderen werden mit Moralismus politische Entscheidungen verhindert. Der Entscheidungsgegenstand werde einer nüchternen Betrachtung schlicht entzogen. Unverantwortliche Panikmacher waren vor Jahren noch die, die vor den Konsequenzen des Zerfalls der sozialen Sicherungssysteme aufgrund der demographischen Entwicklung warnten. Wer das mögliche Aussterben der Deutschen thematisieren wollte, wurde als völkischer Exot denunziert. Dazu kam die verächtliche Verabschiedung der Nation durch viele Vertreter der politischen Klasse.

Statt dessen wurde die "Toleranz" beschworen, die zum wesentlichen Bestandteil politischer Problemlösungen heraufgeredet worden ist. Stoff genug für einen Film, der den Titel "Tolerator III: Jetzt ertragen die Deutschen alles" tragen könnte. Die Bilanz dieser Politikverweigerung kann sich sehen lassen: Heute herrscht eine Mischung aus Ratlosigkeit und Aktionismus gegenüber fast allen gesellschaftlichen Problemen in Deutschland vor. Die arrogante Mißachtung dieser mannigfaltigen Probleme könnte sich für die Berliner Republik noch einmal sehr verhängnisvoll auswirken.


 
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