© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/03 04. Juli 2003

 
Angriff auf eine deutsche Institution
Handwerk: Mit der Abschaffung des Meisterzwangs setzt die Bundesregierung eine bewährte Qualitätsnorm außer Kraft und versetzt dem Ausbildungswesen den Todesstoß
Christian Roth

Das "Qualitätssiegel des deutschen Handwerks" soll fallen. Der Meisterzwang hat nach dem Willen der rot-grünen Regierung weitgehend ausgedient. Gesellen in 62 Handwerksberufen sollen sich künftig auch ohne Meisterprüfung selbständig machen können. Nur 32 Berufe verbleiben in der Anlage A der Handwerksordnung, für die weiterhin eine Meisterprüfung vorgesehen ist.

Das sieht der Gesetzentwurf aus dem Wirtschaftsministerium vor. In den 32 Berufen mit Meisterzwang sollen sich aber Gesellen nach zehn Jahren ebenfalls selbständig machen können, sofern sie fünf Jahre in leitender Funktion tätig waren. Der Meisterbrief soll nur noch in solchen Berufen vorgeschrieben sein, in denen die Gesundheit oder das Leben Dritter geschützt werden müssen. Dazu zählt der Entwurf Handwerke aus dem Bau- und Ausbaugewerbe, dem Elektro- und Metallgewerbe sowie der Gesundheits- und Körperpflege und dem Nahrungsmittelgewerbe, zum Beispiel Augenoptiker, Kfz-Mechaniker oder Elektriker. Aufgehoben wird der Meisterzwang dagegen beispielsweise für Maler und Lackierer, Friseure, Klempner, Schuhmacher, Kürschner und Instrumentenmacher.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte die Lockerung des Meisterzwangs in seiner Regierungserklärung am 14. März angekündigt. Die Regierung glaubt, mit der Gesetzesänderung der Strukturkrise im Handwerk zu begegnen, Existenzgründungen zu erleichtern, Arbeitsplätze zu sichern und Impulse für neue Arbeits- und Ausbildungsplätze zu geben. "Die vorgesehenen Neuregelungen würden für mehr Betriebsgründungen und für mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze sorgen", sagte Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement. Die Reform werde zudem einen Beitrag zur Bekämpfung der Schwarzarbeit leisten, hoffen Regierungsvertreter.

Ohne Meister wäre die Norm der Qualität gefährdet

Doch Handwerksverbände und Vertreter von CDU/CSU laufen Sturm gegen die geplanten Neuerungen. Das Projekt muß durch den Bundesrat, wo von Union und FDP heftiger Widerstand erwartet wird. Die Union hat nach eigenen Angaben ein Zwölf-Punkte-Programm entwickelt mit Vorschlägen, die sie spätestens im Vermittlungsverfahren durchsetzen will. Der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Dieter Philipp, brandmarkte Clements Ideen als "irreparable Zerschlagung von Strukturen". Wieder einmal beschließe die Regierung eine "unausgereifte Maßnahme", die sich als Flop erweisen und ihre Ziele nicht nur verfehlen, sondern genau das Gegenteil bewirken werde, sagte er. Die Zahl der Ausbildungsplätze werde zurückgehen. Es sei absurd, dem Handwerk selbst die Schuld für seine momentane Krise zu geben.

Das deutsche Handwerk steckt nach eigener Einschätzung in der tiefsten Flaute seit dem Zweiten Weltkrieg. Die flaue Konjunktur ist vielen dabei zum Verhängnis geworden. Mehr als 300.000 Beschäftigte wurden 2002 entlassen. Kommt es zu der von der Bundesregierung gewünschten großflächigen Aufhebung des Meisterzwangs im Handwerk, dann droht den Bundesbürgern nach Meinung von Philipp ein regelrechter "Kulturschock". Das sei purer Wahnsinn, sagt Philipp. Der rot-grünen Regierung hielt er vor: "Geht es nach ihren Plänen, kann zum Beispiel künftig jeder Hinz und Kunz Fleisch und Wurst herstellen und verkaufen. Eine Lehre muß er nicht gemacht haben. Er muß auch kein Geselle sein. Er muß nur das Geld haben, einen Gewerbebetrieb eröffnen zu können." Im Ergebnis könne man in Zukunft gepantschtes Bier, nicht sterile Operationssäle, merkwürdige Wurst-Konsistenzen oder böse Friseur-Überraschungen beim Haarefärben nicht ausschließen.

Im Vergleich zum ersten Referentenentwurf sind im vorliegenden Gesetzentwurf auch die Berufe Bäcker, Fleischer, Konditor und Büchsenmacher aus dem Meisterzwang herausgefallen. Damit entfiele beispielsweise bei den boomenden Hausbrauereien die Verpflichtung, daß ein ausgebildeter Braumeister auf die Bierqualität achten muß. Im Ergebnis könnte jeder Gastwirt seine "Plörre" anbieten, warnen Brauer. Konditoren machen darauf aufmerksam, daß bislang von ihren Erzeugnissen keine tödlichen Infektionsgefahren - wie jüngst bei industriellen Produkten - ausgingen. In Gebäudereinigungsbetrieben würden zukünftig nicht mehr qualifizierte Meister darauf achten, daß nach der Krankenhausreinigung die Operationssäle wirklich keimfrei seien oder daß bei der Flugzeugreinigung auch die mögliche Bedrohung durch Sars-Viren beachtet werde.

Beim Friseur könnten sich Kundinnen und Kunden, so die Innungen, fortan nicht mehr darauf verlassen, daß Meister ihr Personal bei der Anwendung von Chemikalien beim Färben bestens geschult hätten. Und seitens der Behälter- und Anlagebauer wird befürchtet, daß in Zukunft nicht mehr die letzte meisterliche Kontrolle bei Bau und Wartung beispielsweise von hochexplosiven Druckkesseln gewährleistet sei. "In der Gesellschaft besteht der Irrglaube, daß mit der Abschaffung des Meisterbriefes künftig gewährleistet ist, daß zumindest ein tüchtiger Geselle den Betrieb führt", so Philipp. "Für jeden Beruf, der aus der Meisterpflicht entlassen wird, gilt aber: Jeder kann das Geschäft betreiben, fachliches Know-how ist nicht notwendig, wird auch nicht geprüft."

Meisterbrief als Instrument des Verbraucherschutzes

Der Handwerkspräsident ist nicht der einzige, der sich an den Neuerungen massiv stört. "Das ist eine Novelle gegen und nicht mit dem Handwerk", kontert der CSU-Bundestagsabgeordnete und Handwerksexperte Ernst Hinsken, selbst Bäckermeister. "Die Arbeit wird nicht mehr. Und so entsteht eine Inflation an selbständigen Handwerkern", befürchtet Hinsken. Angela Merkel sieht das genauso. Vor etwa 700 Handwerkern versprach die CDU-Chefin unlängst in Berlin, die Union werde alles tun, damit der rot-grüne Entwurf so nicht Gesetz werde. Merkel kritisierte unter anderem die geplante Ich-AG. Der Betätigungsbereich dieser vom Bund bei Sozialbeiträgen, Steuern und Bürokratiepflichten privilegierten Kleinstbetriebe müsse deutlich beschränkt werden. Es könne nicht sein, daß ein Handwerksmeister keine Aufträge mehr habe und sein Geselle nebenan mit staatlicher Förderung eine Ich-AG aufmache und zum Konkurrenten werde.

CDU/CSU wollen für die Zuordnung von Berufen mit Meisterpflicht nicht die Gefahrenabwehr allein gelten lassen. Auch eine überdurchschnittliche Ausbildungsleistung und der Schutz wichtiger Gemeinschaftswerte wie Gesundheit, Umwelt oder Verkehrssicherheit müsse berücksichtigt werden, sagte Merkel. Zustimmung bei der Union findet allerdings die auch von der Regierung geplante Aufhebung des Inhaberprinzips: Auch die CDU/CSU will einem Existenzgründer ohne Meisterbrief erlauben, einen Betrieb zu übernehmen, wenn er einen Meister einstellt. Bisher gilt das nur für Kapitalgesellschaften.

Aus den Reihen der Union gibt es aber noch andere Argumente, die gegen den Gesetzentwurf sprechen. "Nicht mehr, sondern weniger Ausbildung wird die Folge sein, wenn der Qualifizierungsgrundsatz für den Großteil der Handwerksberufe nicht mehr gilt. Soll wirklich die Motivation zur Ausbildung zerstört werden - erst recht zur Ausbildung über den eigenen Bedarf hinaus? Und woher sollen Jugendliche künftig die Gewißheit nehmen, daß sie eine solide Ausbildung erhalten?" fragt der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der auch die Qualitätssicherung anspricht: "Verbraucher werden verunsichert, wenn sie nicht mehr davon ausgehen können, daß ihr Handwerker sein Handwerk auch versteht."

Vom Meisterbrief als Instrument des Verbraucherschutzes wollen die Gesetzentwürfe der Bundesregierung nichts wissen. Sie verweisen statt dessen auf das Haftungs- und Gewährleistungsrecht. Keine Rede von den Folgewirkungen, wenn Qualität ausschließlich "über den Markt" geregelt werden soll. Peter Mensinger, ehrenamtlicher CDU-Stadtrat in Frankfurt am Main und Inhaber eines Malerei-Betriebs, sagte, natürlich gehe es auch ohne Meisterbrief, das zeigten Beispiele aus anderen Ländern. Die Frage sei aber, ob es Vorteile bringe, "und ich sage: Es bringt keine Vorteile."

Die Meisterprüfung als Voraussetzung für die Selbständigkeit bedeute zum einen Schutz für die Verbraucher und zum anderen Schutz für diejenigen, die einen Betrieb aufmachten. Nicht ohne Grund gebe es in meistergeführten Betrieben halb so viele Konkurse wie in Betrieben der Industrie. "Ohne Qualifikation komme ich nicht aus", erklärte er. Dies gelte sowohl für die fachliche als auch für die kaufmännische Seite, und die Meisterprüfung gewährleiste zumindest, daß in diesem Bereich Kurse und Prüfungen gemacht worden seien.

Unterschiedliche Reaktionen gibt es aus der FDP zu hören. Der stellvertretende FDP-Partei- und Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle schloß sich der Kritik aus Unionsreihen an: "Das deutsche Handwerk darf nicht zum Prügelknaben der Nation gemacht werden. Die Reform von Bundeswirtschaftsminister Clement ist ein Willkürakt und hat mit einer vernünftigen Neugestaltung der Handwerksordnung wenig zu tun. Sie ist eine Kampfansage an die mittelständische Struktur in Deutschland." Auch der FDP sei der Reformbedarf bei der Handwerksordnung bewußt. Doch dürfe dabei nicht vergessen werden, daß der Meisterbrief ein Garant für hohe fachliche Qualifikation, wirtschaftliche Stabilität und einen hohen Ausbildungsstand ist, sagte Brüderle. Eine mehr oder weniger willkürliche Einteilung in Gefahrenberufe bringe zudem außer Verwirrung und Abgrenzungsproblemen nichts.

Der Meisterzwang behindert den europäischen Wettbewerb

Doch mit dieser klaren Haltung haben die Liberalen die Rechnung ohne den eigenen Nachwuchs gemacht. Der Bundesvorsitzende des liberalen Jugendverbandes, Daniel Bahr, erklärte: "Es ist erfreulich, daß endlich Bewegung in die Diskussion kommt und der ZDH einen Kurswechsel einläutet. Dieser allein reicht aber nicht aus. Wir müssen einen Schritt weitergehen und den Meisterzwang völlig abschaffen. Nur so können wir die Wettbewerbsfähigkeit des Deutschen Handwerks im europäischen Binnenmarkt gewährleisten. Es kann nicht sein, daß sich EU-Ausländer in Deutschland auch ohne Meisterbrief selbständig machen dürfen, während dieser für Deutsche Voraussetzung ist. Die Diskriminierung von inländischen Handwerkern muß endlich aufhören."

Beifall erhalten die Julis interessanterweise vom Bundesverband unabhängiger Handwerker und Handwerkerinnen (BUH). Der Sprecher des BUH-Vorstandes, Hans-Georg Beuter, warnt vor einer abwartenden Haltung: "Angesichts des absehbar zunehmenden Wettbewerbsdrucks durch liberale EU-Regelungen liegt es auch im Interesse der Meisterbetriebe selbst, sich durch die Abschaffung des Meisterzwangs rechtzeitig für einen schärferen Wettbewerb mit Konkurrenten aus dem EU-Ausland zu rüsten."

Auch Beuter verlangt eine schnelle Flexibilisierung der Handwerksordnung: Der Meisterzwang stelle eine unnötige Behinderung von Selbständigkeit dar. Das Angebot an Handwerksleistungen könne sich nur schwerfällig den Bedürfnissen der Verbraucher anpassen. Der Meisterzwang blockiere neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze. In Deutschland würden durch den Meisterzwang derzeit 500.000 Existenzgründungen verhindert, die nach drei bis vier Jahren zirka zwei Millionen Arbeitsplätze schaffen würden. Diese Chance dürfe von der Politik nicht länger verschlafen werden.

Doch das Problem liegt ganz woanders. Bereits heute sind deutsche Handwerker mit Meisterbrief gerade in Grenzregionen die Gelackmeierten der eigenen Qualitätssicherung. In Österreich ist der Meisterbrief zwar auch weiterhin die Regel, doch einen Betrieb kann auch der gründen, "der mehrere Jahre in qualifizierter Stellung gearbeitet hat". In Frankreich werden angehende Meister auch in Unternehmensführung geschult. Für den Titel "Handwerker" reicht einem Betriebsinhaber eine sechsjährige Berufsausübung.

Durch die zunehmende Liberalisierung des Wirtschaftsmarktes innerhalb der EU sind die deutschen Handwerker ins Hintertreffen geraten. "Teilweise ist es so, daß französische Unternehmen über die Grenze fahren und ihre Arbeit verrichten. Oftmals geschieht dies zu Dumpingpreisen. Nach der Qualität fragt dabei niemand", ärgert sich der saarländische Wirtschaftsminister Hans-Peter Georgi (CDU): "Die sogenannten Reformer leugnen die strukturellen und konjunkturellen Probleme am Standort Deutschland und schreiben statt dessen die aktuellen Rückgänge angeblichen Defiziten des Handwerks zu. Damit machen sie 'Opfer zu Tätern'. Überhaupt nicht erwähnt wird die 'Reserve' von 130.000 fertig ausgebildeten Handwerksmeistern, die derzeit den Schritt in die Selbständigkeit verweigern, weil sie keine Erfolgsaussichten sehen."

Selbst aus den Reihen der Gewerkschaften ist deutliche Skepsis zu vernehmen. "Ziel der Reform muß es doch sein, daß die Zukunft des Handwerks gesichert wird und unsere Kollegen verbesserte Aufstiegschancen bekommen", erklärte Dietmar Schäfer, Vorstandsmitglied der IG Bauen-Agrar-Umwelt. Kritik äußerte die IG BAU an den Vorstellungen von Rot-Grün, den Meisterzwang auch für Bereiche wie das Gebäudereinigerhandwerk, das Maler- und Lackiererhandwerk, das Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk sowie das Fliesenlegerhandwerk abzuschaffen: "Das ist doch nicht zielführend. Wer bildet denn heute aus, wenn er weiß, daß sein Azubi morgen schon Konkurrent sein kann."

Kommen die Konzepte der Bundesregierung zur Anwendung, befürchten Experten eine regelrechte Preistreiberei: "Immer billiger, immer schneller und immer schlechter", so der Generalsekretär des ZDH, Hans-Eberhard Schleyer. "Die Konkurrenz-Situation wird sich verschärfen, neue nicht überlebensfähige Betriebe werden entstehen. Denn die Arbeit wird nicht mehr. Kein einziger Auftrag wird neu geschaffen. Statt dessen streiten sich künftig zwanzig statt vorher fünf Betriebe um den Zuschlag. Das ist kein Wettbewerb, das ist Wahnsinn."

Zimmerer-Lehrling unter Anleitung seines Meisters in Frankfurt/Oder: Soll wirklich die letzte Motivation zur Ausbildung zerstört werden?


 
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