© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/03 04. Juli 2003

 
Nicht das Ende des Zentralstaats
Frankreich: Korsika soll per Volksabstimmung mehr Autonomie erhalten / Regierung und Sozialisten dafür
Charles Brant

Die französische Regierung ruft die Korsen dazu auf, über ihre politische Zukunft zu entschei-den. Kommenden Sonntag soll in einem Volksentscheid über den Autonomiestatut der Mittelmeerinsel abgestimmt werden. Für das zentralistische Frankreich ist das eine Premiere.

Regierungschef Jean-Pierre Raffarin ist standhaft geblieben. Berater des Präsidenten Jacques Chirac hatten empfohlen, die Volksbefragung aufzuschieben. Sie führten die durch das Reformprojekt ausgelösten sozialen Spannungen ins Feld und rieten, den Ausgang des Pariser Gerichtsverfahrens gegen die mutmaßlichen Mörder des korsischen Präfekten Claude Erignac abzuwarten, der am 6. Februar 1998 in Ajaccio auf offener Straße von einem nationalistischen Kommando umgebracht wurde. Raffarin scheint entschlossen, sein Projekt einer "dezentralisierten Republik" durchzuziehen.

Andere machen den Einfluß von Innenminister Nicolas Sarkozy verantwortlich, in dessen Ressort die Dezentralisierung fällt. Letzterer hat sich auffällig stark für den korsischen Sonderstatus eingesetzt. Noch vor der offiziellen Ankündigung des Abstimmungstermins unternahm er vermehrt Dienstreisen nach Korsika und suchte direkten Kontakt mit Regionalpolitikern. Wahr ist wohl, daß Sarkozy auch ein persönliches Interesse am Schicksal der Insel nimmt - immerhin ist seine erste Frau gebürtige Korsin, und heute hat sein Sohn dort seinen Wohnsitz.

Bei dem Volksentscheid am 6. Juli sind die Korsen aufgerufen, über die Zusammenlegung der beiden Départements Haute-Corse und Corse-du-Sud und die Einrichtung einer Territorialversammlung mit 81 (bisher 58) Abgeordneten und "erweiterten Zuständigkeiten" zu entscheiden. Dazu soll etwa das Recht gehören, Steuern zu erheben. Stimmt eine Mehrheit für die Autonomie, wäre dies für die Insel das vierte Statut in 25 Jahren.

Warnung vor Aufbrechen der "republikanischen Einheit"

Jean-Pierre Chevènement zählte zu den ersten, die sich zu der geplanten Reform äußerten. Seine kategorische Ablehnung des Autonomiestatuts hat niemanden überrascht. Dem Projekt zuzustimmen, so der Ex-Innenminister, liefe darauf hinaus, "den Autonomisten die Macht zu überlassen". Als "orthodoxem Jakobiner" muß dem Linksnationalisten der Beschluß der Pariser Regierung, die Korsen über ihre politische Zukunft entscheiden zu lassen, von vornherein mißfallen. Denn das Jakobinertum beruht auf einer Ablehnung des Partikularen und kennt nur eine einzige Zugehörigkeit: die zum Nationalstaat.

Diese Jakobiner ignorieren bewußt die natürlichen Gemeinschaften mit ihren kulturellen Besonderheiten, die sich auch aus der geographischen Lage ergeben. Statt dessen folgt man "geometrischer" Logik: Jedes Territorium - selbst wenn es sich um eine Insel handelt - kann nur Teil des Ganzen sein, eine Verwaltungseinheit ohne eigene Persönlichkeit, ein Raum ohne Seele und ohne Vergangenheit, der sich der republikanischen Einheit unterzuordnen hat.

Die Korsen in dieser Frage zu Rate zu ziehen, bringt ein ganzes System ins Wanken. Zum einen geht ein Rauschen der Panik durch die korsische politische Klasse mit ihren Clans. Sollte die Entscheidung zugunsten des Autonomiestatuts ausfallen, so wird die neue Versammlung in zwei Durchgängen nach dem Verhältniswahlrecht gewählt und paritätisch mit männlichen und weiblichen Abgeordneten besetzt. In der Tat dürfte dieses Wahlverfahren autochthone, autonomistische und nationalistische Gruppierungen begünstigen.

An der Spitze der Autonomie-Gegner, zu denen auch die Kommunisten gehören, steht Emile Zuccarelli, der radikale Bürgermeister von Bastia und stellvertretende Vorsitzende des Bezirksrats von Haute Corse. Dieser ehemalige Chevènement-Anhänger erweist sich als braver Jakobiner, wenn er die Sozialisten aufruft, die Einteilung in Départements zu verteidigen, und behauptet, die Verwaltungsreform komme "den Bombenlegern entgegen". Der Insel drohe eine verstärkte Zentralisierung und damit "die Vernichtung jener Dimension der Bürgernähe, die sich in den Départements ausdrückt". Diese Art der Argumentation erlebt auch anderswo, besonders im Elsaß, eine Blütezeit. Auf Korsika, wo an die Stelle der Bezirksräte zwei Territorialräte treten sollen, die genau den Grenzen der bisherigen Départements entsprechen, um eben jene "Bürgernähe" zu gewährleisten, kann man sie nur belächeln. Von autonomistischer Seite heißt es zu solchen Vorwürfen: "Zuccarelli und die Clan-Chefs fürchten um ihre Mandate und um die Macht, die sie seit der Eroberung der Insel durch Frankreich gehabt haben."

José Rossi (UMP), der amtierende Vorsitzende der korsischen Versammlung, Paul Giacobbi, der radikale Vorsitzende des Bezirksrats von Haute-Corse und der sozialistische Bürgermeister von Ajaccio, Simon Renicci, haben sich offen für die Autonomie ausgesprochen. Dasselbe gilt bis auf wenige Ausnahmen für die Autonomisten und Nationalisten. Jean-Guy Talamoni, Ratsmitglied und Chef von Corsica Nazione, rührt die Werbetrommeln für ein "Ja" zur Autonomie. Edmond Simeoni, langjähriger Führer der korsischen Freiheitsbewegung, schließt sich ihm an. Der Autor des Buches "Ein Kampf für Korsika" ("Un combat pour la Corse", Cherche-Midi) gilt als der weise Mann der korsischen Unabhängigkeit. Sein Einsatz für ein "Ja" stellt eine Überraschung dar, weil es der Behauptung widerspricht, die Autonomisten und Nationalisten würden dem Statut nur unter Vorbehalt zustimmen.

Paul Quastana, Professor, Ratsmitglied und Vordenker von Corsica Nazione, macht kein Hehl aus seiner Einschätzung, daß "es dem Projekt an Langatmigkeit fehlt". Dennoch engagiert er sich für ein "Ja", um sich "den Parteigängern der Unbeweglichkeit zu widersetzen". Gewiß bedauern Autonomisten und Nationalisten, daß die Regierung sich weigert, ihren Forderungen nach Wiedereinführung von Korsisch als Amtssprache, gesetzgebenden Befugnissen für die korsische Territorialversammlung und Verlegung der politischen Gefangenen nach Korsika Gehör zu schenken. Dennoch kommt die Rückkehr zu einer politischen Einheit der Insel einer ihrer alten Forderungen nach.

Künstliche Teilung der Insel in zwei Départements

Zum Verständnis ist ein kleiner Ausflug in die Geschichte notwendig. Nachdem im Sommer 1975 in Aléria zwei Polizisten erschossen wurden, verfügte die Pariser Zentralmacht die Teilung der Insel in zwei Départements und setzte damit dem zehnjährigen vergeblichen Bemühen um ein "Statut der internen Autonomie" ein Ende. Der damalige Innenminister Michel Poniatovski verheimlichte nie, daß er dem Grundsatz "Teile und herrsche" anhing und jegliche organisierte Regung der korsischen Besonderheit abzuwürgen beabsichtigte. Diese Teilung wurde als Schikane aufgefaßt und wurde schnell zum Symbol der Entmachtung. Seither haben die verschiedenen Zentralregierungen abwechselnd mit Zuckerbrot und Peitsche, mal mit undurchsichtigen Manövern, mal mit ungeschickten Provokationen den korsischen Stachel aus dem empfindlichen Fuß der Republik zu ziehen versucht. Gelungen ist es ihnen nie.

Der Ausgang des Volksentscheids ist ungewiß. Umfragen deuten auf eine Abnahme der Ja- und eine Zunahme der Nein-Stimmen hin. Unbekannt bleibt die Zahl der Enthaltungen. Über 191.000 Menschen werden zu den Urnen gebeten. Wahlberechtigt sind alle in korsischen Wahlregistern eingetragenen Bürger. Viele Korsen in der Diaspora bedauern diese Einschränkung. "Weil ich vorübergehend auf dem Kontinent wohne, kann ich an der Abstimmung nicht teilnehmen", sagt einer von ihnen. "Dagegen kann irgendein Regierungsbeamter, der auf der Insel Dienst tut, aber keinerlei Blutbande zu ihr hat, seine Stimme abgeben. Das ist ungerecht."

Im Elyséepalast, dem Amtssitz des Präsidenten, üben Chiracs Berater sich jetzt schon in Schadensbegrenzung. Das unvermeidliche Scheitern der "dezentralisierten Republik", unken sie, gehe auf Raffarins Kappe und nicht etwa auf die des Staatschefs. Das Referendum sei nichts weiter als eine Volksbefragung vor Ort und werde keineswegs ein Ende der Gewalt zur Folge haben. Dabei vergessen sie - absichtlich wohl - die symbolische Dimension des von der Regierung eingeschlagenen Kurses. Mit diesem Volksentscheid wird ein großes Tabu aufgehoben. Den Korsen in dieser Frage das Wort zu erteilen bedeutet implizit, die Existenz einer historischen und kulturellen Partikulargemeinschaft sowie deren legitimes Recht auf Selbstbestimmung anzuerkennen. Diese Anerkennung ist ein Fortschritt gegenüber den letzten 25 Jahren jakobinischer Unbeweglichkeit. Es gibt auch Menschen, die das schon begriffen haben. In Nantes schwenkten Tausende vergangenen Monat die bretonische "Hermelin-Flagge", um ein ähnliches Referendum auch für die Bretagne zu fordern.

Korsische Untergrundaktivisten: Mehr Autonomie, aber kein erster Schritt in Richtung Unabhängigkeit


 
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