© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/03 04. Juli 2003

 
Die zahnlose Justiz
Noch nie waren die Gefängnisse so voll, noch nie waren Strafen so wirkungslos
Christian Roth

Der "Kalif von Köln" lacht sich ins Fäustchen. Der Islamistenführer Metin Kaplan hat zwar zum Kampf gegen das Grundgesetz aufgerufen, die Abschiebung in seine Heimat Türkei droht ihm dennoch nicht. "Herr Kaplan hätte mit der Todesstrafe zu rechnen", erklärte unlängst seine Rechtsanwältin. Dies mag zwar ein wenig übertrieben sein, denn selbst PKK-Chef Abdullah Öçalan erfreut sich trotz seiner Verurteilung noch bester Gesundheit. Doch in der Opfer-Rolle sieht sich Kaplan gerne - und mit Erfolg. Denn die bundesdeutsche Justiz spielt bislang mit.

Kaplan hatte bis März eine vierjährige Gefängnisstrafe wegen eines Mordaufrufs gegen einen Dissidenten verbüßt. Anschließend war er in Auslieferungshaft genommen worden. Im Mai wurde er aus der Haft entlassen, weil das Oberlandesgericht Düsseldorf seine Auslieferung an die Türkei als unzulässig verworfen hatte.

Nicht nur Otto Normalverbraucher schüttelt ob dieser Zustände verständnislos den Kopf. "Wir machen uns Gedanken, ob wir ein neues Zuwanderungsgesetz brauchen. Ich sage Ja. Aber darin müssen auch schärfere Abschiebungsregelungen enthalten sein. Dies zeigt der Fall Kaplan doch ganz eindeutig", sagt der CDU-"Zuwanderungsexperte" Peter Müller, sonst nicht gerade als Scharfmacher bekannt. Die Unions-Mehrheit im Bundesrat blockierte in der vergangenen Woche erneut die Verabschiedung des von der rot-grünen Bundesregierung geplanten Einwanderungsgesetzes. Für die Instabilität einer multikulturellen Gesellschaft führt der Publizist Rolf Stolz eine Reihe von Risikofaktoren an: demographischer Wandel, Ghettoisierung, Arbeitskräftemangel und Ausländerkriminalität.

Doch darüber spricht man nicht gerne in Deutschland. Längst ist es an der Tagesordnung, daß zum Beispiel das Strafverhalten von Ausländern nicht mehr gesondert analysiert wird. Der Kriminologe Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, hat sich dennoch mit dieser Problematik auseinandergesetzt. Seine Feststellungen sind ebenso erschreckend wie aufrüttelnd. Vor allem ausländische Jugendliche neigen zu Gewalt und Kriminalität. Der Anteil der Türken unter jungen Gefangenen in westdeutschen Jugendstrafanstalten ist dreimal so hoch wie ihr Bevölkerungsanteil in der entsprechenden Altersgruppe. Auch der Anteil der anderen straffällig gewordenen Ausländer ist überproportional. Bereits 16jährige können auf eine stolze Verbrecherkarriere zurückschauen. Beschäftigte der Frankfurter Justiz sprechen zynisch von "alten Freunden" oder "Stammgästen".

"Solange die Jugend keine abschreckende Wirkung von Richtern, Gesetzen und Polizeibehörden ausgehen sieht, so lange werden wir dieses Problem haben", urteilte der Hamburger Innensenator Ronald B. Schill. Der frühere Amtsrichter hatte sich den Zorn des linksliberalen Establishments zugezogen, weil er gerade junge Straftäter hart anfaßte. Als Senator der Hansestadt setzt Schill diese Linie unmißverständlich fort.

Im ersten Quartal dieses Jahres sank die Zahl der Verbrechen in Hamburg um mehr als 2,5 Prozent. Alleine die Gewaltdelikte gingen um 8,1 Prozent zurück. Währenddessen schäumen liberale Politiker und Kommentatoren weiter vor Wut. "Politik der Steinzeit", unterstellen die örtlichen Grünen. Und ihr Zorn ist verständlich, widerlegt die Hamburger Senatspolitik doch bisher alle rot-grünen Konzepte von Verbrechensprävention. So fließen noch immer horrende Summen in unrealistische Integrationsprojekte, und noch immer fliegt das Geld förmlich zum Fenster raus, wenn es darum geht, jugendlichen Tätern "auf den richtigen Weg" zu verhelfen.

Vielerorts macht sich in Deutschland ein Gefühl der Unsicherheit, der Resignation breit. Lehrer ziehen heute lieber den Kopf ein und schauen weg, weil sie ansonsten selbst Opfer ihrer jugendlicher Schüler werden könnten. Manche Klassenzimmer ähneln heute eher einem Waffenarsenal, gerade in Ballungsgebieten und sozialen Problemvierteln, in denen ausländische Jugendbanden den Ton angeben.

Polizei und Richter sehen sich der größten Vertrauenskrise in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ausgesetzt. Und die Vollzugsbeamten stöhnen. So ist das Gefängnis der Stadt Leipzig überbelegt. In der Justizvollzugsanstalt (JVA) in der Alfred-Kästner-Straße, die über 309 Haftplätze verfügt, sind momentan 420 Gefangene untergebracht. Und Leipzig ist beileibe kein Einzelfall.

Im größten deutschen Strafgericht Berlin-Moabit wandern jährlich rund 90.000 Strafsachen in die Akten. Richter arbeiten im Akkord, in Moabit finden pro Tag mehr als hundert Sitzungen statt. Für großes Aufsehen und Empörung über Parteigrenzen hinweg sorgte Ende Juni der Fall eines 22jährigen mutmaßlichen Vatermörders, der aus der Untersuchungshaft entlassen werden mußte, weil Staatsanwaltschaft und Gerichte überlastet sind. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) verlangte eine "detaillierte Untersuchung", Rechtspolitiker von CDU, FDP und Grünen forderten unisono die SPD-Senatoren Thilo Sarrazin (Finanzen) und Karin Schubert (Justiz) auf, Konsequenzen aus diesem Fall zu ziehen.

So wie in der Hauptstadt schwächelt der Justizapparat auch anderswo. In Cottbus wurden im vergangenen Jahr drei geständige Kasachen entlassen, die einen Aussiedler brutal getötet haben. Die zuständige Strafkammer war mit vordringlichen Haftsachen so überlastet, daß mit einem baldigen Prozeßbeginn nicht zu rechnen war. "Hunderte von Schwerstverbrechern" kämen jedes Jahr ohne Gerichtstermin frei, heißt es bei der Gewerkschaft der Polizei. Dies sorge für Frust bei den Beamten.

72 Prozent der Deutschen, ermittelte das Forsa-Institut, haben keine gute Meinung über die Justiz. Das Bild eines schwerfälligen, bis zur Groteske überregulierten Apparates hat sich festgesetzt. "Eine unglaubliche Bürokratie behindert die Richter", klagt der BDK. Zwei Drittel aller Deutschen fordern mittlerweile härtere Strafen. Der Ärger über aggressives Betteln, öffentlichen Drogenkonsum, Vandalismus und Farbschmierereien vermischt sich mit der exzessiven Medienberichterstattung über brutale Gewalttaten zu einem subjektiven Angstgefühl.

Seit Bestehen der Republik saßen noch nie so viele Menschen hinter Gittern. Bei der letzten Zählung vor zwei Jahren verbüßten mehr als 50.000 Täter ihre Strafe. Der Knastalltag wird geprägt von überfüllten Zellen, Gewalt, Drogen und einem babylonischen Sprachgewirr. Jeder vierte Strafgefangene ist Ausländer, fast jeder ist drogenabhängig. Der Traum von einer Resozialisierung entpuppt sich als Luftnummer. Rund 70 Prozent aller Strafgefangenen werden nach ihrer Entlassung rückfällig. CHRISTIAN ROTH

Foto: Insasse der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Billwerder: 70 Prozent werden nach der Entlassung rückfällig


 
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